36. Filmfest München 2019
Die Einsamkeit der Empathie |
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Zu Gast in »Ben’s Chili Bowl« | ||
(Foto: crew united) |
Von Thomas Willmann
Irgendwann wendet man den Blick, den Kopf auch nach rechts. Dorthin, wo in »Ben’s Chili Bowl« auf Augenhöhe eine Spiegelleiste angebracht ist. Aber genau an der Stelle, wo man darin sein eigenes Gesicht erblicken müsste, klebt »zufällig« ein Flyer.
Es ist ein Detail in Traveling While Black, das die Illusion zugleich vor dem Zerbrechen bewahrt, und als Illusion bewusst macht. Man weiß in dem Moment freilich, dass der Flyer die Reflexion der 360°-Kamera
verbirgt. Aber solange der Spiegel auf diesem Fleck blind ist, kann man sich andererseits immer noch einreden, dass man sich darin sonst selbst sehen würde.
Roger Ross Williams' VR-Doku war die eine sogenannte »Experience« bei den »Virtual Worlds«, wo mich tatsächlich einmal kurz dieses Gefühl angefasst hat: »Das könnte die Zukunft sein.« Vieles an Traveling While Black erinnert an die (emotionalisierende) Ästhetik heutiger Mainstream-US-Dokumentarfilme.
Aber dass er statt traditioneller »talking heads« seine Interviews inszeniert als Gespräche im Diner, bei denen man stumm zuhörend mit am Vierertisch sitzt – das stellt erstaunlich viel mit einem an, das ist eine erstaunlich fundamentale Veränderung.
Es war bei den »Virtual Worlds« meine erste Ahnung, dass die Möglichkeiten der seltsamen Präsenz/Nicht-Präsenz, die man im Medium der Virtuellen Realit ät innehat, noch nicht ansatzweise ausgeschöpft sind.
VR befindet sich derzeit in einer vergleichbaren Phase, wie es das Kino in den 1910er Jahren war: Man ist über die ersten Anfänge als bloße technische Neuheit, Jahrmarktsattraktion hinaus, auf der noch offenen Suche nach Wegen, es zu einer wahren Kunstform zu machen. Kettet sich dabei aber noch sehr an die etablierten Ahnen: Was dem Film einst Roman, Theater, Malerei/Photographie waren, sind VR nun der Film und die Videospiele.
Ein verbreitetes Genre der »Experiences« sind nichts weiter als gewöhnliche Kurzfilme mit Rundumsicht. Gegen die sie dann mühevoll ankämpfen: ALONE etwa verwendet den Großteil seiner eher bescheidenen Kunst auf Anreize, den Blick genauso auf den einen Szenenausschnitt vor sich fixiert zu halten wie aus dem Kino gewohnt. Das Umschauen ist unerwünscht, der Film arbeitet aktiv gegen die Grundeigenheit seines Wahlmediums. The Fernweh Opera versetzt einen immerhin gleich in eine Theatersituation, auf einen Sitzplatz im Parkett – was aber eben auch eine Ansage ist, wie tief das Prinzip Guckkastenbühne da im Erbgut steckt. Selbst wenn sich der Raum dann kurzzeitig auflöst und von rechts aus dem Off ein Planet hindurch und vorüber schwebt.
Viele »Erlebnisse« sind schlicht Games mit einer immersiveren Form der 3D-Darstellung und der Steuerung.
Und wie einst das Kino, wird auch VR derzeit zu einem Gutteil als touristisches Medium genutzt: Eine Möglichkeit, sich an ferne Orte zu versetzen und diese zu begaffen – bevorzugt an solche, die schwer oder gar nicht zugänglich sind. Sei’s wegen realer Hindernisse (Mount Everest, Wüsten, etc.), weil diese Orte nicht mehr existieren (virtuelle Rekreationen
historischer Schauplätze), oder weil sie nie existiert haben (Fantasie- und Rauschwelten).
Als Teleportations- und/oder Zeitmaschine mitunter durchaus beeindruckend – aber meist mit wenig tieferer Reflexion verbunden.
