»Ein Lob auf die freie Rede, nieder mit Zensur aller Art!« |
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Großer Spielfilmpreis der Diagonale 2019: Sarah Fattahis Chaos | ||
(Foto: Little Magnet Films) |
»Wo divergierende Meinungen hingegen unterdrückt, zensiert oder gar geahndet werden, droht die Gefahr der Polarisierung und in der Kunst die Propaganda. Film und Kino haben mehr als einmal unter Beweis gestellt, als gut geölte Propagandamaschinen imstande zu sein, falsche Versprechen glaubhaft zu vermitteln und trübe Wahrheiten wie Blaupausen über unsere Gesellschaft zu legen.«
Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, Diagonale-Intendanten, in ihrer Eröffnungsrede
Graz ist eine Stadt, wo das 19. Jahrhundert noch sichtbar ist: An den Häusern, am wilden Bett des Flusses. In der Kunsthalle dann liegt das 21.: »Hate Speech. Agression & Intimität« heißt die aktuelle Ausstellung.
Darin geht darum, die freie Rede und öffentliche Meinungsäußerung als ein Kernelement der Demokratie zu verteidigen. Das Formulieren und Austauschen von Gedanken und Argumenten ermöglicht, die Kritik von Positionen und die Kritik dieser Kritik, deutlich, mit Namensnennungen, ohne Kotau vor Autoritäten, ermöglicht erst das Kennenlernen und Abwägen von unterschiedlichen Standpunkten und den Fortschritt zu einer Fragestellung, einem Konsens. Das ist aufwendig, aber für das Gemeinwohl substanziell. Traditionelle Medien berichten nicht nur über Nachrichten und interpretieren diese, sondern bieten meist auch ein Forum für das Publikum an, wie den Abdruck von Leserbriefen in Zeitungen, das Anrufen in Radiosendungen oder die Teilnahme bei entsprechenden Fernsehformaten.
Das durch das Internet und die diversen Kanäle von Social Media beflügelte Selbstbewusstsein wird durchkreuzt durch gesteigerte Sensibilität gegenüber der eigenen Psyche und eigenen Körperlichkeit. Wir sind ja sooo sensibel. Nichts Böses soll die Reinheit unserer Seelen mehr beschmutzen. Die Romanmtiker hätten darüber nachsichtig gelacht. Heute vergießt man kalte Tränen.
Es scheint, als entstehe aus der Neukonnotation der Intimität des Einzelnen die Reaktion der Abgrenzung
gegenüber gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen.
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Eine Ode an das öffentlich-rechtliche Radio, besonders an »Ö1«, den erfolgreichsten Kultursenders der Welt.
»Gehört, gesehen – Ein Radiofilm« heißt dieser Dokumentarfilm von Jakob Brossmann und David Paede, der durch die Abteilungen des Senders flaniert, und die verschiedenen Einzelteile per eleganter Montage zu einem Gesamtbild verbindet. Den Autoren gelingt so die Zustandsbeschreibung eines anspruchsvollen, im besten Sinne auch elitären, nämlich Vereinfachungen
herausfordernden Mediums und ein ebenso subtiler wie eindeutiger Kommentar zur Vertrauenskrise des Qualitäts-Journalismus, mit dem der ORF zu kämpfen hat und der derzeit in Österreich brodelnden Debatte um die zukünftige Finanzierung des ORF.
»...das zu beschreiben, was ist, und zwar unbefangen, an den Fakten orientiert und weniger jetzt an festen ideologischen Bildern, weil ich schon wahrnehme, und das halte ich für die größte Gefährdung unseres Berufs, diese Vertrauenskrise, die sich vom Politischen übertragen hat auf den Begriff der Medien...«
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Das passte perfekt zum Begriff der »Genauigkeit«, die Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger, die beiden Intendanten der Diagonale, zur Eröffnung als diesjähriges Motto benannt hatten.
