10.12.2020
Cinema Moralia – Folge 237

Godard in einfacher Sprache?

Liebe ohne Minze
Weniger optimistisch in Bezug auf den Geschmack der Programmverantwortlichen stimmt der Blick in die ARD-Mediathek, etwa auf Liebe Ohne Minze (2011)
(Foto: hr/Degeto/Rainer Gutjahr)

Kinos in der Krise der Öffentlichkeit: Empfindsamkeit, der Bildungsauftrag, und der Jahreskongreß des »Bundesverband Kommunale Filmarbeit« in Nürnberg – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 237. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Ich liebe den Traum, auch wenn die Träume Alpträume sind, was bei mir meistens der Fall ist. Immer sind sie durch­setzt mit Hinder­nissen, die mir schon vertraut sind. Das ist mir egal. (...) Es heißt, daß sich das Gehirn während des Schlafes gegen die Außenwelt schützt, daß es dann viel weniger empfind­lich ist gegen Geräusche, Gerüche, Licht.«
Luis Bunuel

»Ich will nicht mehr so empfind­lich sein«
Brigitte 4/2008

Trig­ger­war­nung: Dieser Text ist nicht geeignet für über­emp­find­liche Leute, für Netflix-Jünger, wohl­erzo­gene Lockdown-Befol­gerInnen und Fans der deutschen Film­för­de­rung.

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»Dieses Programm ist nicht geeignet für Kinder, Jugend­liche oder empfind­same Zuschauer.« – die neue Mode – und es ist eine Mode liebe Freunde, nicht mehr als das, und sie wird wieder verschwinden wie jede Mode! – die neue Mode der Trig­ger­war­nungen ist absurd.
Schon allein, dass man hier in der ARTE-Formu­lie­rung Kinder und Jugend­liche mit – wie sagen wir heute? – besonders heraus­ge­for­derten Zuschauern gleich­setzt. Die Empfind­sam­keit, die hier gemeint ist, hat nichts mit dem alten Gebrauch des Wortes zu tun. Empfind­sam­keit war dagegen mal ein ehren­werter Begriff der klas­si­schen und dann frühro­man­ti­schen Ästhetik.
Gemeint ist eigent­lich Über­emp­find­lich­keit und Hysterie. Über­emp­find­lich und hyste­risch sind gerade Kinder und Jugend­liche aber ganz und gar nicht. Und dieje­nigen Zuschauer, die mit dieser Empfind­sam­keit gemeint sind, die sollten am besten überhaupt nicht ins Kino gehen und keine Film­kri­tiken lesen, denn das wird sie alles nur über­for­dern. Aber sie sollten auch normale Menschen nicht mit Trig­ger­war­nungen beläs­tigen.
Warum es trotzdem bei ARTE steht, ist vermut­lich vor allem der Furcht, es mit Shit­s­torms irgend­wel­cher Lobby­gruppen und ihrer Empfind­sam­keits­be­auf­tragten zu tun zu bekommen. Auch das unter­scheidet ARTE von artechock: Wir freuen uns auf Shit­s­torms, wir können den zusätz­li­chen Netztraffic und Bekannt­heit gerade in Lockdown-Wochen gut gebrau­chen. So wie Abos und Spenden anläss­lich unserer großen Weih­nachts­pen­den­ak­tion!

Neulich habe ich solch' eine Trig­ger­war­nung auch im Radio gehört, zu einer ganz normalen Tageszeit vor einem ganz normalen Bericht über poli­ti­sche Über­griffe in einem fernen Land. Wäre man konse­quent, dann müsste man vor jeder Nach­rich­ten­sen­dung eine Trig­ger­war­nung einsetzen. Wäre mein konse­quent und würde alles zu Ende denken, dann müssten wir noch vor ganz anderer Kunst Trig­ger­war­nungen einsetzen.

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Gesehen habe ich diese Trig­ger­war­nung ausge­rechnet zu Beginn von Jean-Luc Godards letztem Film Le livre d’image, der gerade in der ARTE-Mediathek zu sehen ist. Dankens­wer­ter­weise. Trotzdem: Wie ich Godard kenne, würde er das verboten haben, und hätte außerdem für diesen Text den ARTE-Verant­wort­li­chen das Mittag­essen auf die Spit­zen­decke gekotzt, so wie Herman Mankie­wicz aufs Parkett von William Randolph Hearst in David Finchers neuen Film Mank.

Man braucht kein Netflix. Wenn man nicht unbedingt gerade schnellst­mög­lich Mank sehen möchte.

