25.11.2021
Cinema Moralia – Folge 258

Haus ohne Hüter

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Als wir den Humor verloren
(Foto: Social Media)

Der Staat, die Pandemie und das Kino; und schöne Worte, wenig Substanz im Koalitionsvertrag – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 258. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Er kniff die Augen zu, lauschte aber, ohne es zu wollen, auf das Gespräch der freien Mitar­beiter in der Ecke, die sich leiden­schaft­lich über Kunst zu streiten schienen; jedesmal, wenn einer von ihnen 'Kunst' rief, zuckte Murke zusammen. Es ist, als ob man ausge­peitscht würde, dachte er.«
Heinrich Böll, »Dr. Murkes gesam­meltes Schweigen«

Die neue Koalition ist da! Und die Ampel wartet gleich mit einer Über­ra­schung im Kultur­be­reich auf: Im Koali­ti­ons­ver­trag steht auf Seite 179: »Die Staats­mi­nis­terin für Kultur und Medien stellt Bündnis 90 /Die Grünen.« Damit ist klar: Die Nachfolge von Monika Grütters als Kultur­staats­mi­nis­terin soll erstmals nicht von der Partei des Kanzlers gestellt werden, sondern von den Grünen. Noch wurde kein Name bekannt, manches scheint hier aller­dings für die jetzige Bundes­tags­vi­ze­prä­si­dentin Claudia Roth zu sprechen. Die Partei­linke muss abge­funden werden. Oder wird es doch eine Außen­sei­terin aus den Ländern? Gegen die von manchen favo­ri­sierte baye­ri­sche Medi­en­po­li­ti­kerin Sanne Kurz spricht der auch bei den Grünen geltende altpar­tei­en­hafte Länder­pro­porz. Denn mit Anton Hofreiter gilt bereits ein baye­ri­scher Grüner bei der Minis­ter­ver­gabe als gesetzt.

Mit dieser Nachricht ist bedau­er­li­cher­weise auch jener Sozi­al­de­mo­krat erstmal aus dem Rennen, auf den viele ihre Hoffnung gesetzt hatten: Carsten Brosda, der aus dem Ruhr­ge­biet stammende Hamburger Kultur­se­nator.

Auch sonst hält der in Vielem moder­ni­sie­rungs­freund­liche, vom Fort­schritts­ge­danken bestimmte Koali­ti­ons­ver­trag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für den Kultur­sektor einige, zum Teil aller­dings absehbare Enttäu­schungen bereit. Es wird kein Bundes­kul­tur­mi­nis­te­rium geben. Es bleibt bei einer Staats­mi­nis­terin für Kultur und Medien im Bundes­kanz­leramt. Das Staats­ziel Kultur soll aller­dings im Grund­ge­setz verankert werden.

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Die Film­po­litik wird auf absehbare Zeit grund­sätz­lich so weiter vor sich hingurken, wie in den Jahren unter Grütters: Verbän­de­an­hörungen, viel Klein-Klein, etwas mehr Privat­wirt­schaft, etwas mehr Orna­men­tales wie Frau­en­för­de­rung und Grünes Drehen, das aber an der kultu­rellen Substanz, am maroden Gesamt­zu­stand des deutschen Films und an der Ohnmacht gegenüber den großen Playern in den USA und zunehmend in Asien nichts ändern wird.
Im Abschnitt zur »Kultur- und Medi­en­po­litik« heißt es im Koali­ti­ons­ver­trag ab Seite 121 unter anderem aber immerhin: »Mit der Film­för­de­rungs­no­velle wollen wir die Film­för­der­instru­mente des Bundes und die Rahmen­be­din­gungen des Film­marktes neu ordnen, verein­fa­chen und trans­pa­renter machen, in enger Abstim­mung mit der Film­branche und den Ländern. Wir prüfen die Einfüh­rung von Inves­ti­ti­ons­ver­pflich­tungen und steu­er­li­chen Anreiz­mo­dellen und schaffen gesetz­liche Rahmen­be­din­gungen, um die steu­er­liche Behand­lung von Film­ko­pro­duk­tionen rechts­si­cher zu gestalten.« Ähnliches war auch schon von der SPD zu hören. Vor allem aber ist da die Hand­schrift der FDP spürbar, der Koali­ti­ons­partei, die noch am ehesten etwas grund­sätz­lich verändern will. Fragt sich bloß, ob in die richtige Richtung.

