28.11.2019
Cinema Moralia – Folge 207

Gibt es »das Publikum«?

Beanpole
Bohnenstange vom Russen Kantemir Balagov, in Berlin auf dem Festival »Around the World in 14 Films« zu sehen
(Foto: eksystent distribution / Sibille Lehnert Filmdispo)

Anmerkungen zur aktuellen Publikumsvergötzung, zum kulturellen Populismus und zu den Rechten in den Gremien – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogängers, 207. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wenn die alte Welt stirbt und die neue noch nicht geboren ist, bricht die Zeit der Monster an.«
Antonio Gramsci

»Nicht die plebis­zi­täre Mehrheit dürfte über kultu­relle Phänomene, die an die Massen sich richten entscheiden, und auch nicht die abge­feimte Weisheit von Patri­ar­chen, die tun als ob sie gültig darüber wachten, was den Massen zuträg­lich ist. Befinden sollten allein Menschen, die sachlich zuständig sind, die ebenso viel von Kunst verstehen, wie von den sozialen Impli­ka­tionen der Massen­me­dien. Das wären wohl ohne Ausnahme eben jene Intel­lek­tu­ellen, gegen die das plebis­zi­täre Urteil in den Massen­me­dien aufge­hetzt würde.«
Adorno

Die Monster unserer Zeit, das sind die Mehr­heiten, egal, welche Namen sie tragen. Die Mehr­heiten, die glauben, dass sie nur, weil sie mehr sind, auch mehr wert sind, besser sind, im Recht sind. Das Publikum, also das Volk. Die Rechten also die Dummen. Die Masse, der Pöbel, der Mob – wie man früher über sie sprach, früher, als man noch glaubte, sie erziehen zu dürfen, und überhaupt erziehen zu können.

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In der deutschen Filmszene macht sich schon seit einiger Zeit eine Haltung breit, die man nur als kultu­rellen Popu­lismus charak­te­ri­sieren kann. Inzwi­schen ist sie allgemein geworden.
Es ist die Unsitte, dem Publikum nicht nur nach dem Munde zu reden, sondern seinen niedersten Instinkten hinter­her­zu­laufen.
Alles begann im Film­be­reich vermut­lich tatsäch­lich mit Dieter Kosslicks Labeln der Berlinale als »Publi­kums­fes­tival«. Damit wurde indirekt zugleich gesagt, die anderen Festivals seien das nicht, wurde das ohnehin vorhan­dene Ressen­ti­ment gegen das »Elitäre«, die »Intel­lek­tu­ellen« und ihre vermeint­liche »Arroganz« getrig­gert. Andere Festivals machten das nach, verein­zelt wurden Publi­kums­jurys einge­richtet.
Synchron dazu nahm die Bedeutung der Quoten, der Besu­cher­zahlen, des Karten­ver­kaufs als Kriterium für den »Erfolg« eines Films oder einer Veran­stal­tung enorm zu.
Zeit­gleich wurde der deutsche Filmpreis der bewährten Vergabe per Jury entrissen und einer soge­nannten »Film­aka­demie« über­ant­wortet, die allem Akade­mi­schen denkbar fernsteht, deren Mitglieder aber am liebsten auf Publi­kums­größe schrumpfen und per Massen­ab­stim­mung und Mehr­heits­prinzip die Preise vergeben; froh »ganz Mensch« sein und Geschmack durch Gefühl ersetzen zu dürfen.

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Diese Tendenz, Urteile durch Massen­ab­stim­mungen, Debatten durch Umfragen zu ersetzen und nach den Ergeb­nissen dann nach­fol­gend sich zu richten, ist in letzter Konse­quenz autoritär und Faschismus in Reinform. Denn zur abstim­menden Masse gehören immer die Herrscher, die abso­lu­tis­ti­schen Provinz­fürsten, die mit der Geste des Patri­ar­chen für ihre vermeint­liche Volks­tüm­lich­keit sich feiern lassen, eine Volks­tüm­lich­keit, die in Wahrheit reiner Zynismus ist: Der einen Hälfte des Publikums wird zynisch nach dem Mund geredet, die andere wird mit dem Verweis auf den Volks­willen mundtot gemacht.