Denn auch die öffent­lich-recht­li­chen Sender kübeln gerade jetzt, viel­leicht auch extra zu den Lockdown-Wochen ihre Media­theken mit Filmen voll, die eigens fürs Kino entstanden sind.

So zeigt ARTE zur Zeit »Lost in Trans­la­tion«, aber auch – klarer­weise mit Trig­ger­war­nung – Gute Manieren, einen modernen Werwolf-Film aus Brasilien, der sich unbedingt lohnt. Zwar alles leider wie immer nur auf Deutsch, also nicht als Origi­nal­ver­sion mit Unter­ti­teln, so wie wir es im Kino sehen würden, aber immerhin und besser, als der meiste Schrott, der woanders im Fernsehen läuft. Auch bei den Streamern.
Sogar das Remake von Mädchen in Uniform mit Romy Schneider lohnt einen zweiten Blick.

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Weniger opti­mis­tisch in Bezug auf den Geschmack der Programm­ver­ant­wort­li­chen stimmt der Blick in die ARD-Mediathek.

»Linda geht tanzen«; »Liebe ohne Minze«; »Liebe Zart­bitter«; »Nichts als Ärger mit den Männern«; »Die Braut meines Freundes«; »Ein Schritt zuviel«; »Mit einem Rutsch ins Glück«; »Vater braucht eine Frau«; »Mein süßes Geheimnis«; »Vollweib sucht Halb­tags­mann«; »Plötzlich Opa« – dies die Filmtitel aus der ARD Mediathek an nur vier Tagen im November. Es wird auch im Dezember nicht besser.
Ein Psycho­gramm.
Wer solche Filme guckt, muss zum Quer­denker werden.

Immerhin gibt es dort auch noch Die Blech­trommel von Schlön­dorff, Mephisto von Istvan Szabo (morgen auch im »linearen Fernsehen« – liebe Kinder: Das ist, wie Fernsehen früher mal war), und Le mépris/Die Verach­tung von Godard. Sogar ohne Trig­ger­war­nung. Dafür hoffent­lich mit einer Fassung in einfacher Sprache.

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Die Polizei – es muss offenbar erst Jan Böhmer­mann kommen, damit man bei uns mal anders über die Polizei nachdenkt. Wie ist denn das Bild der Polizei im deutschen Kino? Eine Haus­auf­gabe für die Harter-Lockdown-Wochen.
Im fran­zö­si­schen Film, im italie­ni­schen, und auch im ameri­ka­ni­schen Film trotz all der offen­kun­digen Probleme der US-ameri­ka­ni­schen Gesell­schaft, ist dieses Bild weitaus kriti­scher als das bei uns.

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Was sind uns die Kinos wert? Gemeint sind jetzt nicht die großen Kommerz-Kinos, die Cineplexe und Riesen­säle. Sondern die oft kleinen, meist feinen, in jedem Fall wohl-kura­tierten Programm­kinos, Film­kunst­häuser, und Kommu­nalen Kinos.

Hier laufen keine Super­helden-Filme, hier pflegt man die Film­ge­schichte und den Autoren­film, zeigt Film­reihen über bestimmte Regionen oder eine Retro­spek­tive über das Gesamt­werk eines Regis­seurs.

Die Bundes­re­gie­rung aller­dings siedelt diese Orte irgendwo zwischen Bordell und Frei­zeit­park an – dieser Aspekt der jüngsten Corona-Verord­nung hat in der Filmszene für großes Unver­s­tändnis gesorgt.

Hat sich denn gar nichts geändert seit Kaisers Zeiten, als das Kino eine Jahr­markts­at­trak­tion war? Offenbar ist es nötig, erneut um den kultu­rellen Stel­len­wert von Film und Kino innerhalb der Gesell­schaft zu disku­tieren.

Denn es geht um mehr, als um Corona und eine gekränkte Branche: »Das Kino und die Krise der Öffent­lich­keit« – so hieß der größere Bogen der dies­jäh­rigen BKF-Jahres­ta­gung.

