Cinema Moralia – Folge 251
»Branchen-Finanzierung durch eine oder mehrere Zensurbehörde/n« |
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Strahlende, beste Sandra Hüller. Ich bin dein Mensch | ||
(Foto: Majestic) |
»Piloten ist nichts verboten.« – Extrabreit, Hans Albers zitierend
»Who the hell wants to hear actors talk?« – John Warner, 1927
»Zensur, die durch das Geld ausgeübt wird, wird viel stärker als Zensur aus ideologischen Gründen. ... Andrej Tarkowskij hätte in Hollywood Andrej Rubljow nicht machen können, denn es war echtes cinema d’auteur. ... Der Unterschied ist: In der Sowjetunion konnte man einen Film machen, der verboten wurde. In Hollywood hättest du den Film nicht einmal machen können.« – Andrej Kontschalowski
Dieses Buch ist eine riesengroße wunderbare Provokation. Jeder, der mit Film etwas zu tun hat, sollte es lesen! Und zwar aus gleich mehreren Gründen. Man erfährt hier natürlich sehr vieles über das Kino Osteuropas im Kalten Krieg; man bekommt Lust, sich die alten Filme aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei sofort wieder anzuschauen, oder endlich einmal überhaupt. Und die sowjetischen gleich dazu. Man bekommt Lust, die Urteile der Autoren zu überprüfen.
Wichtiger aber, viel wichtiger ist die Pointe, die all das für das deutsche Kino hat. Dies ist Lisa Gotto und Dominik Graf natürlich auch vollkommen bewusst, sie halten damit kein bisschen hinter dem Berg, sie versuchen nicht, irgendetwas hinter Höflichkeiten zu verstecken.
Dieses Buch handelt ganz unhöflich zunächst einmal von der alltäglichen Zensur, die es bei uns gibt, und die der im Osteuropa des Kalten Kriegs kein bisschen nachsteht – es sei denn in der Hinsicht, dass die Filme, also die Zensur-Ergebnisse, bei uns viel schlechter sind.
Kann man das wirklich so sagen? Man muss es.
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Fördergeld-Bürokratie führt zu Anpassungsdruck. Das Buch von Dominik Graf und Lisa Gotto über »Filmkultur hinter dem Eisernen Vorhang« (Lisa Gotto/ Dominik Graf: »Kino unter Druck. Filmkultur hinter dem Eisernen Vorhang«; Alexander Verlag, Berlin 2021; 16,90 Euro) ist auch ein Buch über heutige Filmpolitik und über alles, was unserem Gegenwartskino fehlt. Zumindest in Deutschland.
»Unsere Erkundungen sind getrieben von einer brennenden Aktualität, von Fragen zur Zensur gestern und heute, von der Suche nach starken Frauenfiguren, von der Sehnsucht nach filmischer Lebendigkeit jenseits aller Relevanzforderungen.« Das schreiben sie schon im Vorwort: »Unser Staunen darüber, wie unter politischer Einflussnahme, Zwang und Zensur die klügsten und kraftvollsten Filme der Welt entstehen konnten, wie sich Originalität und Komplexität an den Grenzen der Regelungsbetriebe vorbei schmuggeln lassen, führt vom Gestern ins Heute. Wenn das gegenwärtige System der Fördergeld-Bürokratie zu Anpassungsdruck führt, wenn man Frauen vor und hinter der Kamera vermisst, wenn man sich fragt, was unserem Kino heute fehlt – dann sollte man bei der Suche nach Antworten bei den osteuropäischen Filmen anfragen.«
Es folgt ein Plädoyer für ein »Kino der harten Ambivalenzen.«
In der Einleitung geht es dann genauso kompromisslos und angenehm unhöflich weiter. Erster Satz von Graf: »Wir haben, das sage ich jetzt erst mal als Praktiker im System des deutschen Films, de facto – da es fast kein Geld mehr gibt für unsere Filme auf dem freien Markt – eine Situation, die der totalen Branchen-Finanzierung durch eine oder mehrere Zensurbehörde/n entspricht. Das heißt, in die Beurteilung von geplanten Projekten finden sowohl die persönlichen Kriterien der in undurchsichtigen Abläufen gewählten Fördergremienmitglieder Eingang als auch die schriftlich niedergelegten Maßgaben der staatlichen Gremienkultur.«
Zensur, das ist eine ganz zentrale These, über die die Betroffenen inklusive der im Bund verantwortlichen Noch-Kulturstaatsministerin Monika Grütters einmal nachdenken dürfen, gibt es auch im westlichen Filmemachen.