Der kultu­relle Popu­lismus hat auch in diesem Fall vor allem das Ziel der demago­gi­schen Einset­zung des Monarchen und der Macht eines Einzelnen gegen Gremien, gegen kontrol­lie­rende Insti­tu­tionen, gegen die Presse als »vierte Gewalt« – wiewohl natürlich auch, wie sich noch gerade erst beob­achten ließ, die Presse nicht einmal ansatz­weise ihre Kontroll­auf­gaben erfüllt, sondern gerade durch die Schmei­che­leien der Patri­ar­chen sich zu dessen willigen Sprach­rohren degra­dieren ließ.
Wohl in der Hoffnung dem Publikum zu entspre­chen.

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Dabei gibt es das Publikum gar nicht. Dort wo das Publikum einmal auftritt, jenseits der Massen­ab­stim­mung, da hat es die Gestalt von Leser­brief­schrei­bern und Anrufern bei Sendern. Jeder, der schon einmal mit so etwas zu tun hatte, weiß: Diese »Rück­mel­dungen des Publikums« sind weder statis­tisch reprä­sen­tativ, noch sind sie dem Gehalt nach besonders gewichtig. Sehr oft stammen sie von Queru­lanten und Wich­tig­tuern, von Leuten, die sich gewohn­heits­mäßig entrüsten und in anderen Zusam­men­hängen in die Kategorie der »Wutbürger« fallen würden. Sie schreiben Briefe und rufen an vor allem dann, wenn ihnen etwas darge­boten wird, was nicht mit dem über­ein­stimmt, was sie für ihren eigenen »gesunden Menschen­ver­stand« halten.

Solche kultu­rellen Wutbürger bestä­tigen die kultu­rellen Popu­listen, jene Patri­ar­chen in den Förder­gre­mien, den Sendern und unter den Festi­val­ma­chern, die per jahre­langer Gehirn­wä­sche ihr Publikum dem eigenen Unbe­wusst­sein­stand angepasst haben. Fixiert ans Immer­gleiche verlangt das Publikum heute genau dieses. Das nennt man dann den Wunsch des Publikums.

Er wird durch die Algo­rithmen der Strea­ming­dienste perfek­tio­niert werden, so weit, dass, wie heute schon über weite Strecken, immer der gleiche Film entsteht – insze­niert von einer Handvoll Groß­re­gis­seure, in den Haupt­rollen verkör­pert von einer Handvoll Groß­schau­spieler, deren öffent­lich ausge­tra­genen Muskelü­bungen man dann so wohl­wol­lend wie distan­ziert zuschaut.

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»Manches spricht dafür, dass die Fähigkeit der Menschen, überhaupt noch etwas anderes zu wollen, als was sie in jedem Sinn haben können, schrumpft. Je dichter das Netz der Verge­sell­schaf­tung geflochten und womöglich ihnen über den Kopf geworfen ist, desto weniger vermögen ihre Wünsche, Inten­tionen, Urteile ihm zu entschlüpfen. Gefahr ist, dass das Publikum wenn man es animiert, seinen Willen kundzutun, womöglich noch mehr das will, was ihm ohnehin aufge­zwungen wird. Damit sich das ändere, müsste erst die still­schwei­gende Iden­ti­fi­ka­tion mit dem über­mäch­tigen Verfüg­baren unter­bro­chen, müsste das schwache Ich gekräf­tigt werden, das es so viel bequemer hat, wenn es sich unter­wirft, und man wird vergebens nach denen suchen die unter den gegebenen Verhält­nissen das möchten und die Macht dazu hätten.«

»Das bis zum Äußersten präpa­rierte Publikum wollte, wenn man seinem Willen sich überließe, verblendet das Schlechte: mehr Schmei­chelei für es selber und die eigene Nation, mehr Schwach­sinn über Kaise­rinnen, die sich als Film­schau­spie­le­rinnen verdingen, mehr von jenem Humor, bei dem einen das Weinen über­fallen kann. Gäbe es einen Willen des Publikums und folgte man ihm unmit­telbar, so betrüge man das Publikum um eben jene Autonomie, die vom Begriff seines eigenen Wollens gemeint wird.
Über Beckett trium­phierte die Christel von der Post.«

