Cinema Moralia – Folge 221
Erhellende Dunkelheit |
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Ostkreuz: Ein Filmfilm aus Berlin, 35mm, kommt auch von DVD gut | ||
(Foto: Filmgalerie 451) |
»I have some good news, for everyone: cinema is in crisis.«
Olivier Assayas, 2020»I’m fascinated by trash TV. The poet must not avert his eyes«
Werner Herzog, Guardian, 19.06.2020»Who explores the disparity between the open, free field of novel or modern-theatre writing and the narrow limits of the conventions governing the work of committees and commissions holding the power of life and death over cinematographic works? Not to mention series, whose standard-bearers seem all too happy to have a go at applying the tissue of conventions and platitudes from American screenwriting textbooks.«
Olivier Assayas, 2020
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Vor ein paar Tagen habe ich den fast 30 Jahre alten, ganz wunderbaren Film Ostkreuz von Michael Klier wiedergesehen. Nicht im Kino, sondern auf einer ganz normalen DVD, in guter Qualität zugegeben, herausgebracht von der »filmgalerie 451«, wo alle Werke Michael Kliers zu sehen sind. Ich war beeindruckt, wie gut sich dieser Film gehalten hat, der das Berlin unmittelbar nach dem Mauerfall als wüstes Land, eine Art Mondlandschaft zeigt: Futuristisch wie in einem Science-Fiction-Film, aber einem schmutzigen sowjetischen Science-Fiction-Film, Stalker oder Solaris zum Beispiel. Laura Tonke dazwischen wie ein Engel, die an einem fremden Ort, vielleicht unter der Erde oder im Himmel, überlebt hat, und jetzt nach Berlin gekommen ist. Tatsächlich ist dieser Film eine Art Brückenstein zwischen Wenders' Der Himmel über Berlin, den man genauso als Film über eine Mondlandschaft beschreiben könnte, und Lola rennt neun Jahre später. Auch dort steht eine Frau im Zentrum, die sich durch Berlin bewegt, die selbstbewusst ist und zugleich seltsam distanziert von dem Geschehen um sie herum.
Aber was das eigentlich Erstaunliche für mich am Wiedersehen mit »Ostkreuz« war, das war die extrem gute Qualität dieses Films: Auf 35 Millimeter gedreht, mit oft nur natürlichem, manchmal aber auch wohlgesetztem künstlichen Licht von der Kamerafrau Sophie Maintigneux, ist dies einfach ein extrem schöner Film, der manchmal Momente hat, die den Betrachter einfach nur glücklich machen.
Diesen Film zu sehen, inmitten der Debatte, die gerade geführt wird zwischen denjenigen, die scheinbar nach wie vor ernsthaft und wie ich finde ein bisschen übertrieben nostalgisch glauben, Kino könne nur ausschließlich im Kino selbst stattfinden, und anderen, die scheinbar enthusiastisch das Kino in die virtuellen Welten des Streaming verlagern wollen, diesen Film gerade jetzt zu sehen, und davor und danach die Texte der Freunde und Bekannten zu lesen, hat einen besonderen Effekt. Denn auf der einen Seite zeigt Ostkreuz, dass der analoge, auf 35mm Millimeter gedrehte Film eine Schönheit hat, eine Intensität, eine Lebendigkeit und ein Leuchten, das nur dieses Material haben kann, und das von digitalen Bildern noch lange nicht eingeholt werden wird. Auf der anderen Seite erlebte ich, dass man diese Schönheit auch noch erfahren kann, wenn man einen Film einfach auf DVD und auf einem halbwegs guten Flachbildschirm sieht. Sofern der Film gut ist.
Dann sieht man die Differenz zwischen 35mm und Digital-Material sofort. Es kann keinen Zweifel geben: Auch der Laie wird sie sehen. Und ich bin überzeugt, dass auch der Laie vielleicht nicht genau weiß, warum, aber doch empfinden wird: hier ist etwas nicht nur anders, hier ist etwas schöner und besonders gegenüber dem flachen toten Digitalbildwelt. Um diese Erfahrung geht es. Um keine andere. Und alles, was diesen Erfahrungen dient, ob digitales oder analoges Material, ob dunkler Kinosaal oder flacher Bildschirm, ist erst einmal sekundär und Mittel zum Zweck der Erfahrung.
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Viel zu lange haben wir gewartet. Jetzt geht es endlich wieder los: Die Kinos machen auf! Auch in Berlin und Brandenburg, nachdem sie im größten Teil der Republik – sogar im Sonderweg-Land Bayern – schon längst geöffnet sind.