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»Bundes­ver­band Kommunale Film­ar­beit«, kurz BKF genannt – das klingt sehr funk­tional und etwas altmo­disch. Gemeint ist der Zusam­men­schluss der rund 150 kura­tierten Programm­kinos, unab­hän­gigen Film­kunst­häuser und Kommu­nalen Kinos – von denen aller­dings noch gerade mal ein Viertel auch tatsäch­lich kommunal finan­ziert wird!!
Einmal im Jahr trifft sich dieser Verband zum Bundes­kon­gress, um film­po­li­ti­sche Fragen zu debat­tieren – diesmal am Wochen­ende in Nürnberg, aber natürlich Corona-bedingt vor allem online.
Um Corona ging es auch, aber das Thema war weiter gesteckt: »Das Kino und die Krise der Öffent­lich­keit« – so hieß der größere Bogen und in Diskus­si­ons­runden und Gesprächs­vor­trägen wurden diese Themen entfaltet, mit zum Teil promi­nenten Gästen wie dem Film­re­gis­seur Edgar Reitz, der über die Versöh­nung klas­si­scher Zellu­loid­tech­niken mit digitalen sprach; die Film­his­to­ri­kerin Heide Schlüp­mann mit dem Film- und Kultur­kri­tiker Georg Seeßlen.

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Dass sich die Öffent­lich­keit verändert, das war schon vor Corona fast eine Binsen­weis­heit. Vom »Struk­tur­wandel der Öffent­lich­keit« und »Verfall des öffent­li­chen Lebens« sprechen Zeit­dia­gnosen schon seit Jahren.
Statt einem offenen Ort freien, gleichen und diversen Austauschs, der durch Medien gegen­sätz­liche Stand­punkte mitein­ander vermit­telt, und in dem das bessere Argument gewinnt, ist dieser Raum frag­men­tiert zu einem Mosaik aus lauter kleinen Filter­blä­schen herun­ter­ge­kommen, die entweder alle für sich anein­ander vorbei reden, oder einander besiegen wollen.

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Räume, also auch Kinos, sind poli­ti­sche Programme. Das ist ein Zentral­ge­danke der Wiener Kino-Archi­tektin und Stadt­pla­nerin Gabu Heindl, die 2013 das Wiener Stadtkino im Künst­ler­haus als aktiven, bespielten Innen- und Außenraum neu geplant und den Umbau geleitet hat, mit dem Ziel einer radikalen Demo­kra­ti­sie­rung des Kinos als öffent­li­chen Ort, der immer neu zu erkämpfen ist.

Fragt man nach der konkreten Lage der Kinos, ergibt sich, ein diffe­ren­ziertes Bild von den Nöten der viel­ge­stal­tigen kommu­nalen Kino-Szene, in der schon vor Corona prekäre Arbeits­be­din­gungen, aber auch Mut und Einfalls­reichtum weit verbreitet waren.
Klar scheint zu sein: Das Kino und die Film­branche wird sich komplett neu erfinden müssen. Zwar ist der Ort Kino ein sicherer Raum, auch in der Pandemie, aber Auswer­tungs­stra­te­gien verändern sich.

Eine bestimmte Form der Film­prä­sen­ta­tion und der Film­wahr­neh­mung sind das Allein­stel­lungs­merkmal der Kinos. Es geht nicht allein darum, Filme zu schauen, sondern um die einzig­ar­tige Kino-Erfahrung.
Auch hier wird Corona zum Kata­ly­sator von Entwick­lungen, die älter sind. Der Öffent­lich­keit geht es auch um Teilhabe. Die zentrale Frage ist die des Verhält­nisses von Film­kultur und Film­wirt­schaft; von Kommer­zia­li­sie­rungsnot und öffent­li­cher Teilhabe.

Es ist an der Zeit, sagen die Vertreter des Bundes­ver­band kommunale Film­ar­beit, dass die Kinos als gleich­be­rech­tigte Einrich­tung anerkannt werden wie die Oper oder das städ­ti­sche Theater. Denn Kinos sind demo­kra­ti­sche Grund­ver­sor­gung, sie erfüllen eine wichtige gesell­schaft­liche und poli­ti­sche Funktion.

Viele Kinos erweitern in der aktuellen Krise ihr Angebot um virtuelle Kinosäle im Netz. Das hat nicht nur Vorteile. Aber es geht auch nicht nur ums Geld, sondern darum, das Angebot zu erweitern.
Die Pandemie hat den »digital turn« extrem voran­ge­trieben. Eine Kritik der Digi­ta­li­sie­rung ist dringend nötig: Denn digitale Produk­tionen wirken eher auf der inhalt­li­chen Ebene, während analoges Zelluloid eher ästhe­tisch rezipiert wird.

Das neuauf­ge­kom­mene gerade sehr modische Streaming dagegen sehen die Kinos des BKF nicht als eine Konkur­renz. Das ist eine völlig andere Nutzungs­form: Man sitzt allein zu Haus auf der Couch und nicht mit vielen Menschen, meist Fremden, zusammen in einem dunklen Raum.

(to be continued)