Adorno

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Morgen Abend gibt es im Rahmen des Festivals »Around the world in 14films« 2019 in der jähr­li­chen Reihe QUO VADIS DEUTSCHES KINO? eine Diskus­sion zum Thema »Die Rechten in den Gremien«.
Zeitpunkt: Morgen, Donnerstag, 28. November, 18.00 Uhr im Berliner »Kino in der Kultur­brauerei«
Auf dem Panel disku­tiere zum ersten Mal nicht ich (die Gründe dazu s.u.) aber immerhin Hanns-Georg Rodek, Film­re­dak­teur bei der WELT, und Heiko Hilker (Geschäfts­führer des DIMBB – Dresdner Instituts für Medien, Bildung und Beratung, seit 1997 im MDR-Rund­funkrat), mode­rieren wird Felix Neun­zer­ling. Es geht um die Frage, ob und wie der Aufschwung der »neuen NPD« (Markus Söder), also der AfD, die Kultur- und Film­po­litik verändern wird? Ausgehend von der »Causa Mendig« wird der Einfluss der rechten Parteien auf die Kultur­po­litik analy­siert, die prak­ti­sche Arbeit der AfD-Politiker in den Rundfunk- und Fern­sehräten sowie ihre film­po­li­ti­sche Agenda.

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Auch wenn der Film nur auf Netflix zu sehen sein wird, ist hier der Hinweis auf den Streaming-Dienst einmal ange­messen: Denn atlan­tique von Mati Diop gehört fraglos zu den besten Kino(!!!)filmen des Jahres. In Cannes gewann er einen Haupt­preis und ich hatte eupho­risch berichtet. Davon ist nichts zurück­zu­nehmen.
Atlan­tique meint einer­seits natürlich den Ozean, der sich vor Dakar eröffnet: Die Masse des Wassers ist ein unend­li­cher Sehn­suchts­raum, der alle Hoff­nungen und Ängste birgt, der eine lebendige, magne­ti­sche Kraft entfaltet, die die jungen Menschen ansaugt, und oft genug wieder ausspuckt. Der Titel könnte aber auch Atlantis meinen, den sagen­um­wo­benen versun­kenen Kontinent – ein utopi­scher Sehn­suchtsort. Überhaupt gibt die grie­chisch-antike Mytho­logie dem Zuschauer einige Motive an die Hand: Wie die Argo­nauten fahren die jungen Männer los aufs hohe Meer, wie die Erinnyen kehren sie zombi­fi­ziert zurück. Und die Haupt­figur, die junge Frau Ada ist eine Art Penelope, die auf die Heimkehr ihres Helden wartet, und in dieser Zeit ihre eigene Odyssee erlebt: Durch den urbanen Dschungel Dakars, durch die Zumu­tungen von Tradition und Religion, die Wünsche der Familie, die Ratschläge der Freun­dinnen, heraus­ge­for­dert durch uner­klär­liche Gescheh­nisse und nächt­liche Besucher von Geistern. Wie bei Odysseus wird auch ihre Reise zu einer Befreiung führen.
Diop rückt Gefühls­lagen, nicht den Plot in den Mittel­punkt; sie arbeitet nicht primär mit Dialogen und fest­ge­knüpften Story­ele­menten, sondern mit traumähn­li­chen Bildern in fließenden Szenen­folgen, offenen visuellen Texturen – wie ihre Lehr­meis­terin Claire Denis. So gehen Natu­ra­lismus und Märchen Hand in Hand. Die Mythen der Seefahrt, zu denen immer auch der Aufbruch ins Unbe­kannte gehörte, treffen auf magisches Erzählen.

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»Atlan­tique« offenbart die tückische Doppel­stra­tegie von Netflix: Einer­seits werden manche »großen« Kinofilme wie zuletzt The Irishman oder Marriage Story auch im Kino zuge­lassen. Aber andere, wie dieser, werden ihm vorent­halten.
Die DVD wird man bald – in Frank­reich, in der Schweiz, wohin der Film vor dem Netflix-Abschluss schon fürs Kino verkauft war – bald kaufen können.

