Cinema Moralia – Folge 220
Wer Cannes, der kann |
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Cannes Marché: Jetzt »live« | ||
(Plakat: Festival de Cannes) |
»Neither you nor I can stop the march of time.«
Jean Renoir »La Grande Illusion«
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Das CNC, die französische Filmförderung macht es vor: Auf die Corona-Ausfälle reagiert man in Frankreich mit einem ausgeklügelten, intelligenten, wohlabgewogenen, aufeinander abgestimmten Programm, das den ganzen Bereich des Films und der Filmdistribution berücksichtigt, das keine Erbhöfe verteidigt und die Strukturen von gestern nicht konserviert, das nach vorne blickt und das überholte Grenzen und Grenzzäune einebnet.
Bedauerlich, dass man so etwas in
Deutschland nicht mal zur Kenntnis nimmt.
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»Ernstes, heiter verpackt« – so heißt der (unfreiwillig?) zynische Titel der neuesten Pressemitteilung der FFA, der beweist, dass die deutsche Filmförderanstalt auch nach Ende der Kinoschließungszeit in jenem geistigen Lockdown verharrt, in den sie sich selbst lange vor Corona hineinbegeben hat: Ideenlos, innerlich gelähmt, ohne Ehrgeiz, der Krise zu trotzen, ohne Phantasie, wie das geschehen könnte, wird halt Til Schweiger gefördert, der wird’s schon richten. Dessen
neuer Film-Titel, Die Rettung der uns bekannten Welt, ist längst erklärtes FFA-Programm.
Aber die Welt, die der FFA bekannt ist, hat nie existiert.
»Ernstes, heiter verpackt« ist zynisch, weil keinem, der gerade mit Film zu tun hat, nach dieser Art von heinzehrhardthafter Heiterkeit zumute ist, nach Schmunzelei angesichts des Ernstes der Lage. Und weil die FFA-Funktionäre, die im Gegensatz zu allen anderen sehr fest auf ihren 5000-Euro-Stühlen sitzen, mit so einer Formulierung außer ihrer grundsätzlichen Unsensibilität nur beweisen, dass ihnen auch das charakterliche Format fehlt, das in besonderen Situationen wie diesen nötig ist. Auch in Corona-Zeiten soll einfach weitergelacht und gekichert und geschmunzelt werden – dass Film aber auch zu etwas anderem gut sein könnte, als uns in Lachsäcke zu verwandeln und in die späten Fünziger, die Heinz-Ehrhardt-Kicherjahre zurückzuversetzen, dass Film den Menschen etwas zum Nachdenken, zum Aufwühlen, zum Sein-Leben-ändern, etwas Relevantes, nicht Eskapistisches geben könnte, kommt im FFA-Horizont gar nicht vor.
Sie betreiben lieber Kultur-Appeasement, reden die Lage schön. Dabei gilt schon längst: Leichen pflastern den Weg der FFA-Zombies. Ihre Jubelpresseerklärungen, ihr Optimismus-Gesabbel auf Zoom-Panels und ihre virtuellen Cannes-Partys finden auf den Gräbern pleitegegangener Produzenten, insolventer Kinos und stillgelegter Verleiher sowie ins Virtuelle ausgesetzter Festivals statt – die Förder-Funktionäre sind die Aasgeier, die über alldem kreisen.
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2,6 Millionen Euro vergibt die FFA für neue Filmprojekte und Drehbücher. Ein Fünftel davon diesmal nur an Til Schweiger: 560.000 Euro für die Geschichte von Paul, einem manisch-depressiven Teenager.
»Auch One for the Road, das neue Projekt des für Roadmovies bekannten Erfolgsduos Markus Goller und Oliver Ziegenbalg (Friendship!, 25 km/h) ist eine Komödie mit ernstem Hintergrund«. Dann gibt es in der FFA-Zuckertüte noch »Beziehungskomplikationen und sommerliche Stimmung auf Ibiza« (JGA – kurz für Junggesellinnen-Abschied von Alireza
Golafshan).
»Junggesellinnenabschied« – Pro Quote heißt: Auch Frauen dürfen dumme Sachen machen, sie müssen sich nicht mehr dafür entschuldigen. Frauen machen jetzt auch schlechte Filme.
Eine »lakonische Sommer-Komödie« von Marcus H. Rosenmüller, der seine beste Zeit auch schon lange hinter sich hat, ein Kinderfilm und als Feigenblatt der Dokumentarfilmer Stanislaw Mucha.
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Die Logik ist primitiv: Wer einmal Geld verdient hat, der wird auch das nächste Mal Geld verdienen. Und falls er es nicht tut, dann haben die Funktionäre, die das Geld verteilt haben, zumindest nichts falsch gemacht – sie haben auf ein erfolgreiches Pferd gesetzt. Filmförderung funktioniert eigentlich wie Pferdewetten. Das lerne daraus.
Aber anstatt in Kasse, genau gesagt: vermeintliche Kasse zu investieren, müsste man wahrscheinlich auch in Strukturen investieren und in die Kino-Kultur, in die Breite, also in die Erziehung des Publikums, nicht in einzelne Filme, ob die dann Kasse machen oder nicht.
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Ganz anders das CNC: Das »Centre national du cinéma et de l’image animée« hat ein hervorragendes Programm zur Hilfe in Corona-Zeiten verabschiedet. Dazu gehört: Auswertungsschranken sind aufgehoben. Wer schnell seine Filme ins Kino bringt, als Verleiher wie als Kinobetreiber bekommt extra Geld, um einen Film-Stau gegen Herbst zu vermeiden.
