Cinema Moralia – Folge 235
Kino=Bildung=Kino |
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Vor voreiligen Schlüssen wird gewarnt. Vor voreiligen Schüssen auch: La Chinoise | ||
(Foto: Austin Film) |
»Are those your own words or a quotation?« – JLG: »I think it‘s a quote, but now to me quotes and myself are almost the same. I don‘t know who they are from; sometimes I‘m using it without knowing.«
By repeating a quotation, in a sense you are saying it. – JLG: »It has to have something to do with me, but I don‘t know what exactly. It‘s like a color, but with words.«
Jean-Luc Godard, Interview im »Filmcomment«, 1996
Überall in Filmkritiken und in wissenschaftlichen Arbeiten wird der Satz »All you need to make a movie is a girl and a gun« Jean-Luc Godard zugeschrieben. Dieser Satz ist aber außer Godard auch noch Otto Preminger und Francois Truffaut zugesprochen worden und es ist eigentlich wirklich egal, ob Godard ihn nun zuerst gesagt hat. Er könnte ihn jedenfalls gesagt haben. Und er hat ihn auch gesagt, aber möglicherweise eben auch nur zitiert, 1964 im französischen Presseheft zu Bande à part.
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»Mais c'est Griffith qui a dit ça, ce n'est pas moi« – JLG
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Oft genug in den Filmen von Godard hat eine Frau auch tatsächlich eine Pistole in der Hand, und es ist nicht gesagt, dass sie irgendwann erschossen wird. Vor voreiligen Schlüssen wird gewarnt. Vor voreiligen Schüssen auch.
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Es gibt aber auch noch einen zweiten schönen klassisch gewordenen Satz von Godard, und der heißt: »Es geht nicht darum, politische Filme zu machen, sondern es geht darum, politisch Filme zu machen.« Dieser sehr kluge, auch oft zitierte Satz gibt auch die Antwort auf Godards Verhältnis zu Frauen und zur Frauenbefreiung. Man könnte ihn nämlich auch umformulieren und könnte ganz im Sinne von Godard sagen: Es geht nicht darum, feministische Filme zu machen, sondern es geht darum, feministisch Filme zu machen – und das hat Godard tatsächlich schon getan zu einer Zeit, als es den Ausdruck Feminismus kaum gab.
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»Vous posez-vous vraiment ces questions, ou le font-ils juste pour survivre, pour jouer le jeu, comme à la télévision?« – JLG
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»Mank«, Herman Mankiewicz, Bruder des Regisseurs Joseph L. Mankiewicz, war ein bekannter und erfolgreicher, wenn auch etwas aus dem Tritt geratener Drehbuchautor des legendären Hollywood-Studios RKO. Als Orson Welles seinen ersten Film machte, stellte man ihm mit Mankiewicz einen erfahrenen Könner zur Seite. Das Ergebnis war Citizen Kane, eines der berühmtesten Werke der klassischen
Studio-Ära Hollywoods, und für viele bis heute der beste Film der Filmgeschichte. Allemal einer der sagenumwobensten und von vielen Anekdoten und Unklarheiten umrankten. Unter anderem umstritten ist, welchen Anteil Welles überhaupt bereits am Drehbuch hatte.
In Mank erzählt David Fincher nun mit interessanter Besetzung – Gary Oldman, Amanda Seyfried, Lily Collins,
Newcomerin Tuppence Middleton und Tom Burke – seine Version der Geschichte. Sie ist nicht schmeichelhaft für Welles, dafür um so gnädiger mit Mankiewicz. Aus dessen Leben gegriffen setzt sich Citizen Kane hier in seinem Hirn und vor den Augen der Zuschauer zusammen – zugleich erscheint Mank 2020 überaus aktuell in seinem Bild einer USA, in der die Exzesse der Oberschicht mit der Korruption einer ganzen Gesellschaft und dem Größenwahnsinn einzelner Superreicher einhergehen. Hollywood lieferte dazu »Pomp & Circumstances« – umso schlimmer, wenn es wie in diesem Fall nicht spurte, und gar einen seiner reichen Gönner anging.
Es ist Finchers erste Kinoarbeit seit Gone Girl vor über sechs Jahren. Ein Herzensprojekt bereits seit über 20 Jahren. Doch auch 1997, direkt nach Se7en und The Game und im Ruf, das größte Jung-Genie seiner Generation zu sein, erlaubte man ihm keinen Schwarzweißfilm. Es musste erst
Netflix kommen, um diese anspruchsvolle Feier künstlerischer Kreativität, die mehr ist als nostalgische Beschwörung alten Hollywood-Zaubers und Nerd-Kult für Cinephile, doch noch möglich zu machen.