Die Gründe für die Zensur im westlich-demokratischen System sind, so argumentiert Graf schlüssig, nicht nur kommerzielle, sondern vermeintlich »qualitative«.
Die beiden Autoren folgen sehr genau den Feinheiten und labyrinthischen Strukturen östlicher wie westlicher Zensursysteme.
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Das Publikum ist selbst zum Zensor geworden. Zu den Institutionen und ihrem dschungelartigen Regelungsgestrüpp kommen noch die sozialen Zensurmechanismen der diversen Kultur- und Empörungsblasen. Das bildungsbürgerliche Publikum ist nämlich selber schuld: »Unsere Gremien-Förder-Kinokultur basiert darauf, dem Publikum wenig zuzutrauen, es bloß nicht zu überfordern. Kinematographische Vielstimmigkeiten von Sequenzen gelten auch dem Publikum als verwirrend; Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten auch in privaten Konstellationen, z.B. in Gender-Problemen der Filme, werden den Machern sogar gefährlich. Das Publikum ist selbst zum Zensor geworden, es ist konditioniert auf ein Kino der Eindeutigkeit. Es cancelt, was ihm nicht sofort einsichtig scheint.«
Und sie umschreiben die heutige Situation: Gegenüber der Hochzeit des Autorenkinos in den 60er und 70er Jahren wurde das Vertrauen ins Bild als Gegensatz zum Wort schnell wieder verspielt. Film ist heute kein Mittel der Wahrheitsfindung mehr, stattdessen »stecken hinter jedem 'realen' Bild nur noch Lüge und Pixel-Pinselei in der Postproduktion.«
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AbiturientInnen mit unangemessen hohem Selbstbewusstsein und zu niedriger Frustrationstoleranz. Und dann ein Gewitter von bitteren bösen Fragen an heutige Filmemacher und Studenten: »Wären unsere Filme so viel besser, wenn man die 'Kreativen' immer freier produzieren ließe? Warum nehmen sich all diese ›Kreativen‹ am Ostblock-Filmschaffen nicht ein Beispiel? Entwickeln Strategien, Taktiken und mit Strotz und Schläue Originalität durch unsere Zensur zu schmuggeln? Kann man daraus die These von dem in Wahrheit mangelnden Talent in Deutschland ableiten? Gutbürgerliche AbiturientInnen mit unangemessen hohem Selbstbewusstsein und zu niedriger Frustrationstoleranz? Haben sie alle nichts erlebt? Oder regiert die Angst?«
Es gehe darum, die Schwerkraft zu überwinden – aber dafür muss man auf den Mond fliegen wollen. Das Problem sei, dass allzu viele Kreative sich am Boden ziemlich wohlfühlen. Dass sie die Schwerkraft gut finden, weil sie sie nicht fliegen lässt. Möglicherweise haben sie auch Angst vor der Schwerelosigkeit. »Aber wahrscheinlich ist es schlimmer. Sie finden Raketen überheblich. Sie begreifen die Schwerkraft als stabilisierendes Naturgesetz und finden es richtig, dass sie sie zu Boden drückt. Vielleicht haben sie einfach keine Lust auf Raketenbaupläne. Vielleicht bauen sie lieber Elektroautos, weil die staatlich gefördert werden und eine gesellschaftliche Relevanz-Prämie bekommen. Eine Die-Welt-besser-machen-Plakette.«
So geht es noch eine ganze Weile weiter zum Beispiel über die Gentrifizierung des Kinos und andere elende Entwicklungen, die die Dialektik dieser Kunst einfach pauschal leugnen; über die Schubladenaufschrift »Arthouse« und ähnlichen postmodernen Quatsch. Aber es wird nicht nur wunderschön geschimpft. Überraschend gelobt werden die Filme der Berliner Schule, obwohl die vielleicht auch nicht immer so ambivalent und so lebendig jenseits aller Relevanzzwänge sind, wie Autorin und Autor es fordernd skizzieren. Und obwohl sie in den meisten Fällen mit der Radikalität von Grafs eigenen Filmen oder denen von Jan Bonny und den wenigen anderen Ausnahmen nichts zu tun haben.
