Cinema Moralia – Folge 237
Godard in einfacher Sprache? |
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Weniger optimistisch in Bezug auf den Geschmack der Programmverantwortlichen stimmt der Blick in die ARD-Mediathek, etwa auf Liebe Ohne Minze (2011) | ||
(Foto: hr/Degeto/Rainer Gutjahr) |
»Ich liebe den Traum, auch wenn die Träume Alpträume sind, was bei mir meistens der Fall ist. Immer sind sie durchsetzt mit Hindernissen, die mir schon vertraut sind. Das ist mir egal. (...) Es heißt, daß sich das Gehirn während des Schlafes gegen die Außenwelt schützt, daß es dann viel weniger empfindlich ist gegen Geräusche, Gerüche, Licht.«
Luis Bunuel»Ich will nicht mehr so empfindlich sein«
Brigitte 4/2008
Triggerwarnung: Dieser Text ist nicht geeignet für überempfindliche Leute, für Netflix-Jünger, wohlerzogene Lockdown-BefolgerInnen und Fans der deutschen Filmförderung.
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»Dieses Programm ist nicht geeignet für Kinder, Jugendliche oder empfindsame Zuschauer.« – die neue Mode – und es ist eine Mode liebe Freunde, nicht mehr als das, und sie wird wieder verschwinden wie jede Mode! – die neue Mode der Triggerwarnungen ist absurd.
Schon allein, dass man hier in der ARTE-Formulierung Kinder und Jugendliche mit – wie sagen wir heute? – besonders herausgeforderten Zuschauern gleichsetzt. Die Empfindsamkeit, die hier
gemeint ist, hat nichts mit dem alten Gebrauch des Wortes zu tun. Empfindsamkeit war dagegen mal ein ehrenwerter Begriff der klassischen und dann frühromantischen Ästhetik.
Gemeint ist eigentlich Überempfindlichkeit und Hysterie. Überempfindlich und hysterisch sind gerade Kinder und Jugendliche aber ganz und gar nicht. Und diejenigen Zuschauer, die mit dieser Empfindsamkeit gemeint sind, die sollten am besten überhaupt nicht ins Kino gehen und keine Filmkritiken lesen,
denn das wird sie alles nur überfordern. Aber sie sollten auch normale Menschen nicht mit Triggerwarnungen belästigen.
Warum es trotzdem bei ARTE steht, ist vermutlich vor allem der Furcht, es mit Shitstorms irgendwelcher Lobbygruppen und ihrer Empfindsamkeitsbeauftragten zu tun zu bekommen. Auch das unterscheidet ARTE von artechock: Wir freuen uns auf Shitstorms, wir können den zusätzlichen Netztraffic und Bekanntheit gerade in Lockdown-Wochen gut gebrauchen. So wie
Abos und Spenden anlässlich unserer großen Weihnachtspendenaktion!
Neulich habe ich solch' eine Triggerwarnung auch im Radio gehört, zu einer ganz normalen Tageszeit vor einem ganz normalen Bericht über politische Übergriffe in einem fernen Land. Wäre man konsequent, dann müsste man vor jeder Nachrichtensendung eine Triggerwarnung einsetzen. Wäre mein konsequent und würde alles zu Ende denken, dann müssten wir noch vor ganz anderer Kunst Triggerwarnungen einsetzen.
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Gesehen habe ich diese Triggerwarnung ausgerechnet zu Beginn von Jean-Luc Godards letztem Film Le livre d’image, der gerade in der ARTE-Mediathek zu sehen ist. Dankenswerterweise. Trotzdem: Wie ich Godard kenne, würde er das verboten haben, und hätte außerdem für diesen Text den ARTE-Verantwortlichen das Mittagessen auf die Spitzendecke gekotzt, so wie Herman Mankiewicz aufs Parkett von William Randolph Hearst in David Finchers neuen Film Mank.
Man braucht kein Netflix. Wenn man nicht unbedingt gerade schnellstmöglich Mank sehen möchte.