Weiter steht an gleicher Stelle: »Kinos und Festivals fördern wir verläss­lich und bewahren unser natio­nales Filmerbe.«
Was mit diesen Floskeln substan­tiell gemeint ist, bleibt völlig offen.

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Insgesamt soll ein Plenum der Kultur etabliert werden, an dem Länder, Kommunen, Kultur­pro­du­zenten, Verbände und Zivil­ge­sell­schaft beteiligt werden und besser koope­rieren sollen.
Die Neustart-Programme sollen fort­ge­führt werden, um den Übergang aus der Pandemie abzu­si­chern. Mehr Kultur im länd­li­chen Raum – und das hoffent­lich nicht auf Kosten der Städte.
Gender Pay Gap, Mindest­ho­no­rie­rungen, Sicherung für Solo­selb­stän­dige und überhaupt das Thema soziale Lage sind wichtig, aber nicht kultur­spe­zi­fisch.
Dazu kommt wie erwartbar allerlei Gedöns: »Ansprech­partner für die Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft«. Warum nicht? Wer redet, ist nicht tot. Die Kultur­stif­tung des Bundes und die Bundes­kul­tur­fonds sollen »als Inno­va­ti­ons­treiber gestärkt werden«. Waren sie das bisher nicht? Warum denn nicht? Super Newspeak! Aber wie stärken? Mit Geld oder nur rheto­ri­schem Booster? Es gibt auch noch etwas mit »Green Culture« und ein bischen »globaler Süden«. Dazu eine »Bundes­stif­tung indus­tri­elles Welterbe« – aus Tage­bau­wüsten werden Kultur­parks.
Schöne Worte, wenig Substanz.

Aber bekommt die Kultur­staats­mi­nis­terin Minis­ter­rang? Das wäre real und daher wichtig. Dann braucht man die vielen Worte nicht.

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Derweil wird die Corona-Lage von Tag zu Tag schlimmer. Nein, ich meine jetzt nicht die Inzidenz-Zahlen und die Bele­gungs­rate der Kran­ken­haus­betten und Inten­siv­sta­tion. Das alles ist nicht schön, aber immer noch im beherrsch­baren Bereich. Wichtig ist, dass sich alle impfen lassen, auch alle Unge­impften, die das jetzt lesen – »impft’s euch endlich, Leute!« hatte passen­der­weise die Kollegin Dunja Bialas hier schon letzte Woche geschrieben.
Vor allem schlimm ist aber die gras­sie­rende Panik, die Feigheit und der voraus­ei­lende Behör­den­ge­horsam in der Kultur­szene. Nicht, dass mich das über­rascht, aber schlimm ist es trotzdem.

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Was gerade wieder in Deutsch­land passiert, ist krass – völlige Unver­hält­nis­mäßig­keit und Hysterie. Und es sind hier eben nicht die Behörden, bei all derem Versagen, sondern es sind die Bürger selbst in voraus­ei­lendem Gehorsam und angst­ge­trieben und komplett unver­hält­nis­mäßig – diese Reflexe der Mehrheit spiegelt die Wissen­schafts­feind­schaft der Minder­heit.

Apropos Behörden: Die Behör­den­ver­treter dürfen schon in vielen Feldern nicht mehr reisen. Die Behörden haben noch strengere Maßstäbe als die Privat­wirt­schaft, zu der auch die meisten Kinos und die meisten Film­schaf­fenden gehören.

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Eine angenehm entschie­dener und entspannte Wort­mel­dung kommt vom »Haupt­ver­band deutscher Film­theater«. Gestern forderte der HDF einheit­liche Rege­lungen und kriti­sierte scharf die Ungleich­be­hand­lung von Kultur und Kino gegenüber der Gastro­nomie und Hotel­lerie.
Der HDF hätte etwas deut­li­cher heraus­ar­beiten können, dass es darum geht, dass Kinos und Kultur­s­tätten ähnlich offen sein dürfen wie die Gastro­nomie, nicht anders­herum man auch die Gastro­nomie dicht macht. Wichtig sind aber die anderen Hinweise des Verbandes: Kinos sind sicher durch moderne Belüf­tungs­an­lagen und hohe Sicher­heits­stan­dards.
Auch die neue Auswer­tung von Daten der Luca-App zeigt, dass nicht Kinos die Verbrei­tungs­orte sind.