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Gerade bin ich in Baden-Baden. Beim Fern­seh­film­fes­tival, zum ersten Mal. Lusti­ger­weise genau wie die Berliner Regis­seurin Miriam Bliese, mit der ich in den letzten Jahren beim deutschen Abend des Festivals »Around the world in 14films« immer eine unaus­ge­spro­chene Verab­re­dung hatte, die regel­mäßig ganz großartig als langer Abend an einer Bar endete – letztes Jahr im Schwarz-Sauer. Diesmal wird auch Miriam hier sein, und ihren schönen Debütfilm Die Einzel­teile der Liebe im Gespräch mit dem Publikum vorstellen – daher können wir uns dann morgen eine Baden-Badener-Bar aussuchen, und das Ritual fort­setzen.
Ich werde zuvor über Poli­ti­sches im deutschen Fern­seh­film sprechen – dazu mehr nächste Woche. Aber das ist die Begrün­dung für meine Abwe­sen­heit bei der Diskus­sion über Rechte im Film, die doch wir in artechock wesent­lich mitaus­gelöst hatten.

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Es lohnt sich, in Berlin das Festival »Around the World in 14 Films« zu besuchen, das sich viel­leicht etwas voll­mundig »Welt­ki­no­fes­tival« nennt. Zum Auftakt zeigte man zwar den gründlich miss­glückten, seltsam präten­tiösen A Hidden Life, den schlech­testen Film, den Terrence Malick je gedreht hat. Aber nachdem das vorbei war, wurde das Programm immer besser. Denn man sieht dort eine Reihe ganz hervor­ra­gender Filme: Mein persön­li­cher Favorit wäre Beanpole vom Russen Kantemir Balagov, den ich in Cannes im »Un Certain Regard« sah, der aber unbedingt in den Wett­be­werb gehört hätte. Es geht um das melo­dra­ma­ti­sche Verhältnis zweier Frauen im Leningrad unmit­telbar nach dem Ende des »Großen Vater­län­di­schen Kriegs« (vulgo: Zweiter Weltkrieg). Zwei verlorene Seelen, die einander auch kaum noch Halt zu geben vermögen, eine traurige, schöne, bewegende, unver­s­tänd­liche, rätsel­haft-aufre­gende und dabei gele­gent­lich witzige Geschichte.
Und dann, knapp dahinter, The Wild Goose Lake vom Chinesen Diao Yifnan, der an der Croisette zwar im Wett­be­werb lief, aber unver­s­tänd­li­cher­weise komplett leer ausging. Ein emotio­naler, ironi­scher Thriller. Frauen, die von Männern abhängig sind und sich dann doch immer Unab­hän­gig­keit verschaffen.
Und Bacurau von Kleber Mendonça Filho aus Brasilien.
Nichts falsch macht man auch mit der Entschei­dung für Martin Eden, in dem der Regisseur Pietro Marcello den gleich­na­migen Roman von Jack London auf ziemlich poetische Weise ins Italien der Nach­kriegs­zeit verlegt, altes doku­men­ta­ri­sche Material und histo­ri­sche Texturen einbaut – mit Neorea­lismus hat das aller­dings nichts zu tun.

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Neugierig machen mich die Filme Papicha, Animals und vor allem Babyteeth von Shannon Murphy, den Sonia Heiss als Filmpatin vorstellt. Am Donnerstag kommt morgen der deutsche Abend (»German Night«). Der bietet eine zwar nahe­lie­gende, aber eben sehr attrak­tive Kombi­na­tion: Das Vorspiel von Ina Weisse und Peli­k­an­blut von Katrin Gebbe. Zweimal Nina Hoss als Mutter mit eher uner­war­teten Eigen­schaften.
Schließ­lich einer der besten Filme des vergan­genen Kino­jahres: Der wunder­schöne Zombi Child vom genialen Bertrand Bonello.

(to be continued)