Denn auch die öffentlich-rechtlichen Sender kübeln gerade jetzt, vielleicht auch extra zu den Lockdown-Wochen ihre Mediatheken mit Filmen voll, die eigens fürs Kino entstanden sind.
So zeigt ARTE zur Zeit »Lost in Translation«, aber auch – klarerweise mit Triggerwarnung – Gute Manieren, einen modernen Werwolf-Film aus Brasilien, der sich unbedingt lohnt. Zwar alles leider wie immer nur auf Deutsch, also nicht als Originalversion mit Untertiteln, so wie wir es im Kino sehen würden, aber immerhin und besser, als der meiste Schrott, der
woanders im Fernsehen läuft. Auch bei den Streamern.
Sogar das Remake von Mädchen in Uniform mit Romy Schneider lohnt einen zweiten Blick.
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Weniger optimistisch in Bezug auf den Geschmack der Programmverantwortlichen stimmt der Blick in die ARD-Mediathek.
»Linda geht tanzen«; »Liebe ohne Minze«; »Liebe Zartbitter«; »Nichts als Ärger mit den Männern«; »Die Braut meines Freundes«; »Ein Schritt zuviel«; »Mit einem Rutsch ins Glück«; »Vater braucht eine Frau«; »Mein süßes Geheimnis«; »Vollweib sucht Halbtagsmann«; »Plötzlich Opa« – dies die Filmtitel aus der ARD Mediathek an nur vier Tagen im November. Es wird auch im Dezember nicht besser.
Ein Psychogramm.
Wer solche Filme guckt, muss zum Querdenker werden.
Immerhin gibt es dort auch noch Die Blechtrommel von Schlöndorff, Mephisto von Istvan Szabo (morgen auch im »linearen Fernsehen« – liebe Kinder: Das ist, wie Fernsehen früher mal war), und Le mépris/Die Verachtung von Godard. Sogar ohne Triggerwarnung. Dafür hoffentlich mit einer Fassung in einfacher Sprache.
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Die Polizei – es muss offenbar erst Jan Böhmermann kommen, damit man bei uns mal anders über die Polizei nachdenkt. Wie ist denn das Bild der Polizei im deutschen Kino? Eine Hausaufgabe für die Harter-Lockdown-Wochen.
Im französischen Film, im italienischen, und auch im amerikanischen Film trotz all der offenkundigen Probleme der US-amerikanischen Gesellschaft, ist dieses Bild weitaus kritischer als das bei uns.
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Was sind uns die Kinos wert? Gemeint sind jetzt nicht die großen Kommerz-Kinos, die Cineplexe und Riesensäle. Sondern die oft kleinen, meist feinen, in jedem Fall wohl-kuratierten Programmkinos, Filmkunsthäuser, und Kommunalen Kinos.
Hier laufen keine Superhelden-Filme, hier pflegt man die Filmgeschichte und den Autorenfilm, zeigt Filmreihen über bestimmte Regionen oder eine Retrospektive über das Gesamtwerk eines Regisseurs.
Die Bundesregierung allerdings siedelt diese Orte irgendwo zwischen Bordell und Freizeitpark an – dieser Aspekt der jüngsten Corona-Verordnung hat in der Filmszene für großes Unverständnis gesorgt.
Hat sich denn gar nichts geändert seit Kaisers Zeiten, als das Kino eine Jahrmarktsattraktion war? Offenbar ist es nötig, erneut um den kulturellen Stellenwert von Film und Kino innerhalb der Gesellschaft zu diskutieren.
Denn es geht um mehr, als um Corona und eine gekränkte Branche: »Das Kino und die Krise der Öffentlichkeit« – so hieß der größere Bogen der diesjährigen BKF-Jahrestagung.
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»Bundesverband Kommunale Filmarbeit«, kurz BKF genannt – das klingt sehr funktional und etwas altmodisch. Gemeint ist der Zusammenschluss der rund 150 kuratierten Programmkinos, unabhängigen Filmkunsthäuser und Kommunalen Kinos – von denen allerdings noch gerade mal ein Viertel auch tatsächlich kommunal finanziert wird!!
