Cinema Moralia – Folge 258
Haus ohne Hüter |
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Als wir den Humor verloren | ||
(Foto: Social Media) |
»Er kniff die Augen zu, lauschte aber, ohne es zu wollen, auf das Gespräch der freien Mitarbeiter in der Ecke, die sich leidenschaftlich über Kunst zu streiten schienen; jedesmal, wenn einer von ihnen 'Kunst' rief, zuckte Murke zusammen. Es ist, als ob man ausgepeitscht würde, dachte er.«
Heinrich Böll, »Dr. Murkes gesammeltes Schweigen«
Die neue Koalition ist da! Und die Ampel wartet gleich mit einer Überraschung im Kulturbereich auf: Im Koalitionsvertrag steht auf Seite 179: »Die Staatsministerin für Kultur und Medien stellt Bündnis 90 /Die Grünen.« Damit ist klar: Die Nachfolge von Monika Grütters als Kulturstaatsministerin soll erstmals nicht von der Partei des Kanzlers gestellt werden, sondern von den Grünen. Noch wurde kein Name bekannt, manches scheint hier allerdings für die jetzige Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth zu sprechen. Die Parteilinke muss abgefunden werden. Oder wird es doch eine Außenseiterin aus den Ländern? Gegen die von manchen favorisierte bayerische Medienpolitikerin Sanne Kurz spricht der auch bei den Grünen geltende altparteienhafte Länderproporz. Denn mit Anton Hofreiter gilt bereits ein bayerischer Grüner bei der Ministervergabe als gesetzt.
Mit dieser Nachricht ist bedauerlicherweise auch jener Sozialdemokrat erstmal aus dem Rennen, auf den viele ihre Hoffnung gesetzt hatten: Carsten Brosda, der aus dem Ruhrgebiet stammende Hamburger Kultursenator.
Auch sonst hält der in Vielem modernisierungsfreundliche, vom Fortschrittsgedanken bestimmte Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für den Kultursektor einige, zum Teil allerdings absehbare Enttäuschungen bereit. Es wird kein Bundeskulturministerium geben. Es bleibt bei einer Staatsministerin für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt. Das Staatsziel Kultur soll allerdings im Grundgesetz verankert werden.
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Die Filmpolitik wird auf absehbare Zeit grundsätzlich so weiter vor sich hingurken, wie in den Jahren unter Grütters: Verbändeanhörungen, viel Klein-Klein, etwas mehr Privatwirtschaft, etwas mehr Ornamentales wie Frauenförderung und Grünes Drehen, das aber an der kulturellen Substanz, am maroden Gesamtzustand des deutschen Films und an der Ohnmacht gegenüber den großen Playern in den USA und zunehmend in Asien nichts ändern wird.
Im Abschnitt zur »Kultur- und
Medienpolitik« heißt es im Koalitionsvertrag ab Seite 121 unter anderem aber immerhin: »Mit der Filmförderungsnovelle wollen wir die Filmförderinstrumente des Bundes und die Rahmenbedingungen des Filmmarktes neu ordnen, vereinfachen und transparenter machen, in enger Abstimmung mit der Filmbranche und den Ländern. Wir prüfen die Einführung von Investitionsverpflichtungen und steuerlichen Anreizmodellen und schaffen gesetzliche Rahmenbedingungen, um die
steuerliche Behandlung von Filmkoproduktionen rechtssicher zu gestalten.« Ähnliches war auch schon von der SPD zu hören. Vor allem aber ist da die Handschrift der FDP spürbar, der Koalitionspartei, die noch am ehesten etwas grundsätzlich verändern will. Fragt sich bloß, ob in die richtige Richtung.
Weiter steht an gleicher Stelle: »Kinos und Festivals fördern wir verlässlich und bewahren unser nationales Filmerbe.«
Was mit diesen Floskeln substantiell gemeint ist, bleibt völlig offen.
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Insgesamt soll ein Plenum der Kultur etabliert werden, an dem Länder, Kommunen, Kulturproduzenten, Verbände und Zivilgesellschaft beteiligt werden und besser kooperieren sollen.
Die Neustart-Programme sollen fortgeführt werden, um den Übergang aus der Pandemie abzusichern. Mehr Kultur im ländlichen Raum – und das hoffentlich nicht auf Kosten der Städte.
Gender Pay Gap, Mindesthonorierungen, Sicherung für Soloselbständige und überhaupt das Thema soziale Lage
sind wichtig, aber nicht kulturspezifisch.
Dazu kommt wie erwartbar allerlei Gedöns: »Ansprechpartner für die Kultur- und Kreativwirtschaft«. Warum nicht? Wer redet, ist nicht tot. Die Kulturstiftung des Bundes und die Bundeskulturfonds sollen »als Innovationstreiber gestärkt werden«. Waren sie das bisher nicht? Warum denn nicht? Super Newspeak! Aber wie stärken? Mit Geld oder nur rhetorischem Booster? Es gibt auch noch etwas mit »Green Culture« und ein bischen »globaler
Süden«. Dazu eine »Bundesstiftung industrielles Welterbe« – aus Tagebauwüsten werden Kulturparks.
