Cinema Moralia – Folge 207
Gibt es »das Publikum«? |
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Bohnenstange vom Russen Kantemir Balagov, in Berlin auf dem Festival »Around the World in 14 Films« zu sehen | ||
(Foto: eksystent distribution / Sibille Lehnert Filmdispo) |
»Wenn die alte Welt stirbt und die neue noch nicht geboren ist, bricht die Zeit der Monster an.«
Antonio Gramsci»Nicht die plebiszitäre Mehrheit dürfte über kulturelle Phänomene, die an die Massen sich richten entscheiden, und auch nicht die abgefeimte Weisheit von Patriarchen, die tun als ob sie gültig darüber wachten, was den Massen zuträglich ist. Befinden sollten allein Menschen, die sachlich zuständig sind, die ebenso viel von Kunst verstehen, wie von den sozialen Implikationen der Massenmedien. Das wären wohl ohne Ausnahme eben jene Intellektuellen, gegen die das plebiszitäre Urteil in den Massenmedien aufgehetzt würde.«
Adorno
Die Monster unserer Zeit, das sind die Mehrheiten, egal, welche Namen sie tragen. Die Mehrheiten, die glauben, dass sie nur, weil sie mehr sind, auch mehr wert sind, besser sind, im Recht sind. Das Publikum, also das Volk. Die Rechten also die Dummen. Die Masse, der Pöbel, der Mob – wie man früher über sie sprach, früher, als man noch glaubte, sie erziehen zu dürfen, und überhaupt erziehen zu können.
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In der deutschen Filmszene macht sich schon seit einiger Zeit eine Haltung breit, die man nur als kulturellen Populismus charakterisieren kann. Inzwischen ist sie allgemein geworden.
Es ist die Unsitte, dem Publikum nicht nur nach dem Munde zu reden, sondern seinen niedersten Instinkten hinterherzulaufen.
Alles begann im Filmbereich vermutlich tatsächlich mit Dieter Kosslicks Labeln der Berlinale als »Publikumsfestival«. Damit wurde indirekt zugleich gesagt, die anderen
Festivals seien das nicht, wurde das ohnehin vorhandene Ressentiment gegen das »Elitäre«, die »Intellektuellen« und ihre vermeintliche »Arroganz« getriggert. Andere Festivals machten das nach, vereinzelt wurden Publikumsjurys eingerichtet.
Synchron dazu nahm die Bedeutung der Quoten, der Besucherzahlen, des Kartenverkaufs als Kriterium für den »Erfolg« eines Films oder einer Veranstaltung enorm zu.
Zeitgleich wurde der deutsche Filmpreis der bewährten Vergabe per Jury
entrissen und einer sogenannten »Filmakademie« überantwortet, die allem Akademischen denkbar fernsteht, deren Mitglieder aber am liebsten auf Publikumsgröße schrumpfen und per Massenabstimmung und Mehrheitsprinzip die Preise vergeben; froh »ganz Mensch« sein und Geschmack durch Gefühl ersetzen zu dürfen.
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Diese Tendenz, Urteile durch Massenabstimmungen, Debatten durch Umfragen zu ersetzen und nach den Ergebnissen dann nachfolgend sich zu richten, ist in letzter Konsequenz autoritär und Faschismus in Reinform. Denn zur abstimmenden Masse gehören immer die Herrscher, die absolutistischen Provinzfürsten, die mit der Geste des Patriarchen für ihre vermeintliche Volkstümlichkeit sich feiern lassen, eine Volkstümlichkeit, die in Wahrheit reiner Zynismus ist: Der einen Hälfte des Publikums wird zynisch nach dem Mund geredet, die andere wird mit dem Verweis auf den Volkswillen mundtot gemacht.
Der kulturelle Populismus hat auch in diesem Fall vor allem das Ziel der demagogischen Einsetzung des Monarchen und der Macht eines Einzelnen gegen Gremien, gegen kontrollierende Institutionen, gegen die Presse als »vierte Gewalt« – wiewohl natürlich auch, wie sich noch gerade erst beobachten ließ, die Presse nicht einmal ansatzweise ihre Kontrollaufgaben erfüllt, sondern gerade durch die Schmeicheleien der Patriarchen sich zu dessen willigen Sprachrohren degradieren
ließ.
Wohl in der Hoffnung dem Publikum zu entsprechen.
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Dabei gibt es das Publikum gar nicht. Dort wo das Publikum einmal auftritt, jenseits der Massenabstimmung, da hat es die Gestalt von Leserbriefschreibern und Anrufern bei Sendern. Jeder, der schon einmal mit so etwas zu tun hatte, weiß: Diese »Rückmeldungen des Publikums« sind weder statistisch repräsentativ, noch sind sie dem Gehalt nach besonders gewichtig. Sehr oft stammen sie von Querulanten und Wichtigtuern, von Leuten, die sich gewohnheitsmäßig entrüsten und in anderen Zusammenhängen in die Kategorie der »Wutbürger« fallen würden. Sie schreiben Briefe und rufen an vor allem dann, wenn ihnen etwas dargeboten wird, was nicht mit dem übereinstimmt, was sie für ihren eigenen »gesunden Menschenverstand« halten.
