Cinema Moralia – Folge 280
Das Glück der kühlen Analyse |
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Etwas Ähnliches für Kino und Film noch nicht einmal vorstellbar: die Bildungsinitiative »Meinungsbilder« des Städel-Museums | ||
(Foto: Städel Museum) |
»Immer wieder auf die paar Momente am Tag hin denken, wo die schmerzhaft sprachlose, stammelnde Welt spruchreif wird.«
- Peter Handke»Wenn Sie immer wieder streng und unnachgiebig Qualität fordern, kann es schon sein, dass man Sie Unmensch und Tyrann nennt. Damit muss man leben.«
- Stefan Soltesz, vergangene Woche in München verstorbener Dirigent»BILD meint: Lückenlos aufklären!«
- BILD 19.07.2022
Die Stimmung in der deutschen Filmszene ist von einem Fruststau gegenüber der Politik geprägt. Allerorten ziehen Fördergremien und Kulturpolitiker im schlechten Sinn die Zügel an. Obwohl man weiß, dass im Kino gerade nichts gut funktioniert, stellt sich die Bundeskulturministerin Claudia Roth tot. Offenbar plant der Bund eine weitere Verschiebung der FFG-Novelle, weil man anscheinend keinerlei filmpolitische Konzepte hat. Die Kulturstaatsministerin hat nur die Ukraine im Kopf, vermeidet aber jede Begegnung mit den Branchenvertretern.
Langsam wird aus Frust Wut: Ein wichtiger Branchenplayer, der nicht genannt werden will, beschreibt die bisherige Bilanz der Staatsministerin Roth so: »Sie ist faul, sie trifft sich mit Intellektuellen, und mit Tom Tykwer war sie dreimal essen, der weiß schon nicht mehr, was er mit ihr reden soll.«
Roths einzige echte Tat war ein fatal falsches Signal: 90 Millionen Euro Steuergelder gibt es nach der Aufstockung des »German Motion Picture Fund« durch Claudia Roth für die Streaming-Dienste.
Ansonsten erleben wir das grundsätzliche Auslagern der kulturpolitischen Verantwortung. Das Desaster der documenta ist ein gutes Beispiel dafür: Es ist nicht allein der schlimme und obszöne Antisemitismusskandal. Sondern es ist das Desaster einer Kulturpolitik, für die die Documenta- Ereignisse nur repräsentativ und die Spitze des Eisbergs sind, eine grundsätzliche »Kopf-in-den-Sand-Haltung.
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»I hate minimalism« schrieb die Autorin Chelsea Fagan schon vor fünf Jahren im »Guardian«.
Ihr herrlicher Text änderte nichts daran, dass nicht nur komplett weiße gepinselte möbellose Wohnzimmer in sind; auch minimalistisches Kino, Langsamkeit und lange Einstellungen sind gerade bei manchen Kinofans sehr beliebt. Zu prüfen wäre die Frage, ob sich in diesem seit knapp zwei Jahrzehnten wachsenden Boom dieses Yogakinos nicht unbewusst ganz andere gesellschaftliche
Bedürfnisse Bahn brechen. Minimalismus ist ein klassisches Distinktionskriterium. Man muss ihn sich nicht nur leisten können. Man muss ihn vor allem verstehen und goutieren.
Es fällt jedenfalls in Zeiten und gesellschaftlichen Verhältnissen besonders auf, in denen die Energiespar-Appelle an Privathaushalte Legion werden, und man über Wohlstand vor allem unter der Perspektive der Belastung und bösen Folgen spricht, und den Menschen erklärt wird, dass »ein bisschen Verzicht« (Markus Lanz) doch wohl allen zumutbar ist, auch auf der Leinwand das methodische Entrümpeln und »Magic Cleaning« (Marie Kondo) feiert.
Die Ansicht, Minimalismus sei erst
durch die Pandemie in Mode gekommen, ist jedenfalls nicht richtig, auch wenn diese bestimmten Formen des filmischen Minimalismus einen neuen Schub gegeben hat.