Ach ja: Ums Kino Osteuropas geht es natürlich auch. Sogar eine ganze Weile. Auf über 100 Seiten schreiben Gotto und Graf über Filme hinter dem Eisernen Vorhang vor 1989. Undigital, erwachsen, bildkräftig, realistisch und immer jung.
Lisa Gotto und Dominik Graf haben ein wunderbares Buch über die Filmkultur hinter dem Eisernen Vorhang geschrieben. Und über uns.
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Die Kinos öffnen wieder – und mit dieser Öffnung greift sachte stille Panik um sich. Erkennbar steigt der Druck im Kessel.
Die ersten jetzt schon publizierten Filmförderentscheidungen bringen mal wieder nichts Neues, sondern die üblichen Verdächtigen und das Gegenteil innovativer Projekte, mit zwei, drei Ausnahmen. Auffällig ist, dass man an der Kinokasse oder auf der TV-Couch erfolgreichen Schauspielern zutraut, gute Filme zu machen: Andere, in jedem Fall interessante Filmemacher wurden nicht gefördert.
Es nutzt inzwischen auch nichts mehr, dass die Antragsteller mit ihren letzten Filmen »gute Zahlen gemacht« haben oder in einem A-Festival-Wettbewerb gelaufen sind. Sie bekommen kein Geld. Und um auch diese Mythen der weniger informierten Normalkinogänger zu zerstören: Das bewilligte Fördergeld wird längst nicht immer gleich ausgezahlt. Manchmal bleibt es jahrelang liegen, weil eine »Förderung noch nicht geschlossen wurde«, manchmal gefallen sich Einzelpersonen in den Fördergremien darin, mit kleinen Verwaltungstricks oder vorgegebener Unerreichbarkeit Auszahlungen zu verschleppen. Auch hier keinerlei Transparenz, obwohl diese von allen eingefordert wird. Stattdessen ein feudalistisches System mit Hinterzimmern und Gunsterweisen.
In Gesprächen mit Film- und Kinomachern fällt auf, dass trotz oder wegen der langersehnten Kinoöffnung die allgemeine Laune alles andere als gut ist.
Zu bemerken ist eine allgemeine Belastungsintoleranz, ein moralisches Fatigue-Syndrom, aus dem womöglich bald auch ein ästhetisches und politisches wird.
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Man »versteht« nicht mehr, man »liest« Situationen. Man »liest« einen Film. Man muss aber einen Film nicht »lesen«, schon gar nicht, um Spaß am Kino zu haben. Filmkritiken muss man sowieso nicht lesen. Aber wenn man es tut, ist es wie bei jedem Text auf eigene Gefahr.
Kritik ist dabei auch von Klischees nicht zu trennen. Sie spielt mit ihnen, sie arbeitet sich an ihnen ab, sie kritisiert oder relativiert sie, sie benutzt sie aber auch, um etwas deutlich zu machen, oder umzubenennen, wenn z. B. ein bestimmter Film oder eine Person genau diesen Klischees entspricht.
Filmkritik spielt sowieso. Sie experimentiert, probiert Haltungen aus wie ausgeleierte Hosen. Ob sie noch passen? Einen Sommer vielleicht, den kurzen Sommer der Pandemie.
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Zum Schreiben unter Corona: Ich wage zu behaupten, dass es ohne Corona bestimmte Texte, auch welche, die ich in den letzten 15 Monaten geschrieben habe, nicht geben würde. Nicht nur nicht so, wie sie jetzt sind, sondern überhaupt nicht.