Solche kulturellen Wutbürger bestätigen die kulturellen Populisten, jene Patriarchen in den Fördergremien, den Sendern und unter den Festivalmachern, die per jahrelanger Gehirnwäsche ihr Publikum dem eigenen Unbewusstseinstand angepasst haben. Fixiert ans Immergleiche verlangt das Publikum heute genau dieses. Das nennt man dann den Wunsch des Publikums.
Er wird durch die Algorithmen der Streamingdienste perfektioniert werden, so weit, dass, wie heute schon über weite Strecken, immer der gleiche Film entsteht – inszeniert von einer Handvoll Großregisseure, in den Hauptrollen verkörpert von einer Handvoll Großschauspieler, deren öffentlich ausgetragenen Muskelübungen man dann so wohlwollend wie distanziert zuschaut.
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»Manches spricht dafür, dass die Fähigkeit der Menschen, überhaupt noch etwas anderes zu wollen, als was sie in jedem Sinn haben können, schrumpft. Je dichter das Netz der Vergesellschaftung geflochten und womöglich ihnen über den Kopf geworfen ist, desto weniger vermögen ihre Wünsche, Intentionen, Urteile ihm zu entschlüpfen. Gefahr ist, dass das Publikum wenn man es animiert, seinen Willen kundzutun, womöglich noch mehr das will, was ihm ohnehin aufgezwungen wird. Damit sich das ändere, müsste erst die stillschweigende Identifikation mit dem übermächtigen Verfügbaren unterbrochen, müsste das schwache Ich gekräftigt werden, das es so viel bequemer hat, wenn es sich unterwirft, und man wird vergebens nach denen suchen die unter den gegebenen Verhältnissen das möchten und die Macht dazu hätten.«
»Das bis zum Äußersten präparierte Publikum wollte, wenn man seinem Willen sich überließe, verblendet das Schlechte: mehr Schmeichelei für es selber und die eigene Nation, mehr Schwachsinn über Kaiserinnen, die sich als Filmschauspielerinnen verdingen, mehr von jenem Humor, bei dem einen das Weinen überfallen kann. Gäbe es einen Willen des Publikums und folgte man ihm unmittelbar, so betrüge man das Publikum um eben jene Autonomie, die vom Begriff seines eigenen Wollens gemeint wird.
Über Beckett triumphierte die Christel von der Post.«
Adorno+ + +
Morgen Abend gibt es im Rahmen des Festivals »Around the world in 14films« 2019 in der jährlichen Reihe QUO VADIS DEUTSCHES KINO? eine Diskussion zum Thema »Die Rechten in den Gremien«.
Zeitpunkt: Morgen, Donnerstag, 28. November, 18.00 Uhr im Berliner »Kino in der Kulturbrauerei«
Auf dem Panel diskutiere zum ersten Mal nicht ich (die Gründe dazu s.u.) aber immerhin Hanns-Georg Rodek, Filmredakteur bei der WELT, und Heiko Hilker (Geschäftsführer des DIMBB – Dresdner
Instituts für Medien, Bildung und Beratung, seit 1997 im MDR-Rundfunkrat), moderieren wird Felix Neunzerling. Es geht um die Frage, ob und wie der Aufschwung der »neuen NPD« (Markus Söder), also der AfD, die Kultur- und Filmpolitik verändern wird? Ausgehend von der »Causa Mendig« wird der Einfluss der rechten Parteien auf die Kulturpolitik analysiert, die praktische Arbeit der AfD-Politiker in den Rundfunk- und Fernsehräten sowie ihre filmpolitische Agenda.
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Auch wenn der Film nur auf Netflix zu sehen sein wird, ist hier der Hinweis auf den Streaming-Dienst einmal angemessen: Denn atlantique von Mati Diop gehört fraglos zu den besten Kino(!!!)filmen des Jahres. In Cannes gewann er einen Hauptpreis und ich hatte euphorisch berichtet. Davon ist nichts zurückzunehmen.
Atlantique meint einerseits natürlich den Ozean, der sich vor Dakar eröffnet: Die Masse des Wassers ist ein unendlicher Sehnsuchtsraum, der alle
Hoffnungen und Ängste birgt, der eine lebendige, magnetische Kraft entfaltet, die die jungen Menschen ansaugt, und oft genug wieder ausspuckt. Der Titel könnte aber auch Atlantis meinen, den sagenumwobenen versunkenen Kontinent – ein utopischer Sehnsuchtsort. Überhaupt gibt die griechisch-antike Mythologie dem Zuschauer einige Motive an die Hand: Wie die Argonauten fahren die jungen Männer los aufs hohe Meer, wie die Erinnyen kehren sie zombifiziert zurück. Und die
Hauptfigur, die junge Frau Ada ist eine Art Penelope, die auf die Heimkehr ihres Helden wartet, und in dieser Zeit ihre eigene Odyssee erlebt: Durch den urbanen Dschungel Dakars, durch die Zumutungen von Tradition und Religion, die Wünsche der Familie, die Ratschläge der Freundinnen, herausgefordert durch unerklärliche Geschehnisse und nächtliche Besucher von Geistern. Wie bei Odysseus wird auch ihre Reise zu einer Befreiung führen.
