Cinema Moralia – Folge 260
Im Zeitenwechsel |
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Fassungslosigkeit ob der Déjà-vus aller Orten – einer von vielen abgesagten Winterstarts: Sönke Wortmanns Der Nachname | ||
(Foto: Constantin) |
»Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.«Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
- Bertolt Brecht, »Am Grunde der Moldau«
Die Filmbewertungsstelle (FBW) hat es neulich für nötig gehalten, den neuesten James Bond mit dem Prädikat »besonders wertvoll« zu versehen. Warum? Weil James Bond stirbt, weil es endlich der letzte mit Daniel Craig ist?
Man rauft sich die Haare. Denn der Verleih hat keinen ernsthaften Gewinn von dem Prädikat, von ein paar Punkten bei der Referenzförderung der FFA abgesehen. Die
FBW verliert mit solchen Entscheidungen das Wenige, das dieser Institution noch an Anerkennung geblieben ist. Denn ohne Frage ist die FBW aus vielen Gründen fragwürdig und historisch überholt. Zudem ist die FBW auch ökonomisch ein Minusgeschäft, in mehreren der letzten Jahre hat sie finanzielle Verluste gemacht.
Die Hauptfrage, die die schiere Existenz der FBW aufwirft, ist aber eine andere: Warum soll der Staat Prädikate vergeben, welche Filme »wertvoll« sind? Und warum, nach welchen Kriterien?
Theoretisch besteht die FBW aus einem unabhängigen Gremium aus sogenannten »Experten«. Nicht wenige in der Branche halten beides für »Augenwischerei«. Ein Blick auf die einzelnen Personen relativiert diesen Expertenstatus bereits gewaltig. Auch ihre Berufung geschieht in einer Grauzone: Weil
sie von den jeweiligen Bundesländern berufen werden.
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In gut vier Wochen, Ende Januar jährt sich das Auftauchen des Coronavirus in Deutschland zum zweiten Mal. Das dritte Corona-Jahr in Folge steht uns bevor. Es sieht nicht so aus, als hätte Deutschland, als hätten die Regierenden in Bund, Ländern und Städten, oder wenigstens die Verantwortlichen in der Kultur, insbesondere in der nicht staatlich alimentierten Kultur des Kinos viel gelernt. Stattdessen Déjà-vus aller Orten.
Wenn ich sage, »uns« stehe ein drittes Coronajahr bevor, dann meint das uns Kinogänger, aber auch uns alle, die wir teilhaben an der Kino-Branche und Kinokultur der Bundesrepublik.
Ein drittes Coronajahr heißt, dass sich alle Beteiligten darauf einstellen können, dass auch im Frühjahr, wenn sich die Lage voraussichtlich wieder entspannen wird, nicht etwa das Ende der Pandemie angesagt ist, sondern nur ein kurzer Frühling der Entspannung.
Davor werden viele Veranstaltungen, Kinopremieren und Filmfestivals – auch die nächste Berlinale – abgesagt worden sein. Ein erstes, für die Berlinale ungünstiges öffentliches Vorzeichen kam bereits in der vergangenen Woche:
Wir erleben im Augenblick einen kompletten Zusammenbruch des Kinomarktes. Die attraktiven Filme werden weggenommen. Jede weitere Maßnahme tut ein Übriges. Wir erleben einen Lockdown durch die Hintertür. Das Kino ist wieder ein Raum der Unsicherheit.
Verleiher verschieben daher stündlich ihre Filme ins kommende Frühjahr. Alle möglichen Kinostarts rücken vom Dezember und vor allem vom Januar weg in den März oder April. Hinzu kommt die Verknappung der Kapazitäten in den Kinos durch die verschärften Abstandsregelungen und sonstige Pandemie-Eindämmungsmaßnahmen.
Sie rechnen daher nicht damit, dass sich vor April/Mai die Verhältnisse normalisieren werden und die Zuschauer wieder im relevanten Maße kommen werden. Es kommt zu
einem erneuten Filmstau und die Geschehnisse des Jahres 2021 bilden die Blaupause auch für das kommende Jahr.
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Die Filmbranche hat in der Pandemie total versagt. Es gibt bislang kein gemeinsames Handeln in der Kinoszene. Wie zu Beginn der Pandemie kämpft auch jetzt jeder für sich und im Zweifelsfall gegen alle anderen. Der Kuchen scheint begrenzt, darum möchte jeder das größte Stück von ihm abbekommen, und die Kirsche auf der Torte noch dazu.