Am 4.12. werden wir den Film sehen.
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»Es macht keinen Unterschied, ob man mit Buntstiften, mit Aquarellfarben oder mit Ölfarben arbeitet. Was ich am Video gemocht habe, war das Selbstgemachte, die Tatsache, dass man selbst Dinge ausprobieren kann... Kino nannten wir die Filme, die wir nicht sehen konnten, Kino war das Unsichtbare. Erst dann ist es zu einer ästhetischen Metapher geworden...« – JLG
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Nächste Woche, am 3. Dezember, wird Jean-Luc Godard 90 Jahre alt. Der Lockdown ist eine ganz gute Gelegenheit, sich Filme von ihm (wieder?) anzusehen, oder ein paar seiner unverwechselbaren Interviews nachzulesen.
Früher wären die Godard-Filme in einer Reihe im Fernsehen gelaufen.
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Bitte um genaue Formulierung: Die Kultur ist nicht, wie es gern heißt, »von der Pandemie betroffen«. Es ist von den Maßnahmen der Regierung betroffen. Maßnahmen, gegen die es sehr viele Argumente gibt, und die keineswegs alternativlos sind.
Es ist wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen: Andere Länder machen es anders. Manche sind strenger, manche sind weniger streng. Keiner der möglichen Wege, auch nicht der deutsche, hat sich bisher als eindeutig der beste entpuppt.
Die
Politik muss zur Kenntnis nehmen, wie viel Aufwand in den Kulturbereichen betrieben wurde. Aber die Kultur spricht nicht mit einer Stimme, und die Kultur, also wir alle einzelnen Angehörigen der Kulturbereiche, kämpfen bisher nicht für uns selber. Bestimmt weil wir uns zu fein dafür sind. Wahrscheinlich auch, weil wir insgeheim uns selber auch nicht ernst nehmen, weil wir insgeheim sowohl der zynischen Aussage zustimmen, Kultur sei nicht systemrelevant, als auch der ganzen Härte und
Übertriebenheit der Pandemie-Eingrenzungsmaßnahmen.
Aber wenn einen das alles so stört, dann muss man eben auch etwas tun, dann muss man sich um Alternativen bemühen. Dann muss man eine Gewerkschaft gründen. Dann sollte man vor allem die Parteien nicht wählen, die diese Politik machen. Und von wegen Alternative: Es gibt viele Alternativen zur AfD – als Plädoyer für diese sogenannte Alternative sollte man diese Anmerkungen also keineswegs verstehen.
Dies nur für
alle, die missverstehen wollen.
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»Von großer Bedeutung ist für mich ... die Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG. Kunst und Kultur sind Ausdruck des menschlichen Daseins. In ihrer Vielfalt bereichern sie unser Leben, prägen unsere kulturelle Identität, leisten einen Beitrag zu gesellschaftlichem Zusammenhalt sowie zur Integration und schaffen Freiräume für kritischen Diskurs. Wenn wir ihre Freiheit schützen, können sie auch unbequem sein. Als kritisches Korrektiv einer lebendigen Demokratie bewahren sie uns vor Lethargie und vor neuerlichen totalitären Anwandlungen.«
Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien bei der Bundeskanzlerin
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Trotz solcher Worte steht im Grundgesetz weder ein Recht auf Kunst, noch auf Kultur, noch auf Bildung. Es gibt Wege, dies verfassungsrechtlich ins Grundgesetz hineinzuinterpretieren, doch schöner wäre es, wenn dies gar nicht nötig wäre.
Noch vor den nächsten Wahlen wird das Grundgesetz geändert. Der Begriff »Rasse« soll gestrichen und durch einen besseren Begriff ersetzt werden – dafür gibt es bestimmt auch gute Gründe.
Aber wäre dies nicht eine prächtige
Gelegenheit, auch noch Kunst, Kultur und Bildung ins Grundgesetz aufzunehmen?
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»Film als Kunstform, soziale Praxis und diskursprägendes Medium muss kulturpolitisch den Stellenwert bekommen, den er gesellschaftspolitisch und historisch erfüllt.«
Zur Filmbildung – Positionspapier des Hauptverband Cinephilie
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Der Hauptverband Cinephilie hat ein Positionspapier zum Thema Filmbildung veröffentlicht. Voller Anregungen und guter Gedanken, bietet es eine Grundlage, auf der dieses unentbehrliche Thema hoffentlich auch auf die Agenda der Politiker – und zwar der Kulturpolitiker wie der Bildungspolitiker gesetzt wird.