Schöne Worte, wenig Substanz.
Aber bekommt die Kulturstaatsministerin Ministerrang? Das wäre real und daher wichtig. Dann braucht man die vielen Worte nicht.
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Derweil wird die Corona-Lage von Tag zu Tag schlimmer. Nein, ich meine jetzt nicht die Inzidenz-Zahlen und die Belegungsrate der Krankenhausbetten und Intensivstation. Das alles ist nicht schön, aber immer noch im beherrschbaren Bereich. Wichtig ist, dass sich alle impfen lassen, auch alle Ungeimpften, die das jetzt lesen – »impft’s euch endlich, Leute!« hatte passenderweise die Kollegin Dunja Bialas hier schon letzte Woche geschrieben.
Vor allem schlimm ist aber
die grassierende Panik, die Feigheit und der vorauseilende Behördengehorsam in der Kulturszene. Nicht, dass mich das überrascht, aber schlimm ist es trotzdem.
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Was gerade wieder in Deutschland passiert, ist krass – völlige Unverhältnismäßigkeit und Hysterie. Und es sind hier eben nicht die Behörden, bei all derem Versagen, sondern es sind die Bürger selbst in vorauseilendem Gehorsam und angstgetrieben und komplett unverhältnismäßig – diese Reflexe der Mehrheit spiegelt die Wissenschaftsfeindschaft der Minderheit.
Apropos Behörden: Die Behördenvertreter dürfen schon in vielen Feldern nicht mehr reisen. Die Behörden haben noch strengere Maßstäbe als die Privatwirtschaft, zu der auch die meisten Kinos und die meisten Filmschaffenden gehören.
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Eine angenehm entschiedener und entspannte Wortmeldung kommt vom »Hauptverband deutscher Filmtheater«. Gestern forderte der HDF einheitliche Regelungen und kritisierte scharf die Ungleichbehandlung von Kultur und Kino gegenüber der Gastronomie und Hotellerie.
Der HDF hätte etwas deutlicher herausarbeiten können, dass es darum geht, dass Kinos und Kulturstätten
ähnlich offen sein dürfen wie die Gastronomie, nicht andersherum man auch die Gastronomie dicht macht. Wichtig sind aber die anderen Hinweise des Verbandes: Kinos sind sicher durch moderne Belüftungsanlagen und hohe Sicherheitsstandards.
Auch die neue Auswertung von Daten der Luca-App zeigt, dass nicht Kinos die Verbreitungsorte sind.
»Die Kinos haben in den vergangenen Monaten ihr hohes Verantwortungsbewusstsein und die Fähigkeit, Kino als sicheren Ort zu gestalten, mehrfach unter Beweis gestellt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass gerade Kino und Kultureinrichtungen in einigen Ländern nur unter Einhaltung sehr hoher Auflagen öffnen dürfen oder komplett geschlossen werden...«, erklärt Christine Berg, Vorstandsvorsitzende des HDF Kino. »Des Weiteren benötigen wir endlich eine einheitliche Regelung hinsichtlich 2G in allen Bundesländern. Zudem stellt sich aus unserer Sicht eine 2G-Plus-Regel als ein Lockdown durch die Hintertür dar. Die Erfahrungen aus den letzten Monaten haben gezeigt, dass die Testpflicht ein großes Hemmnis für die Besucher ist. Ein erneuter Lockdown kann für viele Kinos das endgültige Aus bedeuten.«
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Gerade vor dem Hintergrund solcher Forderungen ist es enttäuschend, dass jetzt die ersten Kulturveranstaltungen grundlos abgesagt werden und manche Kulturschaffende in einen selbstverordneten Lockdown gehen. Beispiel: Sowohl der Kongress des »Bundesverband kommunale Filmarbeit« als auch der Kongress »Zukunft deutscher Film«, die beide in der kommenden Woche in Frankfurt stattfinden sollten, wurden jetzt abgesagt.
Das halte ich kulturell, moralisch und politisch für ein komplett falsches Signal! Kneipen, Theater und Kinos sind auch offen, gegen eine Veranstaltung und 2G-Plus spricht absolut nichts.
Denn das Problem ist ja: Die Krise des Kinos ist aber nicht abgesagt, die verschärft sich gerade. Auch durch solches Verhalten. Mit ihr einher geht eine Krise der Medien. Von der Krise der Gesellschaft mal gar nicht zu reden.
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Warum sollte man sich eigentlich impfen lassen, wenn jetzt die Geimpften beginnen, ihre Veranstaltung abzusagen? Dann wartet man einfach aufs Frühjahr oder auf die Impfpflicht, die kommen wird wie das Amen in der Kirche. Weil die Deutschen erst auf Pflicht und Zwang reagieren, nicht auf Einsicht und Aufklärung.
Ich verstehe nicht, woher dieser plötzliche Hang an selbstgewählten Lockdowns kommt. So etwas gibt es in keinem Land der Welt. Das ist ein kultureller Defekt in Deutschland.
Es war immer schon falsch, Kulturschaffende und ihre Institutionen dafür zu bezahlen, dass sie zuschließen und nicht performen, anstatt für das Öffnen.
