Cinema Moralia – Folge 259
Die Macht der Bilder |
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80 ist das neue 60: Ridley Scotts House of Gucci | ||
(Foto: Universal) |
»Ich bin nicht frei, ich kann nur wählen/
Welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen
Keine Macht für Niemand / Keine Macht für Niemand«
- Ton Steine Scherben
Eigentlich müsste man diese beiden Filme zusammen besprechen. Denn sie haben eine Menge gemeinsam. Ihre Regisseure sind beide 83 Jahre alt und zeigen wenig Zeichen der Erschöpfung. Sie scheinen eher die Behauptung zu bestätigen, 80 sei das neue 60.
House of Gucci von Ridley Scott und Benedetta von Paul Verhoeven feiern außerdem zwei Essenzen des Kinos, die in unserer Gegenwart allzu oft vergessen werden: Die Zeigelust und den Voyeurismus. Denn Kino ist mehr als die Handlung der Filme; Kino ist mehr als die Geschichten; Kino ist mehr als Figuren, die uns interessieren, und Psychologien, die wir verstehen.
Das Prinzip, dass das Kino eine Zeigekunst ist, keine Erzählkunst, wird schon deswegen außer Acht gelassen, weil Filme heute noch auf den kleinsten Bildschirmen funktionieren müssen, und weil man sie »ansehen« können muss, ohne hinzuschauen: Beim Gang in die Küche, beim Bügeln, auf dem Sofa, aber den Blick nicht auf den Fernseher, sondern auf die neue Glotze, das Smartphone, gerichtet.
So wie unsere Gesellschaft gerade, assistiert von den vielen neuen Sprachassistenten und Umwandlungsprogrammen, das Schreiben verlernt, verlernt sie auch das Sehen.
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»Schuld ist diesmal der Scheißfußball« erzählt mir ein Berliner Verleiher, und ich weiß, was er meint. Die Kinos werden wieder dichtmachen müssen, den Querdenkern, Wissenschaftsfeinden und Impfverweigerern sei Dank. Nicht wirklich dicht vielleicht, denn vielleicht »darf« man zumindest 25 Prozent der Sitze noch besetzen, vielleicht mit Mindestabstand von absurden 1,5 Metern.
Die Hälfte der Kinos kann oder will sich das aber nicht leisten und wird lieber zumachen. Die
Verleiher verschieben ihre Starts in den März oder später. So fehlt das Programm. Festivals und Kongresse finden gar nicht oder nur streng eingeschränkt und »hybrid« statt. So fehlt das mediale Umfeld.
Das Kino wird einmal mehr zwangsweise von außen zugebettet, wider alle Argumente und wider alle Vernunft, einfach »weil man es kann« und das Kino wie andere »Freizeitangebote« eine dankbare Aktionsfläche ist, um jene Aktivität zu demonstrieren, die man anderswo nicht an den Tag
legt.
Egal ob man das jetzt Lockdown nennt oder sich wieder irgendwelche schöneren Worte einfallen lässt, es ist ein Lockdown der Kultur.
Wieder wird auf dem Rücken der Kultur das Versäumen der lokalen und regionalen Bürokratien, die Hysterie der Gesellschaft und vor allem die Feigheit und die Angst der Politiker ausgetragen. Es ist die Feigheit und Angst vor »dem Volk«, »dem Wähler«, die dazu führt, dass eine Minderheit von bornierten Bürgern widerspruchslos ihre abstrusen Thesen öffentlich breittreten kann, ohne dass ihnen jemand entgegentritt. Weil man ihnen eine Impfpflicht lange Zeit nicht zumuten wollte, sowenig wie inhaltliche Aufklärung, bevor beides jetzt natürlich doch kommt.
Das Kino leidet darunter. Es leidet auch darunter, dass es zur Zeit keine politische Vertretung hat. Dass die amtierende Kulturstaatsministerin ihres Amtes ähnlich waltet wie Jens Spahn des seinen, und die neue noch nicht installiert ist.
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Über Claudia Roths Ernennung müssen und werden wir gesondert schreiben. Da ist heute keine Zeit. Man kann zumindest feststellen, dass die GRÜN-freundliche Kulturszene es allmählich mit der Angst zu tun bekommt. War es wirklich das, was sie wollten? Und die, die sie wollten?
