14.07.2022
Cinema Moralia – Folge 279

Wie wir gerne wären...

Klaus Lemke
Klaus Lemke mit Cleo Kretschmer bei Dreharbeiten zu Die Sweethearts, 1974 in Lemkes Champagner für die Augen – Gift für den Rest (2022)
(Foto: Klaus Lemke/39. Filmfest München)

Sehnsucht, Lust, Leidenschaft: Zum Tod von Klaus Lemke. Und ob Claudia Roth je einen Lemke-Film gesehen hat? – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 279. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Zum Film gehen in Deutsch­land Leute, die zu doof sind für Anwalt. Wo der Vater sagt: Also für BWL bist du auch etwas zu blöd, geh zum Film, da bist Du Dein Leben lang versorgt.« – Klaus Lemke

Der alte Löwe ist tot. Er beißt nicht mehr. Jetzt lieben sie ihn alle. Als er noch gebissen hat, haben viele mit den Augen gerollt, wenn der Name Klaus Lemke fiel. Da wurde mehr oder weniger unver­blümt gesagt, den könne man aber noch nicht ernst nehmen, die Filme seien »scheiße« und so arbeiten wolle man schon gar nicht.

Wenn nur zehn Prozent des Lobes, das man jetzt hört, zu Lebzeiten zu hören gewesen wären, hätte er viel­leicht auch in den letzten zwanzig Jahren Filme machen können, die das deutsche Kino wirklich revo­lu­tio­niert hätten.

Einen Toten zu ehren ist einfach. Ihm Kränze zu binden, Retro­spek­tiven zu widmen, das alles kostet nichts. Einen Lebenden zu ehren ist schwer. Das immerhin wird man uns nicht nachsagen können.

+ + +

Wer ihn vor zwei Wochen in München beim Filmfest getroffen hat, hat es irgendwie schon diffus geahnt: es ging ihm nicht gut, Rücken­schmerzen, wie er sagte, aber wer ihn besser kannte, wusste: Es war nicht nur im Rücken.
Er wusste, dass etwas kommt.

Aber er wollte sich den Spaß am Filme­ma­chen bis zuletzt nicht verderben lassen. Er wollte total unab­hängig sein. Sein eigener Produzent. So konnte er sehr gut seine Sachen drehen. Auch auf Nachfrage wollte er nicht wieder zurück zu dem Modell, das er sich von seinen anderen Förderern finan­zieren lässt.

Und noch im Frühjahr war er gut gelaunt: »Das habe ich ja in 20 Jahren nicht erlebt, dass sich ein Fern­seh­re­dak­teur für mich inter­es­siert hat.«
Er hatte, jeden­falls in den letzten Jahren, keine Dreh­bücher. Lemke konnte zwar hervor­ra­gend ein neues Projekt pitchen, aber er konnte keine Dreh­bücher schreiben. Bei dem Film »Amore« wurde das Drehbuch im Nach­hinein vom fertigen Film abge­schrieben, weil sie das noch für eine Förder­ein­rei­chung brauchten.

Aber Klaus Lemke hat sehr wohl Dialoge geschrieben. Er kam, berich­tete mir Saralisa Volm, morgens mit Zetteln an den Set, auf dem die zu lernenden Sätze standen.

+ + +

Klaus Lemke war immer da, seit wir Filme sehen, machen, wissen, was Film ist. Lemke war, das wird auch aus den State­ments, die wir hier veröf­fent­li­chen, wie aus sehr vielen anderen Wort­mel­dungen nach seinem Tod klar, ein Lehrer. Ein Lehrer, auf den viele gehört haben, auch wenn er, oder gerade weil er, aus einer anderen Zeit stammte. Er war kein Klas­sen­spre­cher, wie manche Regis­seure in Berlin, die in ihrer Schule in kleinen oder größeren Runden das große Wort führen. Er war auch kein Vertrau­ens­lehrer.

Er war aber jemand, der einem in wenigen Sätzen tatsäch­lich das ganze Kino und die Essenz der Kunst des Films erklären konnte, seine irra­tio­nale Wirkungs­macht.

+ + +

Vor allem aber war er der Engel, der Narr, der Magier, der uns gezeigt hat, wie wir gerne wären: Nix woke Film­ge­sell­schaft, sondern Knarren, klas­si­sche Männer­rollen und Frau­en­rollen, klas­si­sche Geschlech­ter­rollen, leicht beklei­dete Körper aller Geschlechter, ein bisschen Dummheit, ein bisschen Genie, ein bisschen mehr Grobheit und viel viel Schönheit und Exploita­tion.
Deswegen fanden viele seine Filme so gut, ohne sie gesehen zu haben. Wenn man auf die Einschalt­quoten blickt, haben sich das nicht so viele ange­schaut. Aber Klaus Lemke war eine exem­pla­ri­sche Figur. Jede Szene, jeder Griff, jeder Satz war Teil eines Gesamt­kunst­werks.

