68. Festival de Cine de San Sebastián 2020
Schlichte Passionen |
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Gut durchgehaltener Anti-Moralismus: Thomas Vinterbergs Druk | ||
(Foto: Press Service SSIFF 2020) |
»Denn das wahre Bedürfnis der Philosophie geht doch wohl auf nichts anderes als darauf, von ihr und durch sie leben zu lernen.«
Hegel
Albert Camus, der französische Existentialist und Schriftsteller, den manche auch für einen Philosophen halten, hat ein ganzes Buch über den »Mythos des Sisyphos« geschrieben. Das ist jener von Homer überlieferte Mann, der »der weiseste und klügste unter den Sterblichen« war. Sein Beruf war der eines Straßenräubers. Das muss kein Widerspruch sein. Er war aber nicht klug genug, oder zu klug, um den Zorn der Götter zu vermeiden. Man verdammte ihn zu sinnloser Sklavenarbeit:
Einen Felsbrocken musste er einen Berg hinaufrollen, und immer, wenn dieser fast oben war, rollte der Brocken wieder hinunter – auf Ewigkeit.
Was ich mich bei dieser Geschichte immer gefragt habe: Warum macht der Mann das überhaupt? Wenn er so klug war. Nehmen wir mal an, er schafft es nach einigen tausend Jahren, den Felsen doch irgendwie auf den Berg zu kriegen – was hat er dann davon?
Wir müssen uns Sisyphos also als einen enttäuschten Menschen vorstellen.
An Sisyphos habe ich bei mehreren Filmen denken müssen, wohl auch, weil bereits in Woody Allens Eröffnungsfilm viel von den großen Fragen des Sinns des Lebens die Rede war. Wer das albern findet, darf hier aufhören, und Drogen nehmen. Für die anderen ist die Frage vielleicht interessant, ob das Leben nun leer und bedeutungslos ist, oder doch irgendein Zweck dahinter liegt. Man muss Woody Allen und seinen Eröffnungsfilm auch nicht mögen, um die Frage relevant zu finden, worum es im Leben geht, und ob es irgendetwas nach dem Tod oder jenseits der Welt gibt, oder nur das große Nichts. Und um über Allens Frage zu lachen: »Kann man Gott verklagen, wenn er vertragsbrüchig wird?«
Aber was wäre dieser Vertrag? Das Versprechen auf Glück? Auf Sinn? Auf Aufklärung über die Bedeutung bestimmter Dinge? Über das Gute, über die Existenz des Bösen? Über das Schöne? Und wie all das miteinander zusammenhängt.
Weil mich das interessiert, und ich diese Fragen ernstnehme, und tatsächlich gern wüsste, was Sisyphos von seiner proletarischen Existenz hat, und warum er in der Absurdität glücklich sein soll, wie Camus behauptet, darum gehe ich ins Kino.
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Vor vielen Jahren hat Danielle Arbid einen sehr schönen Film gemacht über ihre Kindheit im Libanon. Ich habe ihn nicht vergessen, genauso wie die Tatsache, dass ihre Jugend im Bombenhagel des Bürgerkriegs ausgerechnet durch Boney M.- Songs verschönt wurde. Inzwischen sind 15 Jahre vergangen und ihr neuer Film Passion Simple wäre in Cannes gewesen – vielleicht sogar im Wettbewerb? Wer weiß das schon? Wenn man den Film gesehen hat, kann man sich ihn im Wettbewerb nur aus solchen Gründen vorstellen, wie sie im Vorjahr zur Teilnahme des Films Sibyl führten. Auch darin ging es vor allem um Seelenqualen einer bürgerlichen Frau, Innenansichten von Weiblichkeit.
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Ziemlich am Anfang geht Helene, die Hauptfigur des Films mit einer Freundin ins Kino. Sie sehen dort Hiroshima, mon amour von Alain Resnais nach Marguerite Duras. Ein klar gesetztes Zeichen. »Moscou, Mon Amour« ist Passion Simple aber nicht geworden, und das liegt auch daran, dass
die Regisseurin zwar dieses und viele andere Zeichen setzt, aber nichts mit ihnen anzufangen versteht. Es sind einfach zu viele Zitate, Referenzen, Anspielungen durcheinander. Man darf natürlich schon auf Resnais und Duras und diesen Film anspielen – aber wenn man das tut, dann muss man es auch richtig tun, dann kann man das nicht nur so als ein Zitat für ein paar Minuten mal in den Film hineinwedeln, und es dann noch zum Anlass für eine kurze blöde Dialogszene in einem Café
machen.