In diesem Begriff darf man nicht nur ein Gegenmodell gegen die populistischen Vereinfachungen, die in der offiziellen österreichischen Kulturpolitik in letzter Zeit den Ton angeben, sehr. Sondern auch die Aufforderung an das Kino, es sich nicht zu leicht zu machen, nicht moralische Appelle und wohlfeile Symbolhandungen mit Politik zu verwechseln.
»Filme, die sich von Schlüsselwörtern und Reizthemen unbeeindruckt geben« wolle man zeigen, ein Bekenntnis zur Weltoffenheit und zu einem vereinten starken Europa, »von Humanität, Egalität, Geschwisterlichkeit und Solidarität« abgeben. Aber eben nicht plakativ: »Möglicherweise liegt das größte Potenzial zur Provokation für die Kunst im Beharren auf Genauigkeit, in der Verweigerung vorschneller, populistischer Urteile, im Dranbleiben und unbequemen Nachfragen. Der Kinofilm ist dazu in seinen stärksten Momenten fähig.«
So wie die Bilder im Kino in Bewegung bleiben, so sollte es auch mit den Gedanken sein, hoffen die Intendanten: »Lassen Sie uns den Begriff der Genauigkeit also gerade auf jene Filme richten, die sich politischer Hysterie und fetischisierter Bekenntniskultur verweigern. Die ideologische Fixierungen gekonnt aufbrechen oder vorab umschiffen. Filme, die sich von Schlüsselworten und Reizthemen, die gerade jetzt wichtig erscheinen, unbeeindruckt geben, dafür umso inniger und
mit größter Zuwendung ihrer künstlerischen Vision folgen.«
Das ist wahre Cinephilie!
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Die Dankesrede von Birgit Minichmayr, die den »Großen Schauspielpreis« erhielt, bot dann leider gleich darauf ein Beispiel ganz gegenteiliger Ungenauigkeit: Erst verwechselte sie »Freischütz« mit »Traviata«, dann behauptete Minichmayr keck »Kunst kann Wasser in Wein verwandeln ... kann die Massen sososo rühren, dass sie sich politisch verhalten.«
Kann Verhalten aus Rührung, möchte man gegenfragen, überhaupt politisch sein?
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Die Eröffnungs-Moderation war übrigens beiläufig, unterspielt, lustig, da wusste man gleich, wo man war: Nicht in Deutschland jedenfalls, sondern in einem ganz anderen Land.
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»Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?« fragten die Intendanten, unter – absichtlichem? zufälligem? – Bezug auf meinen im letzten Jahr dort gezeigten Film über »das deutsche Kino im Zeitalter der Propaganda« und erinnerten damit zum Auftakt, dass das, was die Kunst von Sozialarbeit und von politischen Manifesten unterscheidet, genau das Unklare ist, der irritierende Mehrwert, nicht die Eindeutigkeit von Gesinnungsgemeinschaften.
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Zugleich gab es auch neben dem aktuellen Streit um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk schon fast zu viele verschiedene politische Felder und Fragen, um die knapp fünf Tage der Diagonale nicht zu überfordern:
Gleichstellung der Frauen, Rassismus, Missbrauch, Erderwärmung, das Aufkommen des Neofaschismus, aber auch ganz aktuell der Streit um das europäische Urheberrecht und Rechte der Nutzer – all das fand sich in dem einen oder anderen Film wieder.
Auf interessante Art und Weise bearbeitete der Wiener Videokünstler Johann Lurf das Thema Demagogie und Neofaschismus.
Er war für den diesjährigen Festivaltrailer verantwortlich, ein Auftrag, der jedes Mail an einen anderen Künstler vergeben wird
Lurf zeigt ein neonbeleuchtetes Mühlrad, das sich immer schneller dreht – Wasser auf die Mühlen kann man denken, zumal dazu kurze Texteinblendungen, die in den Satz und Titel des Trailers mündeten: »Nationalismus ist Gift für die Gesellschaft«.
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Nationalismus ist das Gegenteil von Patriotismus.