Zugleich war er alles andere als sein eigenes Klischee: Nicht der Hallodri aus Schwabing.

Es war eine groß­ar­tige Leistung, Menschen zu entdecken wie Iris Berben, Saralisa Volm, Wolfgang Fierek, die dann alle ihren Weg gehen.
Kein Regisseur, der Schau­spieler auf ihre Markt­gän­gig­keit abklopft, nicht dieser Blick: Ah, da nehmen wir Vicki Krieps, dann können wir den Film finan­zieren. Sondern Leute entdecken. Nur dann macht auch der Film Entde­ckungen.

Ein diszi­pli­nierter, harter, im Hand­werk­li­chen konser­va­tiver Arbeiter. Die Rahmen­be­din­gungen waren klar und trans­pa­rent und ehrlich und für alle gleich. Manchmal anbrüllen lassen, Klappe halten, 150 Euro kriegen. Es gab keinen deutschen Film­re­gis­seur, bei dem alle Mitar­beiter (pardon: Mitar­bei­tenden) gleicher waren als bei Lemke.

Er wusste und sagte offen: Film ist keine saubere Sache.

+ + +

Berlin Mitte im Hoch­sommer, genau vor zehn Jahren, 2012, während der EM. Ein Hinter­haus in der Torstraße, eine Wohnung, drei Zimmer, Küche, Bad. Karg einge­richtet ist sie für zwei Monate für den Bewohner Klaus Lemke.

»Hier hängen vier Seiten, bunt beschrieben. Jeden Tag, wenn ich hier so verzwei­felt zurück­komme in mein Labor, schreibe ich auf, was ich gedreht habe in einem ganz kurzen Wort und wenn eine Seite voll ist, dann sind das auch zehn Minuten Film. Jetzt hab ich vier Seiten und bin ungefähr bei 40 Minuten Film – bei dem aller­kri­tischsten Moment, bei dem Moment wo ich gewöhn­lich von drei Filmen zwei abbreche. Dieser Moment war vor zwei Tagen.«

Es war kurz nach Lemkes fulmi­nantem Comeback: Nach 16 Jahren war mit Berlin für Helden wieder ein Lemke-Film in die deutschen Kinos gekommen – ein urbanes Melo um vier junge Menschen, die in der Haupt­stadt in den Tag hinein leben und ihr Glück suchen. Die Jungs – Männer möchte man sie nicht nennen – tragen Leder­ja­cken zur Sonnen­brille, und machen überhaupt auf James Dean: Flotte Sprüche, weiches Herz. Die Frauen sind zupa­ckender, tougher, und haben vor der Kamera oft auch weniger an.

Nachdem bis Anfang der 80er fast jedes Jahr ein Lemke-Film ins Kino kam, und der Regisseur ab und an im Wett­be­werb großer Festivals vertreten war, wurde es stiller um ihn. Aber Lemke drehte unver­drossen weiter seine Filme, die vor allem im Fernsehen zu sehen waren. Immer noch war er mit seinen Filmen weiter regel­mäßiger Gast auf Festivals wie der Viennale und den Hofer Filmtagen.

+ + +

Der Film, an dem er dann arbeitete, trug den Titel »Berlin, Texas« – eine Anspie­lung natürlich auf Wim Wenders' modernen Klassiker Paris, Texas, das letzte Werk des »Neuen Deutschen Films«.

»Die Erin­ne­rung an die schöne Musik und an die tolle Kinski hält das ein bisschen am Leben. Immerhin bin ich mit Wim aufge­wachsen, aber mit seiner Philo­so­phie, mit dieser Verede­lungs­film­phi­lo­so­phie und seiner falschen Anbetung des ameri­ka­ni­schen Kinos und auch dieser bürger­li­chen Unwis­sen­heit, aus der er kommt, hat er den meisten Leuten, die jetzt beim Film sind, das Leben ein bisschen verdorben.«

»Ich finde Ostkreuz ist das – wenn irgendwas Texas ist, dann ist es wirklich Ostkreuz. Ostkreuz ist so bösartig, chaotisch, so jenseits von Berlin, als wäre es ganz ganz woanders, als wäre es wirklich Texas. Bei schönem Wetter. Bei schlechtem eigent­lich auch. Hier ist ja immer schlechtes Wetter.«