So macht dieser Verweis uns eher unfreiwillig klar: Der französische Liebesfilm ist auch nicht mehr, was er mal war.
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Nach dem Kinobesuch reden Helene und die Freundin im Café über den Film und über Männer. Zum Film hat Helene vor allem zu sagen, dass sie die Frauenfigur nicht mochte, weil ihr die zu bürgerlich und typisch französisch sei, aber den Mann, den Japaner mochte sie.
Wenn man Passion Simple sehr wohlwill, könnte man ihn als ein Pastiche von Hiroshima, mon amour bezeichnen. Ein missglücktes, aber immerhin. Denn auch hier geht es um die Liebe zwischen einer bürgerlichen Frau – Helene ist Universitätsdozentin – und einem Fremden, in diesem Fall einem Russen namens Alexandre, der als Security-Mann bei der Botschaft arbeitet. Helene hat ein Kind und lebt allein. Alexandre ist verheiratet und mit Tattoos übersät. Es wird gesagt, dass er jünger sei als sie.
Mit Passion Simple hat Arbid Annie Ernauxs gleichnamige Novelle von 1992 verfilmt. Ich kenne das Buch nicht und weiß nicht, ob die »Hiroshima«-Referenz dort schon vorkommt. Ich habe mir aber erzählen lassen, der Film sei gegenüber der Vorlage stark verändert. Allemal sind die ganzen Referenzen auf das Putin-Russland offenkundig aktuell gemeint. Und selbst die Besetzung ist eine Referenz: Sergei Polunin, Darsteller des Alexandre, ist ein berühmter Tänzer, der an der Pariser Oper bereits für mehr als einen Skandal gut war, und zuletzt herausgeflogen ist, weil er sich öffentlich »russlandfreundlich«, gemeint war wohl Putin-freundlich, geäußert hatte.
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»Since last September, I have done nothing but wait for a man.« Dies ist der erste Satz. Erzählt wird von einer souveränen Frau, die sich komplett von einem Mann abhängig macht, mit dem sie eine Sex-Beziehung hat. Mit dem sie nichts sonst verbindet. Die ihr Leben darüber verliert. Die sich dumm macht.
So ganz klar ist dabei nicht, was der Film zeigen will: Wie eine Frau dumm wird? Wie Liebe dumm macht? Worum es »wirklich« geht?
Manche, auch manche Frauen, werden einen solchen Film als
einen typischen Frauenfilm ansehen. Der zeigt, »wie Frauen schauen«, »wie Frauen empfinden.« Wie »es« »wirklich« ist. Wir wollen mal hoffen, dass es das nicht ist.
Interessant ist das Ende. Später, nach vielen Wochen der Abwesenheit, in denen sie zuerst fast verrückt wurde, dann allmählich den Entzug geschafft hat, trifft sie ihn wieder: Sie sagt »der Mann, den ich wieder sah, war nicht mehr der Mann, den ich vor 8 Monaten getroffen hatte. Aber damals hatte er mich an eine Grenze geführt und mir gezeigt, wer ich bin. Durch ihn weiß ich, zu was ich fähig bin. Wo meine Grenzen liegen. Und ich habe Grenzen erreicht. An ihnen gekratzt, sie vielleicht sogar überschritten.«
Man kann in alldem auch einen Kommentar zum Russen-Bild in Europa sehen. Unsere Wahnvorstellung vom »Russen« als Tier.
Insgesamt ist dieser Film ein K(l)ammerspiel, das in manchen Sequenzen wie die Karikatur eines französischen Liebesfilms wirkt, dann aber wieder durch großartige Auftritte der beiden Hauptdarsteller besticht: Laetitia Dosch ist eine Entdeckung, auch Sergei Polunin hat Charisma.