Einmal im Jahr trifft sich dieser Verband zum Bundeskongress, um filmpolitische Fragen zu debattieren – diesmal am Wochenende
in Nürnberg, aber natürlich Corona-bedingt vor allem online.
Um Corona ging es auch, aber das Thema war weiter gesteckt: »Das Kino und die Krise der Öffentlichkeit« – so hieß der größere Bogen und in Diskussionsrunden und Gesprächsvorträgen wurden diese Themen entfaltet, mit zum Teil prominenten Gästen wie dem Filmregisseur Edgar Reitz, der über die Versöhnung klassischer Zelluloidtechniken mit digitalen sprach; die Filmhistorikerin Heide Schlüpmann mit dem Film-
und Kulturkritiker Georg Seeßlen.
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Dass sich die Öffentlichkeit verändert, das war schon vor Corona fast eine Binsenweisheit. Vom »Strukturwandel der Öffentlichkeit« und »Verfall des öffentlichen Lebens« sprechen Zeitdiagnosen schon seit Jahren.
Statt einem offenen Ort freien, gleichen und diversen Austauschs, der durch Medien gegensätzliche Standpunkte miteinander vermittelt, und in dem das bessere Argument gewinnt, ist dieser Raum fragmentiert zu einem Mosaik aus lauter kleinen Filterbläschen
heruntergekommen, die entweder alle für sich aneinander vorbei reden, oder einander besiegen wollen.
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Räume, also auch Kinos, sind politische Programme. Das ist ein Zentralgedanke der Wiener Kino-Architektin und Stadtplanerin Gabu Heindl, die 2013 das Wiener Stadtkino im Künstlerhaus als aktiven, bespielten Innen- und Außenraum neu geplant und den Umbau geleitet hat, mit dem Ziel einer radikalen Demokratisierung des Kinos als öffentlichen Ort, der immer neu zu erkämpfen ist.
Fragt man nach der konkreten Lage der Kinos, ergibt sich, ein differenziertes Bild von den Nöten der vielgestaltigen kommunalen Kino-Szene, in der schon vor Corona prekäre Arbeitsbedingungen, aber auch Mut und Einfallsreichtum weit verbreitet waren.
Klar scheint zu sein: Das Kino und die Filmbranche wird sich komplett neu erfinden müssen. Zwar ist der Ort Kino ein sicherer Raum, auch in der Pandemie, aber Auswertungsstrategien verändern sich.
Eine bestimmte Form der Filmpräsentation und der Filmwahrnehmung sind das Alleinstellungsmerkmal der Kinos. Es geht nicht allein darum, Filme zu schauen, sondern um die einzigartige Kino-Erfahrung.
Auch hier wird Corona zum Katalysator von Entwicklungen, die älter sind. Der Öffentlichkeit geht es auch um Teilhabe. Die zentrale Frage ist die des Verhältnisses von Filmkultur und Filmwirtschaft; von Kommerzialisierungsnot und öffentlicher Teilhabe.
Es ist an der Zeit, sagen die Vertreter des Bundesverband kommunale Filmarbeit, dass die Kinos als gleichberechtigte Einrichtung anerkannt werden wie die Oper oder das städtische Theater. Denn Kinos sind demokratische Grundversorgung, sie erfüllen eine wichtige gesellschaftliche und politische Funktion.
Viele Kinos erweitern in der aktuellen Krise ihr Angebot um virtuelle Kinosäle im Netz. Das hat nicht nur Vorteile. Aber es geht auch nicht nur ums Geld, sondern darum, das Angebot zu erweitern.
Die Pandemie hat den »digital turn« extrem vorangetrieben. Eine Kritik der Digitalisierung ist dringend nötig: Denn digitale Produktionen wirken eher auf der inhaltlichen Ebene, während analoges Zelluloid eher ästhetisch rezipiert wird.
Das neuaufgekommene gerade sehr modische Streaming dagegen sehen die Kinos des BKF nicht als eine Konkurrenz. Das ist eine völlig andere Nutzungsform: Man sitzt allein zu Haus auf der Couch und nicht mit vielen Menschen, meist Fremden, zusammen in einem dunklen Raum.
(to be continued)