Die Kirsche ging bisher an die Kinos, insbesondere die sogenannten Arthouse-Kinos, die in der AG Kino organisiert werden. Zugunsten der Kinos hat es in den vergangenen knapp zwei Jahren eine Überkompensation gegeben. Das heißt, die Kinos sind durch die Hilfsmaßnahmen sehr gut unterstützt worden, manche zu gut. In der Wahrnehmung der Branche haben sich manche Kinos durch die Pandemie geradezu saniert.
Demgegenüber sind andere Teile der Branche zu schlecht behandelt worden: Während die Kinos von der Kulturpolitik als sensible Kunstkuratoren wahrgenommen wurden, hat man in den Verleihern schmierige Wurst- und Autoreifen-Verkäufer gesehen. Diese Sicht auf die Branche belegt einmal mehr, dass die Kulturpolitik so gut wie nichts vom tatsächlichen Kino-System und Kino-Geschäft versteht.
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Apropos Kulturpolitik: Wenn zwei sich streiten, freut sich die Dritte. Noch immer, zwei Wochen nach der Ernennung von Claudia Roth zur neuen Kulturstaatsministerin, hat die Kultur- und Filmszene und ihre medialen Beobachter diese Entscheidung noch nicht verdaut. Es war ein Paukenschlag, den niemand erwartet hatte.
Als »gesetzt« für die Position der Grütters-Nachfolge galt eigentlich der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda. Als Sozialdemokrat, Scholz-Vertrauter und vor allem als eine der prägnantesten Stimmen der Kulturpolitik schien ihn nichts verhindern zu können. Nur einzelne warnende Stimmen wiesen früh, schon Anfang Oktober darauf hin, dass es mit Brosda vielleicht ein bisschen »zuviel Hamburg« wäre. Schließlich kommen schon der zukünftige Kanzler und sein wichtigster
Mitarbeiter, der neue Kanzleramtschef Wolfgang Schmitt, aus der Hansestadt.
Trotzdem: Was Brosda wohl tatsächlich verhinderte, war der persönliche Ehrgeiz einer Parteifreundin: Michelle Müntefering, eher bekannt als Frau des doppelt so alten ehemaligen SPD-Vorsitzenden denn in ihrer Funktion als Staatsministerin für internationale Kulturpolitik im Ministerium von Heiko Maas. Offenbar hielt sich Müntefering für das Amt für geeignet und konnte auf die Unterstützung
alter NRW-Seilschaften, der Parteilinken und der SPD-Frauenfraktion rechnen. Das alles reichte zwar nicht für das Amt, aber dazu, Brosda von der Kandidatenliste zu streichen. Soweit eine der Geschichten, die jetzt in Berlin erzählt werden.
Was auch immer genau bei den Koalitionsverhandlungen in Sachen Kultur passiert ist, es ist jedenfalls eine groteske Fehlentscheidung von der SPD, die Kulturpolitik preiszugeben. Und erst recht an die Grünen, die in ziemlich jedem Thema profilierter sind als hier. Denn zur grünen Kulturpolitik fällt einem auch nach längerem Nachdenken nicht viel mehr ein als multikulturelle Stadtteilfeste.
Zwang zum »Green-Producing« und Diversity-Partys können eine vernünftige Filmpolitik jedenfalls nicht ersetzen. Gerade zum »Green-Producing« ist zu sagen, dass es sich in erster Linie um wohlfeile Kosmetik handelt, die den Funktionären gute Gefühle verschafft, dass es aber vor allem die Independent-Produzenten sind, die zurzeit darunter leiden, weil Förderer und Fernsehsender Selbstverpflichtungen unterschrieben haben, die nicht etwa sie selbst verpflichten, sondern die von ihnen beauftragten Produzenten. Denn mit den Verpflichtungen zur Nachhaltigkeit und anderem geht keineswegs eine Erhöhung der entsprechenden Etats einher. Für eine große Firma – zum Beispiel die Münchner Constantin-Film – ist die Beschäftigung einer Nachhaltigkeitsbeauftragten nicht weiter aufwendig. Für eine kleine Firma können die entsprechenden Kosten schnell existenzbedrohend werden.