Diop rückt Gefühlslagen, nicht den Plot in den
Mittelpunkt; sie arbeitet nicht primär mit Dialogen und festgeknüpften Storyelementen, sondern mit traumähnlichen Bildern in fließenden Szenenfolgen, offenen visuellen Texturen – wie ihre Lehrmeisterin Claire Denis. So gehen Naturalismus und Märchen Hand in Hand. Die Mythen der Seefahrt, zu denen immer auch der Aufbruch ins Unbekannte gehörte, treffen auf magisches Erzählen.
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»Atlantique« offenbart die tückische Doppelstrategie von Netflix: Einerseits werden manche »großen« Kinofilme wie zuletzt The Irishman oder Marriage Story auch im Kino zugelassen. Aber andere, wie dieser, werden ihm vorenthalten.
Die DVD wird man bald – in Frankreich, in der
Schweiz, wohin der Film vor dem Netflix-Abschluss schon fürs Kino verkauft war – bald kaufen können.
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Gerade bin ich in Baden-Baden. Beim Fernsehfilmfestival, zum ersten Mal. Lustigerweise genau wie die Berliner Regisseurin Miriam Bliese, mit der ich in den letzten Jahren beim deutschen Abend des Festivals »Around the world in 14films« immer eine unausgesprochene Verabredung hatte, die regelmäßig ganz großartig als langer Abend an einer Bar endete – letztes Jahr im Schwarz-Sauer. Diesmal wird auch Miriam hier sein, und ihren schönen Debütfilm Die Einzelteile der Liebe im Gespräch mit dem Publikum vorstellen – daher können wir uns dann morgen eine Baden-Badener-Bar aussuchen, und das Ritual fortsetzen.
Ich werde zuvor über Politisches im deutschen Fernsehfilm sprechen – dazu mehr nächste Woche. Aber das ist die Begründung für meine Abwesenheit bei der Diskussion über Rechte im Film, die doch wir in artechock wesentlich mitausgelöst hatten.
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Es lohnt sich, in Berlin das Festival »Around the World in 14 Films« zu besuchen, das sich vielleicht etwas vollmundig »Weltkinofestival« nennt. Zum Auftakt zeigte man zwar den gründlich missglückten, seltsam prätentiösen A Hidden Life, den schlechtesten Film, den Terrence Malick je gedreht hat. Aber nachdem das vorbei war, wurde das Programm immer besser. Denn man sieht dort eine
Reihe ganz hervorragender Filme: Mein persönlicher Favorit wäre Beanpole vom Russen Kantemir Balagov, den ich in Cannes im »Un Certain Regard« sah, der aber unbedingt in den Wettbewerb gehört hätte. Es geht um das melodramatische Verhältnis zweier Frauen im Leningrad unmittelbar nach dem Ende des »Großen Vaterländischen Kriegs« (vulgo: Zweiter Weltkrieg). Zwei verlorene Seelen, die
einander auch kaum noch Halt zu geben vermögen, eine traurige, schöne, bewegende, unverständliche, rätselhaft-aufregende und dabei gelegentlich witzige Geschichte.
Und dann, knapp dahinter, The Wild Goose Lake vom Chinesen Diao Yifnan, der an der Croisette zwar im Wettbewerb lief, aber unverständlicherweise komplett leer ausging. Ein emotionaler, ironischer Thriller. Frauen, die
von Männern abhängig sind und sich dann doch immer Unabhängigkeit verschaffen.
Und Bacurau von Kleber Mendonça Filho aus Brasilien.
Nichts falsch macht man auch mit der Entscheidung für Martin Eden, in dem der Regisseur Pietro Marcello den gleichnamigen Roman von
Jack London auf ziemlich poetische Weise ins Italien der Nachkriegszeit verlegt, altes dokumentarische Material und historische Texturen einbaut – mit Neorealismus hat das allerdings nichts zu tun.
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Neugierig machen mich die Filme Papicha, Animals und vor allem Babyteeth von Shannon Murphy, den Sonia Heiss als Filmpatin vorstellt. Am Donnerstag kommt morgen der deutsche Abend (»German Night«). Der bietet eine zwar naheliegende, aber eben sehr attraktive
Kombination: Das Vorspiel von Ina Weisse und Pelikanblut von Katrin Gebbe. Zweimal Nina Hoss als Mutter mit eher unerwarteten Eigenschaften.
Schließlich einer der besten Filme des vergangenen Kinojahres: Der wunderschöne Zombi Child vom genialen Bertrand Bonello.
(to be continued)