Die deutsche Haupt­stadt faszi­nierte Lemke in den letzten Jahren auch, weil hier die Schwächen der deutschen Gegenwart klarer zutage treten als irgendwo sonst: »Ich habe das Gefühl, dass die Stadt im Moment so lebt wie in einem Zeugen­schutz­pro­gramm und sich nur nicht outen will, damit sie nicht erwischt wird mit den Lügen vom letzten Jahr – ich habe auch das Gefühl, dass Berlin aller­gisch auf sich selber ist, und dass Berlin unbedingt raus will aus seiner eigenen Haut.
Jetzt ist es so, dass Berlin tatsäch­lich den Hals in der Schlinge hat wie die ganze Bundes­re­pu­blik, wie wir alle. Wir leben sicher in einer ganz außer­ge­wöhn­li­chen Situation im Moment.«

+ + +

In seiner Wohnung in der Torstraße stand Lemke, mit enger Röhren­jeans und weißem T-Shirt, und erläu­terte seine Methode des impro­vi­sierten Films, den er ohne Film­för­de­rung drehte, meist mit Laien, denen er eine Pauschale von 50 Euro am Tag gezahlt hat, und nach Verkauf des Films und Abdeckung der Produk­ti­ons­kosten weitere 100 Euro. Komplett ohne irgend­welche Film­för­der­gelder – eine große Ausnahme in einer sonst von Anfang bis Ende durch­ge­för­derten deutschen Film­land­schaft.

Er selbst, Autor, Regisseur und Produzent in einem, geht bei dieser Methode ins Risiko: »Ohropax ist ganz wichtig. Ich muss voll­kommen frisch sei, dann kann ich mich innerhalb von Minuten entscheiden, was wir tagsüber drehen. Wenn das nicht der Fall ist, dann kann ich nicht drehen, dann wird auch nichts gedreht. Ich will mich morgens nicht noch angucken, wenn mir so ein Unsinn einfällt, für den ich mich auch noch selbst schäme. Ich schäme mich für mich selbst und will mich nicht angucken, was mir einfällt. Dann versuche ich das ein bisschen zu glätten und dann fällt mir ein, so gegen zehn Uhr, dass ich es genauso drehen muss, wie es mir morgens einfällt, und ich hab auch dann die Kraft das zu tun und mich durch­zu­setzen gegen mich selbst. Das ist das ganze Ding: Wie man mit sich selbst dealt.«

Klaus Lemke arbeitete damit ganz gemäß dem klas­si­schen Ansatz des Autoren­kinos. Nach dem müssen Filme unbedingt persön­lich sein. Ein subjek­tiver Ausdruck des Charak­ters des Autors und des Augen­blicks ihrer Entste­hung. Und irgend­wann ging es darum, einfach loszu­lassen, um eine Art Über­tra­gung der Methode der 'écriture auto­ma­tique' aufs Kino:
Der Film hat die Chance, dass er sich ab der 40 Minute mir selber erzählt und ich nichts mehr machen muss, als das zu verfilmen, was der Film mir erzählt, was ich dem Film ablese – so wie man ja auch sagt, dass bestimmte Fußball­spieler ein Spiel lesen können. Ich versuche dahin zu kommen, dass ich den Film lese, und dann auto­ma­tisch das Richtige mache. Aber es ist nun mal so, dass von drei Filmen bei zweien, dass der Film an der Mitte stumm wird und nicht mehr weiter erzählt. Und dann breche ich den Film ab. Denn ich würde genauso vorgehen, wie diese ganzen Dreh­buch­schreiber und Autoren und würde etwas erfinden, was die Leute langweilt, denn die Leute würden es voraus­ahnen, was ich vorhabe. Das is ja das ganze Problem: Man weiß ja nach drei Minuten genau, wo der Film hingeht, man weiß genau: wer mit wem – genau das versuche ich zu vermeiden. Es kommt nicht auf das einzelne Bild an, sondern welches Bild auf welches Bild folgt und hier sind Ideen, wie man welches Bild auf welches Bild folgen lassen kann – gewöhn­lich geklaut aus anderen Filmen.

Ein bisschen Größen­wahn müsse sein, da war sich der alte Nonkon­for­mist Lemke sicher: »Es ist immer noch besser, groß­spurig zu sein, als wie Papi und Mami zu reden – egal was passiert: Haupt­sache man geht nicht konform mit irgend­etwas.«

Drehzeit war für Lemke immer auch eine Zeit der Entsagung. Denn zumindest wenn es um die Dreh­ar­beiten selbst geht, dann wurde der Künstler-Hedonist zum Puritaner und Diszi­plin­men­schen: »Also während des Drehs: Kein Alkohol, keine Drogen, kein Sex. Auch jeder andere, der das im Film miss­achtet – Sex innerhalb des Teams: sofort gefeuert. Das sind absolut grund­le­gende Dinge, ohne die geht alles kaputt. Deswegen sind die Filme auch so schlecht: Nach einer Woche aus reiner Lange­weile fickt der Haupt­dar­steller die Haupt­dar­stel­lerin und danach ist der Film tot.«

+ + +

Ob Claudia Roth jemals einen Klaus Lemke-Film gesehen hat? Und wenn ja, was hat das mit ihr gemacht? Hat sie da etwas gelernt über das, was dem deutschen Film fehlt? Oder darüber, wie man deutsche Filme anders finan­zieren und künst­le­risch machen könnte?
Zu hoffen wäre es, aber ich kann nicht daran glauben.