»Fifty Shades of French-Russian-Relationship« kommentierte Dubravka, die mit mir in der FIPRESCI-Jury sitzt.
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Das Pendant dazu bildet Druk von Thomas Vinterberg. So wie es bei Arbid um eine Frau geht, die noch etwas anderes vom Leben will als konventionellen Alltag, die ihre Grenzen und Möglichkeiten zum Exzess austesten will, so geht es hier um Männer, die in der Midlife-Crisis Erleichterung suchen. Sie finden sie nicht allein und nicht in Affären, sondern gemeinsam, als Freunde und im Alkohlrausch. »Druk« heißt auf Dänisch »Suff«.
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Am Anfang steht ein Motto vom Philosophen (und Hegelianer) Kierkegaard: »What is youth? A Dream. What is love? The Content of the dream.«
Am Anfang saß ich in diesem Film, und denke: Ich will das nicht sehen. Von Anfang an dachte ich: Ich weiß, wie es weitergeht, ich weiß, wie es ausgeht. Es wird wehtun. Mats Mikkelsen in der Rolle der Hauptfigur wird irgendwann in seiner Kotze liegen und jammern und einen Alkoholiker am Boden spielen, und dann nüchtern werden müssen.
So geht es los. Dann aber nimmt der Film eine ganz andere Ausfahrt. Was in den ersten Minuten so beginnt, dass man ein moraltriefendes Alkoholikerdrama erwartet, verwandelt sich in eine beschwingte Komödie über Exzess und Freiheit.
Der Däne erzählt von vier befreundeten Lehrern in der Midlife-Crisis. Als sich die vier bei einer Geburtstagsfeier ordentlich betrinken, beginnen sie ein Experiment: Sie nehmen die These mancher Wissenschaftler – es gibt sie wirklich!
– wörtlich, nach der ein bisschen Alkohol dem Menschen guttut. Und sie beschließen, von morgens vor der Arbeit und bis um 20 Uhr regelmäßig zu trinken. Wie Hemingway.
Tatsächlich wird ihr Unterricht davon beflügelt, trotzdem gerät alles auch zwischendurch aus dem Ruder.
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Der Film spielt mit den Gewissheiten unserer Selbstoptimierungsgesellschaft, auch dem Moralregime, das verlangt, »perfekt« zu sein, »gesund« zu leben, den Körper zu stählen, zu trainieren, möglichst zu verbessern, aber mindestens zu erhalten. Für wen eigentlich? Für diejenigen, die ihn ausbeuten wollen.
Dieser Film widerspricht dem allgegenwärtigen Moralismus gegen Sucht und für Leistung: Alkohol kann guttun. Und wozu perfekt sein? Wozu rein sein?
Vinterberg hält seinen Anti-Moralismus erstaunlich gut durch. Er polemisiert gegen all jene, die immer genau wissen, was richtig ist. Und gegen die Spaßverderber, die aus medizinischen Gründen und gesundheitlichen Gründen Menschen den Spaß rauben.
Dafür kann er sogar Kierkegaard zitieren: Akzeptiere dich selbst als
fehlbar.
Doch Vinterberg lässt alles heiter und fröhlich enden. Am Schluss tanzt Hauptdarsteller Mats Mikkelsen beschwingt über die ganze Leinwand. Wenn es einen »Männerfilm« gibt, dann ist es dieser.
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Anna Sofie, Regisseurin, dffb-Absolventin und Dänin aus Berlin, die nach zwei Auftritten mit Filmen diesmal in der »Zabaltegi«-Jury sitzt, erzählte mir gestern noch von einem Interview, das Vinterberg in der dänischen Zeitung »Politiken« gegeben hat, und das ihn von einer sympathischeren Seite zeigt, als andere Auftritte. Er erzählt darin auch sehr offen von seinem Umgang mit dem Unfalltod seiner 19-jährigen Tochter Ida während der Dreharbeiten zu Druk – der immerhin ein Film ist, in dem ganz viele Jugendliche mitspielen, die kaum jünger waren als die Tochter, und in der er eine Beerdigungsszene zu inszenieren hatte. Man sieht diesen Film danach noch ein bisschen anders.
(to be continued)