Und das liegt nicht allein daran, dass wir alle wahrscheinlich ohne Corona weniger Zeit hätten. Sondern es hat viel mit der Tatsache zu tun, dass wir alle, auch unsere Leser, unser Publikum, viel zu viel Zeit haben und zu viel überschüssige Energie und zu wenige Objekte, mit denen wir uns beschäftigen können. Zum Beispiel Filme und Festivals.
Aus dem Grund beschäftigen wir uns zum einen sehr narzisstisch mit uns selbst, den eigenen Gefühlen, Empfindungen und Empfindlichkeiten, und mit dem Imaginären, das heißt mit dem, was wir von anderen Dingen und anderen Menschen vermuten und phantasieren im Guten wie im Schlechten, mit virtuellen Gemeinschaftsbildungen bis hin zu Verschwörungstheorien. Und wir beschäftigen uns mit den Texten der anderen. Es gibt einen Schreibüberschuss, und einen Lese- und Wahrnehmungsüberschuss.
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Journalismus ist tatsächlich immer wieder auch ein trauriges Geschäft, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil man es immer wieder mit Lesern zu tun hat, die entweder nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können. Welche von beiden Möglichkeiten schlimmer ist, ist aber noch die Frage. Wenn jemand unfähig ist zu verstehen, dann können Bildungsmaßnahmen abhelfen. Wenn jemand nicht verstehen will, dann ist es oft auch ein charakterliches Defizit: Fehlende Neugier und fehlendes Wohlwollen.
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Streitkultur hat zwei Seiten. Kultur und Streit. Auch die zweite Seite ist wichtig. Streitkultur wird erst da relevant, wo man nicht einig ist. Interessant wird sie auch erst dann.
Haltungen bewähren sich, wenn sie in Frage gestellt werden. Für Schlechtwetter-Moral gegen Schönwetter-Moralismus.
Was die Pandemie mit uns gemacht hat: Wir schauen zu genau hin. Wir sind zu empfindlich.
Aber ist Kunst nicht wichtiger als wohlfühlen? Geht es darum, wie sich jemand fühlt, oder um den Gegenstand? Wir kennen diese Diskurse. Auf emotionalen Filterblasen kann man keine Gesellschaft errichten. Nicht alles liegt im Auge des Betrachters.
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Maria Schrader ist persönlich viel interessanter als ihre Filme. Das belegen zum Beispiel hier zwei kurze kluge Passagen aus Interviews, die sie zum Start ihres neuen Films gegeben hat:
»Wir müssen wieder lernen, in der Schlange vor dem Bankschalter zu stehen. Denn der Verzicht darauf erhöht unsere Einsamkeit. Wir müssen uns heute gar nicht mehr in Situationen begeben, in denen wir mit anderen sprechen, diskutieren, und Skeptik aussetzen, sondern werden immer mehr das Zentrum unseres eigenen Lebens. Es gilt nichts mehr als die eigene Meinung zu allem und die Unanfechtbarkeit der eigenen Person. Das ist eine unglaubliche Entwicklung. Das wird auf lange Sicht einen riesigen Einfluss darauf haben, wie sozialkompatibel wir überhaupt noch sind und was Menschsein ausmacht.«
»Die Presse«, 13.6.2021
»Hier hört die Arbeit auf, da fängt mein Leben an, ja, das ist mir fremd. Die Dinge fließen ineinander. Ich glaube, diesen Zustand kennen alle Leute, die künstlerisch arbeiten, aber bestimmt ist das auch so in der Politik, der Forschung, den Schulen, Kindergärten, in der Wissenschaft oder im Journalismus. Wahrscheinlich wird jeder Mensch, der seine Arbeit liebt, auch zwischendurch ihr Sklave. Ich finde die Arbeit aber eigentlich nur dann anstrengend, wenn ich nicht weiterkomme oder es Konflikte oder zu großen Zeitstress gibt. Dann habe ich Sehnsucht, abzuschalten, und das kann ich besser, als Sie es mir vielleicht zutrauen.«
»Tagesspiegel«, Juni 2021
(to be continued)