Wo VR aber als Verlängerung des Kinos mit anderen Mitteln gedacht wird, da ist es vor allem im Aspekt des Rauschhaften, des Entgrenzenden. Und es wundert nicht, dass das Medium einen Filmemacher wie Jan Kounen anzieht, der seit seinen
strunzpubertären Anfängen mit Vibroboy und Dobermann trotz eines deutlichen Reifeprozesses immer wieder (siehe Blueberry) nach einem Kino strebte, das die Grenze zwischen Leinwand und Leib sprengt, das einem auf die Pelle rückt, einen delirierend verschlingt. -22,7°, seine
Zusammenarbeit mit dem Elektro-Musiker Molécule, ist da eine durchaus stimmige Fortführung: Anfangs scheinbar ein ebenfalls touristischer, dokumentarischer Ausflug nach Grönland. Der sich dann zu einer kosmischen, abstrakten (Klang-)Landschaft weitet.
Traveling While Black aber war in meiner (zugegeben begrenzten) Stichprobe die eine VR-Erfahrung, die bewusst die neue Technologie zum Zweck der Empathie einsetzt.
Im Vergleich zu dem, was die anderen Rundum-Filme teils an Aufwand und Innovation auffuhren, klingt es so simpel, fast nichtig: Einen schlicht mit fremden Menschen, die ihre Geschichten erzählen, scheinbar an einen Tisch zu setzen. Aber das stellt auf einer ganz tiefen menschlichen Ebene mit einem
etwas an, das tatsächlich neu und anders ist als alles, was von einer Leinwand zu einem herabsprechende Gesichter leisten können. Und wie Traveling While Black mit dem vom Flyer verdeckten Spiegel einen dabei an den Abgrund der Illusion führt – einem bewusst macht, dass man einen Körper hat, der einem nicht in den dokumentarisch-virtuellen Raum gefolgt ist, und der dort in Wahrheit auch störend wäre: Das gibt dem Moment die Größe der Hoffnung wie seine
Tragik.
Das sagt: VR kann die Zuversicht innewohnen, dass uns die Technologie als Menschen näher bringt zueinander, dass wir Gast sein können an fremden Tischen, dem Anderen (und »Dem Anderen«) auf Augenhöhe begegnen. Aber zugleich beharrt es auf dem Bewusstsein (um es mit den Worten des Philosophen U. Jürgens zu sagen): »Ich werd immer nur ein Fremder sein. Und allein.«
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Es ist mithin durchaus richtig, diesem Medium eine Art (gern auch alljährliche) Leistungsschau zu widmen. Solange es sich noch in eben dieser Phase befindet der Pioniere, der Pluralität und Offenheit der Möglichkeiten, der (Selbst-)Entdeckung und Erfindung.
Und durchaus ist’s auch schön, dass München mal nicht wartet, bis ein neues Medium durchkodifiziert, gut abgehangen und mit dem Stempel bildungsbürgerlicher Akzeptanz versehen ist.
Also grundsätzlich, grade
nach dem Erlebnis mit Traveling While Black: Nichts gegen die »Virtual Worlds«. Gern mehr davon.
Nur: Mit dem Filmfest hat die Veranstaltung nichts zu tun. Und von »Synergien«, und was das Marketing- und Berater-Sprech sonst so alles anpreist von der Verbindung, keine Spur. Im Gegenteil.
Von einem Ausstrahlen auf das Filmfest war exakt gar nichts zu merken. Solange man sich dort bewegte, wo ganz traditionell Filme auf Leinwände projiziert wurden, waren die »Virtual Worlds« schlicht kein Thema. Aus den Cineasten-Kreisen habe ich niemanden gesprochen, die oder der auch dort
gewesen wäre. Und von den Menschen vor Ort kam mir niemand aus dem Kino bekannt vor.
Es tummelte sich auf der Isarinsel ein komplett anderes Publikum. Und da auch auf Seite der Verantwortlichen praktisch keine Überschneidungen herrschen, blieben die »Virtual Worlds« eine völlig eigene Parallelwelt.
Das ist kein weiteres Standbein für das Filmfest München – das ist, als hätte man dem Filmfest irgendwie ein zusätzliches Knie an den Hintern genäht.
Für die »Virtual Worlds« selbst aber hat es deutliche Nachteile, als bloße Fußnote des Filmfests wahrgenommen (oder eben überwiegend: gar nicht wahrgenommen) zu werden.