Noch viel wichtiger ist aber, dass all die schönen bisher beschlossenen Maßnahmen so gut wie keine Klimaeffekte haben im Verhältnis zum mit Abstand größten Klimakiller der deutschen Filmproduktion: Dem Fördertourismus. Also der Tatsache, dass man in Deutschland nur dann einen Film herstellen kann, wenn mindestens zwei, oft genug fünf oder mehr Länderförderer bzw. regionale Sender in irgendeiner Weise beteiligt sind. Deutsche Produzenten sind also gegen ihren Willen und gegen ihre Überzeugung zu aufwendigen Reisen und Umzügen gezwungen. Das macht die Filme schlechter und vor allem teurer, und es hat gewaltige negative Umwelteffekte. Wer das Klima schonen will, der muss diesen Fördertourismus ersatzlos abschaffen – mit der Pointe, dass damit auch der Filmkunst geholfen wird.
Wer jetzt einwenden möchte, dass dies unmöglich und »viel zu kompliziert« sei, dem kann man antworten, dass es längst sehr konkrete, sehr praktische, unkomplizierte und sehr schnell umsetzbare Vorschläge dafür gibt, den Fördertourismus ersatzlos zu streichen. Sie laufen auf eine Tauschbörse für sogenannte Länder-Effekte hinaus.
Man kann da also, wenn es angeblich nicht anders geht, den ganzen übrigen Unsinn des deutschen Fördersystems, mit seinen Zwängen, Gelder in Regionen auszugeben, in denen man sie nicht ausgeben will, so erhalten, wie es ist, und einfach nur dafür sorgen, dass Produktionsfirmen mit diesen untereinander handeln können.
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Jeder hat die Chance verdient, sich zu bewähren und Vorurteile beiseite zu räumen. Diese Chance wird Claudia Roth allerdings auch brauchen. Und sie wird sie sehr bald bekommen. Denn vor der neuen Kulturstaatsministerin liegen viele Aufgaben.
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Die Allerwichtigste von ihnen ist das nächste FFG. Also die Novelle des Filmfördergesetzes (FFG), die im kommenden Jahr ansteht.
Hier gibt es unglaublich viele Baustellen und die deutsche Filmbranche ist gleichzeitig wie oben geschildert zerrissen und gespalten in ihren von der Politik und der Gesetzgebung der letzten zwei Jahrzehnte geförderten Interessensgegensätzen. Und sie ist sich einig darin, dass es so nicht weitergehen kann. Oft auch einig sind sie sich in
konkreten Vorschlägen.
In jedem Fall ist klar: Eine Überprüfung des kompletten Systems ist unabdinglich! Der bisherige Wahnsinn der deutschen Filmförderung muss endlich aufhören. Der deutsche Film braucht einen Paradigmenwechsel, eine Überprüfung der bisherigen Filmförderung anhand ihrer eigenen Kriterien und eine Koordination der verschiedenen, bislang oft widersprüchlichen Förderinstrumente.
Das FFG ist nicht das 17. Fördergesetz neben den Gesetzen von 16 Bundesländern. Sondern ein gutes neues FFG kann und wird als Leitlinie für die Länderförderer dienen.
Es wäre wünschenswert, dass Claudia Roth ziemlich bald am Anfang ihrer Amtszeit einen runden Tisch zu einem Neustart der Filmförderung einberuft. Filmpolitik, unter Monika Grütters oft nur notwendiges Übel, muss wieder zur Chefsache und zur Passion der BKM werden.
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Die aktuellste aller Aufgaben ist eine, mit der die Kulturstaatsministerin formal überhaupt nichts zu tun hat. Umso mehr kann sie politisch etwas bewirken. Gerade weil es jenseits ihrer Zuständigkeit liegt, kann sie Vorschläge machen und Wünsche äußern.
Es handelt sich um den neuen Medienstaatsvertrag, die früher Rundfunkstaatsvertrag genannte Grundlage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Dieser ist die Chance für das BKM, sich zu profilieren, voranzugehen, und dabei einen Großteil der Kulturschaffenden mitzunehmen.
Denn recht unverhohlen machen die Sender klar: Sie wollen raus aus den Kino-Coproduktionen. Sie wollen nur noch das Programm machen, »was unser Publikum sehen möchte.« Also Serien und anspruchsloses Unterhaltungsprogramm.
Das darf man ihnen nicht durchgehen lassen. Denn es ist entgegen mancher Wünsche aus Macherkreisen keineswegs wünschenswert, wenn die Sender aus der Filmförderung rausgehen.
Es handelt sich immerhin um öffentlich-rechtliche Sender, nicht um Privatsender. Man kann diese nicht einfach aus ihren angestammten Verpflichtungen entlassen. Sie bekommen Gebührengeld nicht, um damit zu tun, was sie wollen, sondern um einen Programmauftrag zu erfüllen. Zu diesem gehört Kultur.
