28.03.2019

»Ein Lob auf die freie Rede, nieder mit Zensur aller Art!«

Sarah Fattahi, Chaos
Großer Spielfilmpreis der Diagonale 2019: Sarah Fattahis Chaos
(Foto: Little Magnet Films)

Die Diagonale 2019 forderte, ideologische Fixierungen aufzubrechen durch Genauigkeit

Von Rüdiger Suchsland

»Wo diver­gie­rende Meinungen hingegen unter­drückt, zensiert oder gar geahndet werden, droht die Gefahr der Pola­ri­sie­rung und in der Kunst die Propa­ganda. Film und Kino haben mehr als einmal unter Beweis gestellt, als gut geölte Propa­gan­da­ma­schinen imstande zu sein, falsche Verspre­chen glaubhaft zu vermit­teln und trübe Wahr­heiten wie Blau­pausen über unsere Gesell­schaft zu legen.«
Sebastian Höglinger und Peter Schern­huber, Diagonale-Inten­danten, in ihrer Eröff­nungs­rede

Graz ist eine Stadt, wo das 19. Jahr­hun­dert noch sichtbar ist: An den Häusern, am wilden Bett des Flusses. In der Kunst­halle dann liegt das 21.: »Hate Speech. Agression & Intimität« heißt die aktuelle Ausstel­lung.

Darin geht darum, die freie Rede und öffent­liche Meinungs­äuße­rung als ein Kern­ele­ment der Demo­kratie zu vertei­digen. Das Formu­lieren und Austau­schen von Gedanken und Argu­menten ermög­licht, die Kritik von Posi­tionen und die Kritik dieser Kritik, deutlich, mit Namens­nen­nungen, ohne Kotau vor Auto­ri­täten, ermög­licht erst das Kennen­lernen und Abwägen von unter­schied­li­chen Stand­punkten und den Fort­schritt zu einer Frage­stel­lung, einem Konsens. Das ist aufwendig, aber für das Gemein­wohl substan­ziell. Tradi­tio­nelle Medien berichten nicht nur über Nach­richten und inter­pre­tieren diese, sondern bieten meist auch ein Forum für das Publikum an, wie den Abdruck von Leser­briefen in Zeitungen, das Anrufen in Radio­sen­dungen oder die Teilnahme bei entspre­chenden Fern­seh­for­maten.

Das durch das Internet und die diversen Kanäle von Social Media beflü­gelte Selbst­be­wusst­sein wird durch­kreuzt durch gestei­gerte Sensi­bi­lität gegenüber der eigenen Psyche und eigenen Körper­lich­keit. Wir sind ja sooo sensibel. Nichts Böses soll die Reinheit unserer Seelen mehr beschmutzen. Die Romanmtiker hätten darüber nach­sichtig gelacht. Heute vergießt man kalte Tränen.
Es scheint, als entstehe aus der Neukon­no­ta­tion der Intimität des Einzelnen die Reaktion der Abgren­zung gegenüber gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Entwick­lungen.

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Eine Ode an das öffent­lich-recht­liche Radio, besonders an »Ö1«, den erfolg­reichsten Kultur­sen­ders der Welt.
»Gehört, gesehen – Ein Radiofilm« heißt dieser Doku­men­tar­film von Jakob Brossmann und David Paede, der durch die Abtei­lungen des Senders flaniert, und die verschie­denen Einzel­teile per eleganter Montage zu einem Gesamt­bild verbindet. Den Autoren gelingt so die Zustands­be­schrei­bung eines anspruchs­vollen, im besten Sinne auch elitären, nämlich Verein­fa­chungen heraus­for­dernden Mediums und ein ebenso subtiler wie eindeu­tiger Kommentar zur Vertrau­ens­krise des Qualitäts-Jour­na­lismus, mit dem der ORF zu kämpfen hat und der derzeit in Öster­reich brodelnden Debatte um die zukünf­tige Finan­zie­rung des ORF.

»...das zu beschreiben, was ist, und zwar unbe­fangen, an den Fakten orien­tiert und weniger jetzt an festen ideo­lo­gi­schen Bildern, weil ich schon wahrnehme, und das halte ich für die größte Gefähr­dung unseres Berufs, diese Vertrau­ens­krise, die sich vom Poli­ti­schen über­tragen hat auf den Begriff der Medien...«

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Das passte perfekt zum Begriff der »Genau­ig­keit«, die Peter Schern­huber und Sebastian Höglinger, die beiden Inten­danten der Diagonale, zur Eröffnung als dies­jäh­riges Motto benannt hatten.