In den Kinos, die an diesem Mittwoch öffnen, wird jede Reihe besetzt, es gibt nur einen Sitz Abstand zwischen den Besuchern.
Weitere
Details folgen im nächsten »Cinema Moralia«.
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»Cancellation was never an option« – Cannes findet statt. Anders, schlechter und viel uninteressanter, als es sein könnte, aber immerhin: Während dieser Woche läuft eine online-Version des Cannes-Marktes, mit über 1000 Filmvorführungen, Panels und Branchenmeetings.
Wer sich das anschaut, erlebt zwar unglaublich viele Sabbel-Runden, aber das wäre auch der Fall, könnte Cannes wie gewohnt stattfinden. Auf Berliner (und Münchner?) Terrassen treffen sich diejenigen, die normalerweise vor einem Monat an der Croisette gewesen wären. Aber das sind Ausnahmen.
Ein Blick auf den Markt verrät: Die Deutschen raffen es einfach nicht. Sie glauben wirklich, dass Cannes nicht stattfindet. Eine Wunschvorstellung?
Über 300 Teilnehmer bei einem Panel, auf dem auch eine deutsche Produzentin sitzt, aber nur drei Deutsche unter den zuhörenden Teilnehmern.
Warum ist das so? Die reine Ignoranz. Die Macher sind nicht besser als die Kostgänger auf Funktionärsebene. Das Publikum ist nicht besser, als die, die sie mit Filmen bedienen sollten.
Die Produzenten und Verwerter haben die Funktionäre, die sie verdienen.
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Über den Kinofetischismus hat Lars Henrik Gass vor ein paar Wochen in einem gemeinsamen Gespräch für den Filmdienst Wichtiges und Grundsätzliches gesagt: Er spricht von einem »Kartell der Vergangenheit« und »einem kulturpolitischen Klima einer missverstandenen Cinephilie … einer Cinephilie, die Kinokultur langfristig dem Untergang zuführt. Die Fetischisierung von Kinokultur ist Teil des Problems. Weil sie nämlich nicht begreift, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Kino sich extrem verändert haben. Und dass es nötig wäre, undogmatisch zweierlei zu tun: Einerseits schnellstmöglich eine geregelte Musealisierung des Kinos auf höchsten Niveau einzuleiten, und auf der anderen Seite der kulturellen Praxis Kino die Chance zu geben, durch die Einrichtung von digitalen Kinosälen neue Geschäftsmodelle experimentell zu erproben.«
Damit beschreibt Gass das Entscheidende für die Zukunft der Kinos: Den Mittelweg einer Dauer-Verwaltung der Dauerkrise des Kinos zu verlassen, und sich nicht am langsam sterbenden Bestehenden festzuklammern.
Es geht nicht um Streamen ja/nein oder um Digital ja/nein, sondern um das Wie von beidem, um dessen Rahmenbedingungen und vor allem um Finanzierung.
Die Trägheit vieler Programmkinos verdient keine Förderung, sie schadet der Kinokultur so wie ideenlose Verleiharbeit, und auch zum Erhalt von Cineplexen ist der Hinweis auf viele Arbeitsplätze nicht genug.
Die Streaming-Dienste zahlen jetzt auch in die Filmförderung ein. Sie sind keine Außenseiter mehr, sie sind Teil des Systems. Man kann sie nicht länger ignorieren. Man kann nicht so tun, als hätten sie kein Recht mitzureden und mit dabei zu sein. Man kann sich auch nicht länger dummstellen, und so tun, als wäre Streaming das Andere des Kinos, als wäre Streaming einfach nur ein Feind des Kinos.
Streaming ist kein Verrat am Kino, sondern dessen Fortsetzung mit anderen Mitteln.
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Die Pandemie wird das Kino anregen zu allem außer zu Komödien. Die Pandemie wird zu Genrekino anregen, zu Seuchen- und Horrorfilmen, zu Filmen über Leere, zu Filmen ohne Handlung, über das Aushalten des Ausnahmezustands, zu Filmen über die bösen und schlechten Seiten der Polizei, zu Filmen über den Sinn des Lebens, zu Filmen über häusliche Gewalt.
Gut so. Das und vieles mehr brauchen die Menschen, braucht das Publikum. Aber die FFA kennt es nicht und verhindert es – weil keine
Kultur des Ermunterns herrscht.
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Man argumentiert jetzt gern mit der »Systemrelevanz« von Kultur, übernimmt damit ein neoliberales Framing.
Vielleicht wäre es besser, anstatt beleidigt zu reagieren, ganz offensiv damit umzugehen, dass Kultur eben nicht systemrelevant ist. Das belegt die augenblickliche Situation.
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Es ist immens wichtig, mit allen Illusionen aufzuräumen, die suggerieren, dass das Streamen und Zoomen und sonstige virtuelle Surrogate je das Kino ablösen und ersetzen könnten.
Nicht weniger wichtig ist es aber, die Illusion zu beenden, dass das Kino jenseits des Streamings existieren könnte und nur dort.
Alle Medien befinden sich in Wechselbeziehungen und sind aufeinander angewiesen Punkt sie sollten in einem partnerschaftlichen, einander ergänzenden Verhältnis existieren.
(to be continued)