»Die Kinos haben in den vergan­genen Monaten ihr hohes Verant­wor­tungs­be­wusst­sein und die Fähigkeit, Kino als sicheren Ort zu gestalten, mehrfach unter Beweis gestellt. Es ist nicht nach­voll­ziehbar, dass gerade Kino und Kultur­ein­rich­tungen in einigen Ländern nur unter Einhal­tung sehr hoher Auflagen öffnen dürfen oder komplett geschlossen werden...«, erklärt Christine Berg, Vorstands­vor­sit­zende des HDF Kino. »Des Weiteren benötigen wir endlich eine einheit­liche Regelung hinsicht­lich 2G in allen Bundes­län­dern. Zudem stellt sich aus unserer Sicht eine 2G-Plus-Regel als ein Lockdown durch die Hintertür dar. Die Erfah­rungen aus den letzten Monaten haben gezeigt, dass die Test­pflicht ein großes Hemmnis für die Besucher ist. Ein erneuter Lockdown kann für viele Kinos das endgül­tige Aus bedeuten.«

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Gerade vor dem Hinter­grund solcher Forde­rungen ist es enttäu­schend, dass jetzt die ersten Kultur­ver­an­stal­tungen grundlos abgesagt werden und manche Kultur­schaf­fende in einen selbst­ver­ord­neten Lockdown gehen. Beispiel: Sowohl der Kongress des »Bundes­ver­band kommunale Film­ar­beit« als auch der Kongress »Zukunft deutscher Film«, die beide in der kommenden Woche in Frankfurt statt­finden sollten, wurden jetzt abgesagt.

Das halte ich kulturell, moralisch und politisch für ein komplett falsches Signal! Kneipen, Theater und Kinos sind auch offen, gegen eine Veran­stal­tung und 2G-Plus spricht absolut nichts.

Denn das Problem ist ja: Die Krise des Kinos ist aber nicht abgesagt, die verschärft sich gerade. Auch durch solches Verhalten. Mit ihr einher geht eine Krise der Medien. Von der Krise der Gesell­schaft mal gar nicht zu reden.

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Warum sollte man sich eigent­lich impfen lassen, wenn jetzt die Geimpften beginnen, ihre Veran­stal­tung abzusagen? Dann wartet man einfach aufs Frühjahr oder auf die Impf­pflicht, die kommen wird wie das Amen in der Kirche. Weil die Deutschen erst auf Pflicht und Zwang reagieren, nicht auf Einsicht und Aufklärung.

Ich verstehe nicht, woher dieser plötz­liche Hang an selbst­ge­wählten Lockdowns kommt. So etwas gibt es in keinem Land der Welt. Das ist ein kultu­reller Defekt in Deutsch­land.

Es war immer schon falsch, Kultur­schaf­fende und ihre Insti­tu­tionen dafür zu bezahlen, dass sie zuschließen und nicht performen, anstatt für das Öffnen.
Öffent­lich geför­derte Insti­tu­tionen können eher ein Beispiel setzen als kleine private.

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Die Gefahr ist groß, dass die Kultur zum Jammer­lappen der Gesell­schaft wird, und übersieht, dass sie nicht nur am Rock­zipfel von Mami Staat hängen darf, sondern selbst Verant­wor­tung über­nehmen muss.

Was aber heißt das? Es heißt: Das »Team Über­vor­sicht« darf nicht das Kommando haben.

Wir Kultur­schaf­fende sind selbst in der Verant­wor­tung. Wir haben auch die Verant­wor­tung, nicht über­trie­bene Panik vorzu­leben, sondern ein Zeichen für das Weiter­leben der Kultur zu setzen, und nicht für einen selbst­ge­wählten Lockdown aus voraus­ei­lendem Corona-Gehorsam.