Die Kultur, man muss das noch einmal sagen, wurde als erstes zugemacht und als letztes wird sie jetzt wieder geöffnet. Aber immerhin sie wird geöffnet. Nachdem Anfang März die Kinos zur Schließung gezwungen worden und dreieinhalb Monate lang Unkosten angesammelt haben, ohne Geld verdienen zu können, nachdem sich so nicht nur die Schulden gestaut haben, sondern auch die Filme, auch die Ungeduld des Publikums und der Filmemacher, auch der Hunderttausende, die von der Filmindustrie
leben, nachdem all das geschehen ist und nur mehr oder weniger schlechte Streams mit heruntergerechneten Datensätzen die Kinoerfahrung mehr schlecht als recht ersetzen mussten, ist es endlich so weit.
Aber besser spät als nie – darum wollen wir heute nicht meckern, sondern uns freuen.
Wir freuen uns auf ein paar Filme die lange aufgeschoben, jetzt endlich bald ins Kino kommen: Zum Beispiel Berlin Alexanderplatz – die Aktualisierung des berühmten Döblin-Romans, die im Berlin der Gegenwart spielt, auf der Berlinale ein Renner war, und fünf deutsche Filmpreise gewann – ein Wahnsinnsfilm.
Und noch wahnsinniger im besten Sinn wird bestimmt Tenet – der Hollywood-Renner des Sommers. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn dem britischen Kinomastermind Christopher Nolan hier nicht wieder ein Geniestreich gelingt. Der Trailer verrät nicht viel, aber zumindest eines: in großartigen eleganten Bildern gerät die Welt und die Ordnung der Dinge aus den Fugen.
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Dies sind nur zwei von vielen Filmen, die beweisen werden: es gibt Dinge, die muss man auf großer Leinwand im Kino sehen, in der erhellenden Dunkelheit eines großen Saals, gemeinsam mit anderen, fremden Mitmenschen.
Das Kino an sich, ein Ort der Kunst und des Sozialen, jene 125 Jahre alte Kulturtechnik, ist durch keinen noch so ruckelfreien Stream und noch so flachen Flachbildschirm zu ersetzen – das erfährt jeder, der sich nur einmal hineinfallen lässt. Wer einmal einen richtigen Film, nicht digital, sondern auf Celluloid gedreht, gesehen hat, weiß, was gemeint ist: echte Filme sehen auch auf DVD besser aus.
Wir freuen uns auf die erhellende Dunkelheit. Darauf, endlich wieder mitten in der Sommerhitze in einem kühlen Kinoraum sitzen zu können. Endlich wieder inmitten blendend-gleißendem Sonnenlicht uns in die Dunkelheit flüchten zu können. Eine Dunkelheit, die die Phantasie anregt, und die Sinne.
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Die wahre Dunkelheit des Kinos ist aber nicht einmal der dunkle Kinoraum selbst, sondern es ist das Schwarz zwischen den Bildern.
Kino, das sei »Wahrheit 24 Mal in der Sekunde«, hat der französische Filmemacher Jean-Luc Godard gesagt. Aber Kino – das ist auch Dunkelheit 24 Mal in der Sekunde. Denn kurz zwischen den Bildern ist die Leinwand schwarz. 24 Mal in der Sekunde klappt zu, wie unser Augenlid kurz zuklappt, um sich zu erholen, um zu phantasieren und zu träumen
(zumindest war dies in der Analogbild-Projektion genau der Fall).
Kino, das ist nämlich mehr als alles andere Traumfabrik und Ort der Fantasie. Es ist ein Assoziationsraum, ein Raum, in dem wir frei unsere Gedanken schweifen lassen können, unsere Gefühle, in der wir auch an Dinge denken können, Gelüste und Ängste, wohlige Gefühle und schlimme, ausleben können, ein Ort, an dem wir lachen und weinen.
Das alles geht jetzt wieder los. Wie schön!
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Die digitale Welt sei ein fabelhafter Ort, erklärt Werner Herzog im britischen Guardian, »nervenaufreibend und gefahrenbehaftet, zugleich erfüllt mit Möglichkeiten«.
Nur dank der digitalen Techniken könne er seine Filme zu Zuschauern in Afrika und Asien streamen und Tausende könnten die Filme sehen,
obwohl dort die Filmtheater alle geschlossen sind – dank des Digitalen. Nur dank der digitalen Techniken könne er eine E-Mail von einem Studenten in Montana bekommen und innerhalb von weniger als einer Minute auf die Frage antworten. Dank der digitalen Techniken könne er dem »Guardian« ein Interview über Skype geben, das 5000 Meilen Distanz überbrückt – »das ist wundervoll!«, schreit er, »wundervoll, wundervoll!!«
Und dann erzählt er vom Internet. Dort lebe er die Leben von
20 oder 30 verschiedenen Herzogs. Alle seien Hochstapler, andere, die sich als »Werner Herzog« ausgeben: »Wenn sie mich auf Facebook oder Instagram und Twitter finden, dann ist es in jedem Fall Betrug, eine erfundene Persona. Einige davon sind großartig, einige sind richtig idiotisch, einige sehr durchschnittlich.«
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Den neuen Film von Herzog kann man an diesem Freitag – nur an diesem Freitag – auf Mubi kostenlos sehen und gleich auch noch an einem Regiegespräch mit Herzog teilnehmen. Nach Anmeldung.