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In den Preisen zeigte sich hingegen eine schon fast biedere Erwartbarkeit: Zwar ist Sara Fattahis sensibel komponierter Filmessay Chaos über drei Frauen im syrischen Bürgerkrieg ein würdiger Preisträger, während der Sieger des Großen Diagonale-Preis für Dokumentarfilm The Remains – Nach der Odyssee von Nathalie Borgers allzu gefällig und meditativ vom Sterben im Mittelmeer erzählt.
Vor allem aber erlebte man, dass auch die weiteren Preise durchweg an bekannte Filmemacher gingen und an Filme, die die aktuellen politischen Schlagzeilen bebildern: Migration, Krieg, Rassismus, Frauenbenachteiligung.
Verstärkt wurde dieser Eindruck des Allzuerwartbaren dadurch, dass mehrheitlich mit Frauen besetze Jurys die kompletten Hauptpreise an Frauen vergaben, so dass auch bei mancher Besucherin der Verdacht aufkam, hier werde die alte Männerfixierung nur durch
ihr strukturelles Gegenteil ersetzt, aber keineswegs ein neuer Zugang gefunden, oder besonders genau hingeschaut.
Ich kann es nicht an sich erfreulich finden, dass Frauen Preise bekommen. Was ist daran erfreulich? Es kommt doch auf die Filme an, oder?
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Das von politischer Korrektheit und übersensiblen, fehlgeleiteten Überlegungen angerichtete Durcheinander in den Köpfen – wann ist ein Film ein Dokumentarfilm, wann ein Spielfilm – führt im Effekt zur Auflösung aller Kategorien. Dabei ist der Unterschied zwischen Spiel- und Dokumentarfilm kristallklar: Der Dokumentarfilm zeigt, was existiert. Irgendwo, irgendwann. Er inszeniert nicht. Wo für die Kamera inszeniert wird, ist nicht mehr Wirklichkeit, sondern Inszenierung. Die Tatsache, das Wirklichkeit längst »auf Bilder« hin, auf Inszenierungstauglichkeit gestaltet wird, ändert daran nichts.
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Eine Filmemacherin – auf dem Festival; nicht im Wettbewerb, also keineswegs persönlich frustriert – äußerte kurz nach der Preisverleihung so genervt wie klar: »Lasst euch doch mal was anderes einfallen als Flüchtlinge, die vom Flüchtlingsboot plumpsen. Flüchtlinge könnten ja auch Politiker in euren Filmen sein. Sie könnten Ärzte sein, Liebesgeschichten haben oder Superhelden werden. Aber sie plumpsen ständig in unseren österreichischen Filmen von einem Boot. Ich könnte viel mehr dazu sagen, viel mehr. Viel mehr. Aber ich sag einfach nur: Wenn ich das noch einmal seh, dann zünd ich eure Kirchen an.«
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An der Festivalauswahl selbst lag das nicht. Im Gegenteil hatte man sich da große Mühe gegeben, das Politische mit dem Ästhetischen zu versöhnen.
Etwa in der Retrospektive, die mit dem Thema »Staging Femininity«, also der Aufführung von Weiblichkeit zwar vermeintlich auf den Zug der aktuellen Frauenfragen aufsprang, diesen jedoch neue und ungewohnte Facetten abgewann.
Zehn Kuratoren, nicht alle, aber die meisten Frauen, waren gebeten worden, einen Essay des Festivals durch ein Filmprogramm zu entfalten und zu kommentieren.
Da spann sich der Bogen von Alexandra Seidels Erinnerung an die Figur des »Wiener Mädels« die in zwei Filmen des präfaschistischen Österreich subversive Widerständigkeit entfaltet bis zu einem Kurzfilmprogramm zur Wiener Avantgarde der 70er und 80er Jahre. Kuratiert von den Frankfurter Filmwissenschaftlern Karola Gramann und Heide Schlüpmann begegnete man hier der zweiten, der Post-68er Generation des Feminismus für das Namen wie Lisa Christanell, Mara Matuschka und
Ursula Pürrer stehen.
Eine lässig-humorvolle Erinnerung daran, wie klug, zugleich souverän und witzig der Kino-Feminismus einmal gewesen ist.