Das beginnt schlicht damit, dass Sommer die denkbar ungeeignetste Zeit ist für eine VR-Großveranstaltung. Bei den Außentemperaturen diese Woche wurde es unter den Brillen schnell unangenehm dampfig. Die Rechner und vor allem die Akkus ächzten und röchelten nah am Kollaps.
Und es fällt schwer, es nicht
symbolisch zu interpretieren, dass man die ganze Veranstaltung im Forum der Technik in einen Raum getackert hat, der früher bloß der Durchgang war zu den Kinos und dem IMAX.
Dank der Lichtstimmung einiger bunter Strahler geben Fotos vom Veranstaltungsort nur ein viel zu schmeichelhaftes Bild ab davon, wie armselig handgeklöppelt und behelfsgebastelt dort alles in der Realität wirkte. Die einzelnen Stände waren nur durch überdimensionale Bettlaken voneinander
abgeschirmt, und außer dem notwendigsten Mobiliar (Stühle, Liegematten und Tischchen für die Laptops) und halt den VR-Brillen gab es nichts an räumlicher Gestaltung, das den Eindruck gemindert hätte, dass man das alles da halt mal schnell provisorisch reingeräumt hätte, weil sonst nirgends Platz war.
Für die Außenwirkung der Veranstaltung aber fataler: Die Berichterstattung im Rahmen des Filmfests beschränkt sich oft auf bloß einige Zeilen Nachgedanken. In der Werbung des Filmfests ist der VR-Anhang so gut wie unsichtbar. Und selbst die Website ist mehrere Linkebenen versteckt von der Filmfest-Seite ansteuerbar (und von recht begrenzter Brauchbarkeit).
Mag sein, dass die Wahrnehmung innerhalb der Branche eine andere ist. Fürs reguläre Münchner (geschweige denn
überregionale) Publikum blieben die Virtual Worlds weitgehendst obskur.
»Aber es waren doch alle 3000 Zeitfenster ausgebucht!«, mag man jetzt einwenden. Und bei drei Stichproben an den drei Tagen fand sich vor Ort auch stets ein Häuflein Slot-Loser, bereitwillig eventuelle Lücken zu füllen.
Man muss bei den 3000 »Tickets« aber bedenken, dass die einzelnen Experiences im Schnitt lediglich um die 10 Minuten dauerten. Und dass wohl wirklich niemand für nur eine gebucht hatte und hingefahren war. Die meisten Leute hatten eher gleich im Dutzenderpack
geplant. Und im Endeffekt reden wir bei den 3000 VR-Erfahrungen also netto in Hinsicht auf tatsächliche Publikumszahlen (und individuelle »Lauflänge«) vom Äquivalent von lediglich und bestenfalls zwei, drei ausverkauften Kinovorstellungen.
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Da sind wir aber an dem Punkt, in dem Filmfest und Virtual Worlds sich immer im Kern widersprechen müssen: Es steckt in der DNA des Mediums Virtual Reality, dass es ein Medium der Vereinzelung, der Vereinsamung ist. Der Abschottung von Gemeinschaft. (Möglicherweise werden Multiplayer-Experiences das dereinst zumindest im virtuellen Raum ändern. Aber im Meatspace bleibt es allemal so.)
Das Kino an sich, und insbesondere ein Filmfest, beruhen aber genau auf der Idee eines
gemeinschaftlichen Erlebnisses. Auf der Bereitschaft, sich mit Dutzenden, Hunderten fremder Menschen zusammen einem Film auszusetzen. Mit allen Fährnissen und Beglückungen, die das mit sich bringen kann.
Mag sein, dass es für die Profis bei der Konferenz anders war. Aber die Virtual Worlds, so wie sie sich der Münchner Öffentlichkeit beim Debüt präsentierten, waren zwar eine interessante, bereichernde Demonstration des noch jungen Mediums. Von Festival, Fest war aber nicht das Geringste zu spüren.
Und so eindrucksvoll Traveling While Black war: Mit anderen Menschen virtuell gemeinsam am Tisch gesessen zu sein, kann an dieser Realität nichts ändern.