Öffentlich geförderte Institutionen können eher ein Beispiel setzen als kleine private.
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Die Gefahr ist groß, dass die Kultur zum Jammerlappen der Gesellschaft wird, und übersieht, dass sie nicht nur am Rockzipfel von Mami Staat hängen darf, sondern selbst Verantwortung übernehmen muss.
Was aber heißt das? Es heißt: Das »Team Übervorsicht« darf nicht das Kommando haben.
Wir Kulturschaffende sind selbst in der Verantwortung. Wir haben auch die Verantwortung, nicht übertriebene Panik vorzuleben, sondern ein Zeichen für das Weiterleben der Kultur zu setzen, und nicht für einen selbstgewählten Lockdown aus vorauseilendem Corona-Gehorsam.
Für mich wirft das die sehr, sehr grundsätzliche Frage auf: Wo steht die Kultur eigentlich überhaupt? Und welches Zeichen geben wir als Kulturschaffende? Für Mut oder für Vorsicht? Für Risiko oder für Sicherheit? Für Wagnis oder für Feigheit?
Und wen unterstützen wir in einer Situation, in der unsere Gesellschaft sowieso schon längst gespalten ist? Die, die der Wissenschaft vertrauen und sich impfen lassen, oder die Bedenkentäger, die Wissenschaftsfeinde und die
Irrationalen?
Zur Zeit steht die Kultur in der vordersten Reihe der Bedenkenträger und Übervorsichtigen. Da möchte ich nicht stehen. Ich möchte bei denen stehen, die sich allgemein etwas trauen und die hier sehr konkret ein Zeichen gegen Angst, Wissenschaftsleugnung und Gegenaufklärung setzen.
Das heißt: Wir müssen aufhören Verständnis zu haben. Es haben immer alle für alles Verständnis. Für Impfgegner, Wissenschaftsfeinde, Esoteriker, Anthroposophen, Verschwörungstheoretiker, Vollidioten. Dieses universale Verständnis ist das größte Problem.
Man muss keine Impfgegner verstehen. Man muss keine Wissenschaftsfeinde verstehen. Man muss keine Verschwörungstheoretiker verstehen. Man muss sie bekämpfen!
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Wir Kulturschaffende sind auch verantwortlich für die Leute, die auf solche Veranstaltungen kommen wollen, die sie besuchen wollen, und die sich, aus welchen Gründen auch immer, auf die Veranstaltung freuen. Jeder, der jetzt etwas dicht macht, ist auch für die Folgen verantwortlich. Es gibt nämlich noch andere Folgen als nur die Krankheitsfolgen.
Schließungen und Absagen sind das total falsche Signal – politisch und moralisch und kulturell. Man sollte gerade jetzt auch anderen Leuten signalisieren, was Mut und Risiko bedeuten, und ein Beispiel setzen, was alles geht und möglich ist, und dass, wenn etwas streng durchgeführt wird, nichts passiert.
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Die Kulturschaffenden sind nicht die Hofnarren. Nicht die für Spaß und Unterhaltung Zuständigen, die, wenn es ernst wird, als erste das Weite suchen. Solche Leute nimmt niemand ernst. Solche Leute bekommen auch kein eigenes Ministerium.
Die Kulturschaffenden müssen jetzt und hier sagen: Wir trauen uns das jetzt. Wir wollen die Ungeimpften bei unseren Veranstaltungen nicht sehen. Aber die Geimpften sollen kommen können. Und wer nicht kommen will, der ist selber schuld. Aber der
verpasst etwas.
Es ist wie in der Schule: Man kann sich nicht immer an dem langsamsten, dümmsten und faulsten Schüler ausrichten. Und genau das muss man auch allen Verbänden und allen Betroffenen des kulturellen Lebens kommunizieren.
In unseren Kulturinstitutionen sitzen zur Zeit unglaublich viele Bedenkenträger. Sie bilden leider die Mehrheit. Und so ist auch unsere Kultur, nicht zuletzt der deutsche Film. Aber auch das Risiko gehört zur Kultur.
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Nächste Woche reden wir dann darüber, ob auch die Berlinale abgesagt wird.
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»Wulla, die ihm den Apfelsaft brachte, sah ihn besorgt an. Sie war groß und kräftig, aber nicht dick, hatte ein gesundes, fröhliches Gesicht, und während sie den Apfelsaft aus der Karaffe ins Glas goß, sagte sie: 'Sie sollten Ihren Urlaub nehmen, Herr Doktor, und das Rauchen besser lassen.' Früher hatte sie sich Wilfriede-Ulla genannt, dann aber den Namen der Einfachheit halber zu Wulla zusammengezogen. Sie hatte einen besonderen Respekt vor den Leuten von der kulturellen
Abteilung.
'Lassen Sie mich in Ruhe', sagte Murke, 'bitte lassen Sie mich!'
'Und Sie sollten mal mit ’nem einfachen netten Mädchen ins Kino gehen', sagte Wulla. 'Das werde ich heute abend tun', sagte Murke, 'ich verspreche es Ihnen.'«
(to be continued)