In diesem Begriff darf man nicht nur ein Gegen­mo­dell gegen die popu­lis­ti­schen Verein­fa­chungen, die in der offi­zi­ellen öster­rei­chi­schen Kultur­po­litik in letzter Zeit den Ton angeben, sehr. Sondern auch die Auffor­de­rung an das Kino, es sich nicht zu leicht zu machen, nicht mora­li­sche Appelle und wohlfeile Symbol­han­dungen mit Politik zu verwech­seln.

»Filme, die sich von Schlüs­sel­wör­tern und Reiz­themen unbe­ein­druckt geben« wolle man zeigen, ein Bekenntnis zur Welt­of­fen­heit und zu einem vereinten starken Europa, »von Humanität, Egalität, Geschwis­ter­lich­keit und Soli­da­rität« abgeben. Aber eben nicht plakativ: »Mögli­cher­weise liegt das größte Potenzial zur Provo­ka­tion für die Kunst im Beharren auf Genau­ig­keit, in der Verwei­ge­rung vorschneller, popu­lis­ti­scher Urteile, im Dran­bleiben und unbe­quemen Nach­fragen. Der Kinofilm ist dazu in seinen stärksten Momenten fähig.«

So wie die Bilder im Kino in Bewegung bleiben, so sollte es auch mit den Gedanken sein, hoffen die Inten­danten: »Lassen Sie uns den Begriff der Genau­ig­keit also gerade auf jene Filme richten, die sich poli­ti­scher Hysterie und feti­schi­sierter Bekennt­nis­kultur verwei­gern. Die ideo­lo­gi­sche Fixie­rungen gekonnt aufbre­chen oder vorab umschiffen. Filme, die sich von Schlüs­sel­worten und Reiz­themen, die gerade jetzt wichtig erscheinen, unbe­ein­druckt geben, dafür umso inniger und mit größter Zuwendung ihrer künst­le­ri­schen Vision folgen.«
Das ist wahre Cine­philie!

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Die Dankes­rede von Birgit Minich­mayr, die den »Großen Schau­spiel­preis« erhielt, bot dann leider gleich darauf ein Beispiel ganz gegen­tei­liger Unge­nau­ig­keit: Erst verwech­selte sie »Frei­schütz« mit »Traviata«, dann behaup­tete Minich­mayr keck »Kunst kann Wasser in Wein verwan­deln ... kann die Massen sososo rühren, dass sie sich politisch verhalten.«
Kann Verhalten aus Rührung, möchte man gegen­fragen, überhaupt politisch sein?

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Die Eröff­nungs-Mode­ra­tion war übrigens beiläufig, unter­spielt, lustig, da wusste man gleich, wo man war: Nicht in Deutsch­land jeden­falls, sondern in einem ganz anderen Land.

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»Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?« fragten die Inten­danten, unter – absicht­li­chem? zufäl­ligem? – Bezug auf meinen im letzten Jahr dort gezeigten Film über »das deutsche Kino im Zeitalter der Propa­ganda« und erin­nerten damit zum Auftakt, dass das, was die Kunst von Sozi­al­ar­beit und von poli­ti­schen Mani­festen unter­scheidet, genau das Unklare ist, der irri­tie­rende Mehrwert, nicht die Eindeu­tig­keit von Gesin­nungs­ge­mein­schaften.

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Zugleich gab es auch neben dem aktuellen Streit um den öffent­lich-recht­li­chen Rundfunk schon fast zu viele verschie­dene poli­ti­sche Felder und Fragen, um die knapp fünf Tage der Diagonale nicht zu über­for­dern:
Gleich­stel­lung der Frauen, Rassismus, Miss­brauch, Erder­wär­mung, das Aufkommen des Neofa­schismus, aber auch ganz aktuell der Streit um das europäi­sche Urhe­ber­recht und Rechte der Nutzer – all das fand sich in dem einen oder anderen Film wieder.

Auf inter­es­sante Art und Weise bear­bei­tete der Wiener Video­künstler Johann Lurf das Thema Demagogie und Neofa­schismus.

Er war für den dies­jäh­rigen Festi­val­trailer verant­wort­lich, ein Auftrag, der jedes Mail an einen anderen Künstler vergeben wird

Lurf zeigt ein neon­be­leuch­tetes Mühlrad, das sich immer schneller dreht – Wasser auf die Mühlen kann man denken, zumal dazu kurze Text­ein­blen­dungen, die in den Satz und Titel des Trailers mündeten: »Natio­na­lismus ist Gift für die Gesell­schaft«.

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Natio­na­lismus ist das Gegenteil von Patrio­tismus.