In Anschluss an verschiedene Veranstaltungen und Treffen des letzten Jahres, unter anderem ein gemeinsames Colloquium bei der »Woche der Kritik«, wird hier das oft unterschätzte Potential von ästhetischer Filmbildung für die Zukunft der Filmkultur und des Kinos herausgearbeitet. »Beim Vorhaben, Filmkultur als ein Feld gesellschaftlicher Praxis nachhaltig zu gestalten, ist die Filmbildung von zentraler Bedeutung.«
Weiter heißt es: »Die Rede von einer Krise des Kinos ist alles andere als neu, hat in einem Jahr der Pandemie-bedingten Einschränkungen und Schließungen aber eine neue Aktualität erfahren. Jenseits von Zahlen und Bilanzen gilt es nun festzuhalten, was Filmkultur bedeutet und wie sie inhaltlich und strukturell Stärkung erfahren muss. Ein Einsatz für die Filmbildung bedeutet auch ein Engagement für die Zukunft derjenigen Kunstform, die das 20. und das 21. Jahrhundert so stark prägte wie kaum ein anderes Medium und die seit ihrer Entstehung untrennbar mit dem Zusammenkommen von Menschen an einem konkreten Ort verbunden ist: dem Kino.«
Hier kann man das Papier nachlesen.
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»Ich ziehe manche Artikel aus der ›Equipe‹ über ein Tennismatch, das ich in Wirklichkeit oder im Fernsehen verfolgt habe, gewissen Filmkritiken vor, weil diese Artikel zumindest das Match nacherzählen: Dieser Vorhandschlag ging so über das Netz, usw. Die Filmkritiker schreiben das, was Sie möchten, das man von dem Film denkt. ... Wenn Rivette vom ›Travelling‹ in ›Kapo‹ spricht, beschreibt er schlicht und einfach, genau wie Thukydides den Krieg im Peloponnes beschrieben hat. Diese Dimension ist verschwunden; man sieht den Film nicht mehr.
Wenn Sie behaupten, dass etwas ›gut‹ ist, dann müssen Sie mir das erst zeigen, denn a priori glaube ich Ihnen nicht. Wenn Sie sagen, dass der Film ›interessant‹ ist, dann sind Sie selbst vielleicht interessanter, als der Film.« – JLG+ + +
One Second, der neue Film von Zhang Yimou, wurde vom »Golden Rooster and Hundred Flowers Film Festival« in China wieder »abgezogen«, wo er als Eröffnungsfilm einen Ehrenplatz erhalten hatte. Wieder einmal scheint die politische, nun ja: Sensibilität gegenüber historischen Ereignissen zu dieser Entscheidung geführt zu haben.
Zhangs Film spielt in den 1960er Jahren und schildert die Freundschaft zwischen einem entflohenen Gefangenen und einem Waisenmädchen. Sie stiehlt eine Wochenschau-Filmrolle, in der die »eine Sekunde« des Titels, eine Sekunde des Filmmaterials zu sehen ist, das der Mann unbedingt sehen will. Zhang hatte die Geschichte als seine Hommage an das Kino beschrieben. Der Film spielt während der Kulturrevolution von 1966-76, als Intellektuelle und Mittelschichten, darunter auch die
Familie Zhang Yimous, dessen Vater ein Ex-Offizier der (im Bürgerkrieg unterlegenen) Kuomintang gewesen ist, zur Umerziehung aufs Land geschickt wurden. Die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der Kulturrevolution bleiben ein brisantes Thema in China.
Informationen über »Eine Sekunde« und ihre Folgen für den Golden Rooster erschienen zuerst in einem »Weibo«-Beitrag von Zhangs Frau. Festival-Quellen bestätigten die Nachricht anschließend in einem kurzen Posting.
Dies ist das zweite Mal, dass One Second von den chinesischen Behörden von einem prominenten Platz bei einem großen Festival abgezogen wurde. Im Februar 2019 wurde er kurzfristig von den Berliner Filmfestspielen entfernt, wo er im Wettbewerb laufen sollte. Es ist auch das zweite Jahr in Folge, dass dem Golden Rooster Festival sein Eröffnungsfilm kurzfristig abhanden kam. Letztes Jahr wurde Saturday Fiction von Lou Ye am Tag vor der Eröffnung aus dem Programm genommen. Der Gong Li-Film ist in China noch immer nicht in die Kinos gekommen, obwohl er letztes Jahr bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere hatte und auf mehreren anderen Herbstfestivals in Europa lief.
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»La censure, cette gestapo de l’esprit.« – JLG
(to be continued)