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Heute morgen habe ich einen Kasten »Spreequell«-Mineralwasser gekauft. Erst zu Hause merke ich, dass oben drauf auf dem Deckel jeder Flasche »Kinoticket im Deckel« steht. Zusammen mit einem roten Kleeblatt-Symbol. Nichts gegen zu sagen. Spreequell ist keine Trash-Marke. Solche Marketingmaßnahmen wurden wahrscheinlich von einem öffentlich gut unterstützten Kinoverband ins Leben gerufen wurden, um die »Lust am Kino« zu fördern. Unvorstellbar ist es allerdings, dass auf der
Spreequell-Flasche stünde: »Opern-Ticket in Deckel« oder »Theater-Ticket im Deckel«. Genauso unvorstellbar allerdings ist die Aufschrift: »Hertha-Ticket im Deckel« oder »Union-Ticket im Deckel«. Fußball und Oper – nein, das eine ist ein breites Unterhaltungs-Vergnügen, das andere ein elitäres Repräsentations-Ding.
Interessant war schon, wie sich die armen Kinos so wahnsinnig wehrten, während der Pandemie mit den Bordellen behördlich auf eine Stufe gestellt zu werden, und
dagegen polemisierten, dass die Fußball-Bundesliga früher öffnen durfte als das Kino – allerdings hätte Kino ohne Zuschauer ja auch weniger Sinn gemacht, und gestreamtes Kino hätte wieder andere auf die Palme gebracht… aber das ist eine Debatte, die wir jetzt nicht führen wollen – dabei ist doch das Kino auch ein Vergnügungsbetrieb, und könnte froh sein, wenn ähnlich viele Leute ähnlich viel Geld fürs Kino bezahlen würden, wie für Bordelle oder
Fußball.
Bemerkenswert war die Empörung, mit der noch das sozial-neidische Argument dazu kam, beim Fußball würde es sich doch um Millionäre handeln, die hier subventioniert würden, und unausgesprochen dazu: Bei den Kinobetreibern handle es sich dagegen doch um arme Leute.
Es gab einmal eine Zeit, da waren Kinobetreiber noch Millionäre. Sie konnten sich Villen in Grünwald leisten, und ich kenne aus allererster Hand Geschichten über die legendäre Ilse »Kuba« Kubaschewski (1907-2001), die, was es heute auch nur noch selten gibt, Kinobetreiberin und Produzentin war, und eine mächtige Frau in der deutschen Filmlandschaft zu einer Zeit, als die meisten heutigen Proquote-Frauen noch gar nicht auf der Welt waren. Junge Männer wurden von »Kuba« auf die
Besetzungscouch gebeten, und es hieß, sie würde darüber entscheiden, wer ein Star wird. Das waren mal Kinobetreiber in Deutschland.
Natürlich ist heute alles besser. Es gibt keine Kubaschewski mehr, keine Besetzungscouch, dafür Pro Quote und das Wort Missbrauch.
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Dem Kino geht es nicht schlecht. Denn es ist in der Krise. Und dieser Zustand ist produktiv.
Eine wunderbare, sehr hörenswerte Masterclass hat der französische Regisseur Olivier Assayas jetzt gegeben: »I have some good news, for everyone: cinema is in crisis. Which is hardly news, in a way, for it has continuously been in crisis throughout its existence. It is not a sign of future danger either – the future is an enigma, and it takes a lot of irresponsibility to speculate about it.«
Assayas plädiert für etwas, nicht gegen etwas. Er plädiert für ein Kino der permanenten Neuerfindung und Neudefinition, der permanenten Revolution. Kino habe heute die Verbindung zwischen Praxis und Theorie verloren, es sei »der Fehler einer Generation« gewesen, das Reflektieren über Film zu akademisieren, »lebendige Theorie« sei zu einer »toten Ideologie« geronnen.
An diesem Punkt fängt Assayas erst an. Hört es Euch an, die Argumente könnte ich hier nur schlechter rekapitulieren, als Assayas selbst. Ich finde jedenfalls, er hat komplett recht in seiner Verabschiedung der Nostalgie. Und dass dies zum Besten gehört, das in den letzten Jahren übers Kino gesagt wurde.
(to be continued)