Sender sollten zwar in Zukunft nicht mehr in den Jurys mitreden, und ihre finanzielle Beteiligung nicht mehr Voraussetzung einer positiven Förderentscheidung sein, sondern umgekehrt Ankaufs-Verpflichtungen haben, nach dem Vorbild der österreichischen und der schweizer Regelungen.
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Bereits am 14. Januar ist die Deadline für die Abgabe der Stellungnahmen zum Medienstaatsvertrag. Allerdings können nicht nur Verbände und Parteien solche Stellungnahmen abgeben, sondern jeder Bürger. Also auch jeder von euch, liebe artechock-Leser!
Zu diesem Thema müssen wir uns in den nächsten Wochen noch selber besser einarbeiten, danach folgen detailliertere Informationen und Vorschläge.
Anregungen der Leser sind wie immer willkommen.
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Die nächsten Monate bringen noch mehr. Sie bringen zum Beispiel Neuwahlen in wichtigen Institutionen und Verbänden: Die Filmakademie wird einen neuen Vorstand wählen; und sie braucht einen neuen Präsidenten. Ulrich Matthes hat nämlich angekündigt, dass er für die nächste Amtszeit nicht mehr zur Verfügung steht. So richtig wirkungsvoll ist er nicht gewesen, trotz ein paar schöner Sonntagsreden. Denn unter der Woche passierte nichts Sichtbares. Und durch die Pandemie wurde Matthes doppelt überfordert: Die Filmakademie, die gerade gegenüber der Berliner Politik eine große Lobbywirkung für Film und Kino hätte entfalten können, schien in der wichtigsten aller deutschen Kultur-Debatten der letzten zwei Jahre abgetaucht. Zur Stimme des deutschen Films wurden stattdessen einzelne Verbände, nicht zuletzt welche, die allenfalls für sich selbst sprechen können, gewiss aber nicht für die Gesamtheit der deutschen Filmbranche – wie etwa die AG Kino, ein einzelner von insgesamt drei deutschen Kinoverbänden.
Es wird für die Filmakademie nicht einfach werden, eine Nachfolge zu finden: Wer in der deutschen Filmszene hätte ein ähnliches Gewicht, ähnliche öffentliche Wirkung und eine ähnliche Fähigkeit, widerstreitende Interessen miteinander zu vereinen, wie dies Bruno Ganz, Senta Berger, Iris Berben und Ulrich Matthes bisher getan haben?
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Neuwahlen gibt es auch bei der AG Dok. Das dürfte spannend werden, da bereits vor der Lovemobil-Debatte im Frühjahr gewisse Spannungen kaum übersehbar waren. Über 30 Jahre wurde die AG Dok seit 1986 von Thomas Frickel geführt und politisch zu einer so klaren wie verlässlichen Stimme in der Filmbranche ausgebaut. 2020 trat Frickel ab. Die von ihm hinterlassene Lücke ist seitdem weder in der öffentlichen Wahrnehmung des Verbandes noch in der politischen Wirkungskraft gefüllt worden. Dabei gibt es keinen Grund, die AG Dok, mit rund 950 Mitgliedern einer der stärksten und finanzkräftigsten Branchenverbände, zu unterschätzen. Eher wirkt die AG Dok zur Zeit wie ein schlafender Riese. Hoffen wir mal, es findet sich bald eine Prinzessin, die ihn wachküsst. Und, dass dann kein Frosch draus wird.
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Roland Zag ist Autor, Dramaturg, Lektor und Drehbuchberater. In diesen Funktionen ist er an vielen Dutzend Filmen beteiligt, die uns allen bekannt sind; ebenso auch an manchen Arbeiten, die bisher (noch) unverfilmt blieben. Seit Jahren denkt er auch über das Medium Kino als Ganzes nach. Wie uns bei artechock, geht es Roland Zag dabei um das Kino als Ganzheit, als Raum des Künstlerischen, der mehr ist als ein Ort, wo Filme laufen, der zu Geselligkeit und Gesellschaftsbildung beiträgt.
In seinem »Epilog auf die Zukunft des Kinos« – mit Fragezeichen! – erinnert Zag nicht ohne Pathos an die überlegene Bild-und Tonqualität des Kinos, vor allem aber an Gemeinschaftsgefühle und Katharsis-Erfahrungen im Kollektiv. Als Folge niederschwelliger Plattformisierung und Digitalisierung der Kultur drohe dem Film losgelöst von seinem angestammten Kinoort der Verlust von Sinn und Unverwechselbarkeit und in letzter Konsequenz das Schicksal, abhanden zu kommen.
(to be continued)