Claudia Roth als Kultur­staats­mi­nis­terin ist die Enttäu­schung des Jahr­hun­derts. Wobei das Jahr­hun­dert ja noch nicht so alt ist. Bisher habe ich über Roth nichts geschrieben, sondern höflich geschwiegen, weil mir Freunde gesagt hatten: Lass' sie doch erstmal sich einar­beiten, wart' es ab, sie ist schon gut, sie wird schon vieles verändern, sie ist eine schlaue Poli­ti­kerin... Und so weiter – was man eben über Claudia Roth seit Jahren sagt.
Ich habe auch einfach zu viele Freunde, die Grün wählen, und dann bei ihren Darlings reali­täts­blind werden. Wobei... Darling...? Aber das lassen wir jetzt mal.
Jeden­falls gibt es keinen Grund, fast ein Jahr nach der Bundes­tags­wahl immer noch mit Beißhem­mung und Schon­frist-Vorstel­lungen auf das BKM und auf die grüne Kultur­po­litik zu blicken. Die soge­nannte grüne Kultur­po­litik. Tatsäch­lich gibt es ja keine. Wir könnten jetzt über die documenta sprechen und übers absolute Versagen dort, und darüber, dass die Grüne nicht anders als andere Parteien auch dann noch glauben, eine Krise aussitzen zu können wenn »the shit hits the fan.«

+ + +

Aber reden wir mal konkret hier an dieser Stelle über grüne Film­po­litik. Bis heute, etwa 8 Monate nach ihrer Ernennung zur Kultur­staats­mi­nis­terin, verwei­gert sich Roth sämt­li­chen Gruppen der deutschen Film­branche. Zahl­reiche Verbände und Orga­ni­sa­tionen und Gruppen haben um Gespräche gebeten – ich kenne nicht eine einzige, die bisher im Gespräch bekommen haben.

+ + +

Die CDU/CSU würde sich in der Kultur­po­litik niemals derart wegducken. Die Union wäre souver­äner und würde sich mit den Leuten treffen, schon weil sie sich das gar nicht leisten kann, diese Art von Indolenz. Wie soll man das überhaupt nennen? Augen zu und durch Haltung. Ist das borniert oder hat sie Angst?
Wer im BKM berät die Minis­terin derart schlecht? Und warum?
Und warum lässt sie sich das gefallen? Lässt sich Claudia Roth verbieten, irgend­welche Leute zu treffen, wenn sie das will?

+ + +

Unzählige deutsche Filme­ma­cher und Menschen, die in irgend­einer Funktion im Film­be­reich arbeiten, sind zurzeit total frus­triert. Das liegt insbe­son­dere an einer Kultur­po­litik, die nicht kommu­ni­ziert, die keinerlei Wege aufzeigt, der es offen­sicht­lich komplett an Ideen mangelt. Ich rede hier nicht von Visionen, obwohl es schön wäre, wenn unsere Kultur­po­litik Visionen hätte. Ich rede von irgend­einer Vorstel­lung, wie man wenigs­tens das (schlechte) Beste­hende erhalten kann. Wobei es um das oft nicht schade wäre.
Aber man bekommt manchmal den Eindruck, als bedeutet für die Grünen Kultur­po­litik vor allem Kultur­dar­wi­nismus: survival of the fittest. Man traktiert die Künstler mit diversen Auflagen, die selbst­ver­s­tänd­lich kunst­fremd sind und etwas mit der Pandemie oder der Ener­gie­wende oder soge­nannten »green producing« oder soge­nannter Diver­sität – aber selbst­ver­s­tänd­lich keiner ästhe­ti­schen Diver­sität, nein ganz im Gegenteil – zu tun haben, man inter­es­siert sich für die Kunst selbst aber nicht die Bohne, und lässt den Rest seinen Lauf.

+ + +

Der Konsens ist der falsche Weg. Man hat das im deutschen Film lange genug versucht. Und nichts dabei erreicht. Wir müssen kämpfen. Wie das genau gehen soll, und was genau das heißt, weiß ich jetzt auch nicht. Aber so wie es bisher ging, mit diesem Gewurschtel und Geschlumpfe, kann es nicht weiter­gehen. Claudia Roth ist noch sehr, noch sturer noch kommu­ni­ka­ti­ons­loser als Monika Grütters. Da hilft die zur Schau getragene Wonne­prop­pig­keit und gute Laune auch nichts. Sie nervt nur noch mehr.

(to be continued)