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In den Preisen zeigte sich hingegen eine schon fast biedere Erwart­bar­keit: Zwar ist Sara Fattahis sensibel kompo­nierter Filmessay Chaos über drei Frauen im syrischen Bürger­krieg ein würdiger Preis­träger, während der Sieger des Großen Diagonale-Preis für Doku­men­tar­film The Remains – Nach der Odyssee von Nathalie Borgers allzu gefällig und meditativ vom Sterben im Mittel­meer erzählt.

Vor allem aber erlebte man, dass auch die weiteren Preise durchweg an bekannte Filme­ma­cher gingen und an Filme, die die aktuellen poli­ti­schen Schlag­zeilen bebildern: Migration, Krieg, Rassismus, Frau­en­be­nach­tei­li­gung.
Verstärkt wurde dieser Eindruck des Allzu­er­wart­baren dadurch, dass mehr­heit­lich mit Frauen besetze Jurys die kompletten Haupt­preise an Frauen vergaben, so dass auch bei mancher Besu­cherin der Verdacht aufkam, hier werde die alte Männer­fi­xie­rung nur durch ihr struk­tu­relles Gegenteil ersetzt, aber keines­wegs ein neuer Zugang gefunden, oder besonders genau hinge­schaut.
Ich kann es nicht an sich erfreu­lich finden, dass Frauen Preise bekommen. Was ist daran erfreu­lich? Es kommt doch auf die Filme an, oder?

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Das von poli­ti­scher Korrekt­heit und über­sen­si­blen, fehl­ge­lei­teten Über­le­gungen ange­rich­tete Durch­ein­ander in den Köpfen – wann ist ein Film ein Doku­men­tar­film, wann ein Spielfilm – führt im Effekt zur Auflösung aller Kate­go­rien. Dabei ist der Unter­schied zwischen Spiel- und Doku­men­tar­film kris­tall­klar: Der Doku­men­tar­film zeigt, was existiert. Irgendwo, irgend­wann. Er insze­niert nicht. Wo für die Kamera insze­niert wird, ist nicht mehr Wirk­lich­keit, sondern Insze­nie­rung. Die Tatsache, das Wirk­lich­keit längst »auf Bilder« hin, auf Insze­nie­rungs­taug­lich­keit gestaltet wird, ändert daran nichts.

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Eine Filme­ma­cherin – auf dem Festival; nicht im Wett­be­werb, also keines­wegs persön­lich frus­triert – äußerte kurz nach der Preis­ver­lei­hung so genervt wie klar: »Lasst euch doch mal was anderes einfallen als Flücht­linge, die vom Flücht­lings­boot plumpsen. Flücht­linge könnten ja auch Politiker in euren Filmen sein. Sie könnten Ärzte sein, Liebes­ge­schichten haben oder Super­helden werden. Aber sie plumpsen ständig in unseren öster­rei­chi­schen Filmen von einem Boot. Ich könnte viel mehr dazu sagen, viel mehr. Viel mehr. Aber ich sag einfach nur: Wenn ich das noch einmal seh, dann zünd ich eure Kirchen an.«

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An der Festi­val­aus­wahl selbst lag das nicht. Im Gegenteil hatte man sich da große Mühe gegeben, das Poli­ti­sche mit dem Ästhe­ti­schen zu versöhnen.
Etwa in der Retro­spek­tive, die mit dem Thema »Staging Femin­inity«, also der Auffüh­rung von Weib­lich­keit zwar vermeint­lich auf den Zug der aktuellen Frau­en­fragen aufsprang, diesen jedoch neue und unge­wohnte Facetten abgewann.

Zehn Kuratoren, nicht alle, aber die meisten Frauen, waren gebeten worden, einen Essay des Festivals durch ein Film­pro­gramm zu entfalten und zu kommen­tieren.

Da spann sich der Bogen von Alexandra Seidels Erin­ne­rung an die Figur des »Wiener Mädels« die in zwei Filmen des präfa­schis­ti­schen Öster­reich subver­sive Wider­s­tän­dig­keit entfaltet bis zu einem Kurz­film­pro­gramm zur Wiener Avant­garde der 70er und 80er Jahre. Kuratiert von den Frank­furter Film­wis­sen­schaft­lern Karola Gramann und Heide Schlüp­mann begegnete man hier der zweiten, der Post-68er Gene­ra­tion des Femi­nismus für das Namen wie Lisa Christanell, Mara Matuschka und Ursula Pürrer stehen.
Eine lässig-humor­volle Erin­ne­rung daran, wie klug, zugleich souverän und witzig der Kino-Femi­nismus einmal gewesen ist.