Für mich wirft das die sehr, sehr grund­sätz­liche Frage auf: Wo steht die Kultur eigent­lich überhaupt? Und welches Zeichen geben wir als Kultur­schaf­fende? Für Mut oder für Vorsicht? Für Risiko oder für Sicher­heit? Für Wagnis oder für Feigheit?
Und wen unter­s­tützen wir in einer Situation, in der unsere Gesell­schaft sowieso schon längst gespalten ist? Die, die der Wissen­schaft vertrauen und sich impfen lassen, oder die Beden­ken­täger, die Wissen­schafts­feinde und die Irra­tio­nalen?
Zur Zeit steht die Kultur in der vordersten Reihe der Beden­ken­träger und Über­vor­sich­tigen. Da möchte ich nicht stehen. Ich möchte bei denen stehen, die sich allgemein etwas trauen und die hier sehr konkret ein Zeichen gegen Angst, Wissen­schafts­leug­nung und Gegen­auf­klärung setzen.

Das heißt: Wir müssen aufhören Vers­tändnis zu haben. Es haben immer alle für alles Vers­tändnis. Für Impf­gegner, Wissen­schafts­feinde, Esote­riker, Anthro­po­so­phen, Verschwörungs­theo­re­tiker, Voll­idioten. Dieses univer­sale Vers­tändnis ist das größte Problem.
Man muss keine Impf­gegner verstehen. Man muss keine Wissen­schafts­feinde verstehen. Man muss keine Verschwörungs­theo­re­tiker verstehen. Man muss sie bekämpfen!

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Wir Kultur­schaf­fende sind auch verant­wort­lich für die Leute, die auf solche Veran­stal­tungen kommen wollen, die sie besuchen wollen, und die sich, aus welchen Gründen auch immer, auf die Veran­stal­tung freuen. Jeder, der jetzt etwas dicht macht, ist auch für die Folgen verant­wort­lich. Es gibt nämlich noch andere Folgen als nur die Krank­heits­folgen.

Schließungen und Absagen sind das total falsche Signal – politisch und moralisch und kulturell. Man sollte gerade jetzt auch anderen Leuten signa­li­sieren, was Mut und Risiko bedeuten, und ein Beispiel setzen, was alles geht und möglich ist, und dass, wenn etwas streng durch­ge­führt wird, nichts passiert.

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Die Kultur­schaf­fenden sind nicht die Hofnarren. Nicht die für Spaß und Unter­hal­tung Zustän­digen, die, wenn es ernst wird, als erste das Weite suchen. Solche Leute nimmt niemand ernst. Solche Leute bekommen auch kein eigenes Minis­te­rium.
Die Kultur­schaf­fenden müssen jetzt und hier sagen: Wir trauen uns das jetzt. Wir wollen die Unge­impften bei unseren Veran­stal­tungen nicht sehen. Aber die Geimpften sollen kommen können. Und wer nicht kommen will, der ist selber schuld. Aber der verpasst etwas.

Es ist wie in der Schule: Man kann sich nicht immer an dem lang­samsten, dümmsten und faulsten Schüler ausrichten. Und genau das muss man auch allen Verbänden und allen Betrof­fenen des kultu­rellen Lebens kommu­ni­zieren.
In unseren Kultur­in­sti­tu­tionen sitzen zur Zeit unglaub­lich viele Beden­ken­träger. Sie bilden leider die Mehrheit. Und so ist auch unsere Kultur, nicht zuletzt der deutsche Film. Aber auch das Risiko gehört zur Kultur.

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Nächste Woche reden wir dann darüber, ob auch die Berlinale abgesagt wird.

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»Wulla, die ihm den Apfelsaft brachte, sah ihn besorgt an. Sie war groß und kräftig, aber nicht dick, hatte ein gesundes, fröh­li­ches Gesicht, und während sie den Apfelsaft aus der Karaffe ins Glas goß, sagte sie: 'Sie sollten Ihren Urlaub nehmen, Herr Doktor, und das Rauchen besser lassen.' Früher hatte sie sich Wilfriede-Ulla genannt, dann aber den Namen der Einfach­heit halber zu Wulla zusam­men­ge­zogen. Sie hatte einen beson­deren Respekt vor den Leuten von der kultu­rellen Abteilung.
'Lassen Sie mich in Ruhe', sagte Murke, 'bitte lassen Sie mich!'
'Und Sie sollten mal mit ’nem einfachen netten Mädchen ins Kino gehen', sagte Wulla. 'Das werde ich heute abend tun', sagte Murke, 'ich verspreche es Ihnen.'«

(to be continued)