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Und was hat das mit Fußball zu tun? Es ist die Macht der Bilder. Der Bilder »von Köln«. Dass der FC vor 50.000 Zuschauern unter freiem Himmel unter 2G-Bedingungen den VfL Borussia im rheinischen Derby mit 4-1 besiegte, fanden alle möglichen Talkshow-Politiker aller Parteien »das falsche Signal«. Das ist Unsinn. Jeder weiß, dass es Unsinn ist, aber dieses Wissen bleibt folgenlos.
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Lionel Messi, wer sonst, ist Fußballer des Jahres! Argentinien ist aber bekanntlich nicht nur eines der großen Fußballländer der Welt, sondern auch der ewigen Sehnsuchtsländer des Kinos. Wie jedes Jahr gibt es in Berlin ein eigenes, kleines aber feines Kinofestival des argentinischen Films: »Invasion Berlin«.
Da alles pandemiebedingt nicht in den Kinos stattfinden kann, denn das finanzielle Risiko wäre auf dem Kamm der vierten Welle surfend, zu groß gewesen, wandert »Invasion« einmal mehr in die Pampa des Virtuellen. Über die Website www.invasionberlin.com kann man vom 3.-12.12. Tickets kaufen und Filme aus Argentinien online sehen, die es bisher nicht in deutsche Kino geschafft haben. Für nur 15 Euro gibt es alle sieben.
Dazu gehören Familia sumergida von Maria Alche, der bereits in Locarno lief. Maria Alche ist eine hochinteressante, immer noch junge Künstlerin, die der eine oder andere bestimmt auch als Schauspielerin kennt: Zum Beispiel in Filmen von Lucrecia Martel, der wohl besten argentinischen Filmemacherin der Gegenwart.
Gerade erst lief El Fulgor der neueste Film von Martin Farina, beim Internationalen Filmfestival von Mannheim-Heidelberg. Ein seltsamer, traumwandlerischer Mix der Impressionen, ein essayistisches Alien von Film zwischen Dokumentar- und Spielfilm, Fleisch und Leib, der Karneval eines Fauns, zu dem Farina auch die Musik komponierte – die Zuschauer in Mannheim nicht zufällig an Stravinsky erinnerte, und der Anfang nächsten Jahres in die deutschen Kinos kommt.
Mit solcherart geweckten Erwartungen freue ich mich auf Martin Farinas vorherigen Film: Los Ninos de Dios, der ebenfalls bei der »Invasion« gezeigt wird.
Mehr über alles nächste Woche.
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A propos Fußball: Wer unbedingt muss, kann sich jetzt The Hand of God, den wie üblich missratenen neuesten Sorrentino-Film reinziehen. Darin geht es, wie der Titel Kennern verrät, nicht nur um Neapel und um das Ego des Regisseurs, sondern auch um den Sommer 1986 und um Diego Maradonas Zeit beim SSC Neapel.
Man hat von dem Film auch als Fußballliebhaber nichts.
Die weitaus bessere
Entscheidung ist es, sich bereits in seiner Haltung an den Lockdown anzupassen und in der 3sat-Mediathek die nun wirklich tolle Doku Diego Maradona von Asif Kapadia anzusehen.
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Eine Collage aus einer Brechtinszenierung (»Heilige Johanna der Schlachthöfe«), dem Porträt von ausländischen Arbeitern in Deutschland und das Umfeld eines industriellen Schlachtbetriebs – das ist Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit von der HFF-München-Absoventin Yulia Lokshina. Sprache und Bilder treten in dem Film immer wieder mal produktiv auseinander. Geschickt umgeht
die Regisseurin die Bilder, die sie nicht bekommen hat.
In der Diskussion bei einer Vorführung in der Berliner Peripherie von Hohenschönhausen geht es dann um die wenigen noch verbliebenen Widerstandspotentiale: »Kommunist sein – hat versagt. Das haben alle gelernt. Gewalt – hat versagt. Das haben auch alle gelernt. Ein schlechtes Gesetz zu brechen, das ist das nächste, was vielleicht noch möglich ist.«
Das wird der Kultur jetzt auch nichts nutzen. Die Macht der Bilder gegen die Bilder ist stärker.
(to be continued)