Fagan sah 2017 Minimalismus als ein »moralisches Upgrade für diejenigen, die sich nun einer begehrten Ästhetik und Moral der Armut bedienen, ohne je arm gewesen zu sein«. Minimalismus ist eine Strategie der sozialen Distinktion. »It is just another form of conspicuous consumption, a way of saying to the world: 'Look at me! Look at all of the things I have refused to buy, and the incredibly-expensive, sparse items I have deemed worthy instead!'«
Wer ist am teuersten arm? Wer
langweilt sich am elaboriertesten?
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Der »Tagesspiegel« fährt eine Kampagne gegen die RBB-Chefin Patricia Schlesinger. Wie Bluthunde auf der Hatz nach dem angeschossenen Wild hat man zur Treibjagd geblasen. Oder wie soll man die absurde Schlagzahl erklären, mit der im Weltblatt für die Charlottenburger – quasi als eine Art Liveticker aus der Recherche – jeden Tag ein neuer Text über Frau Schlesinger veröffentlicht wird? Nach dem Auftakt am 06.07. erschien am 07., 08., 09., 14., 19., 20., 22., und 23. Juli je ein Text, am, 16., 25. und am heutigen 27. Juli jeweils gleich zwei Texte, in denen es irgendwie um Schlesinger ging, oder um ihren Mann, und um das, was im Mediendeutsch »Aufklärungsbedarf« heißt.
15 Texte in 21 Tagen – was ist der Sinn einer solchen Form der Berichterstattung? Warum wird nicht eine Geschichte komplett durchrecherchiert, um dann die vollständige Faktenlage in ihrem Für und Wider inklusive der Gegenargumente der Beschuldigten vorzulegen? Muss der »Tagesspiegel« in Zeiten der Berliner Schulferien das Sommerloch füllen? Oder will man dem Boulevard Konkurrenz machen?
Bemerkenswert ist, dass die anderen Berliner Zeitungen diese Recherchen
nicht flankieren. Der TAZ oder der »Berliner Zeitung« oder der »Welt« genügen für die gleichen Sachverhalte ein bis zwei Beiträge in den letzten vier Wochen.
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Ein Paradebeispiel für den Strukturwandel der Öffentlichkeit: Medien verändern ihre Aufgabe; sie sind vom Resonanzkörper zu Akteuren geworden. Dagegen ist solange nichts zu sagen, solange diese Akteure tatsächlich als Stellvertreter der Bürger agieren, solange sie keine eigenen Interessen haben, oder diese Interessen zumindest transparent sind.
Hat der Tagesspiegel bzw. der ihn herausgebende ebenfalls mächtige Holtzbrinck-Verlag keine eigenen medienpolitischen
Interessen?
Das genau wäre die Frage, der bisher keinerlei Aufmerksamkeit gilt. Cui bono? Wer hat etwas davon, Patricia Schlesinger zu schaden?
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In der Folge geschieht jedenfalls in der Öffentlichkeit, was in solchen Fällen eben in der Öffentlichkeit geschieht: Während die FAZ noch vorsichtig von den »womöglich skandalträchtigen Fragen« formuliert, weiß die Bild-Zeitung wieder einmal schon alles: »Die ARD hat einen neuen Skandal«.
Man hat den Eindruck: Die öffentlich-rechtlichen Sender sollen sturmreif geschossen werden.
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Um was für Vorwürfe geht es? Dem ersten Tagesspiegel-Text folgend geht es um fünferlei: Der Bau des neuen RBB-Medienhauses könnte teurer werden. Schlesingers Ehemann, der Journalist Gerhard Spörl hat einen u.a. durch den RBB-Verwaltungsratschef vermittelten Beratervertrag, der nichts mit dem RBB zu tun hat. Schlesinger hat in ihrem Privathaus dienstliche Abendessen veranstaltet, und das Catering dem RBB in Rechnung gestellt, woran der RBB-Rechnungshof nichts zu beanstanden hatte. Schlesingers Gehalt ist 2021 erhöht worden. Manche Mitarbeiter des RBB sind unzufrieden.
Mit anderen Worten: Nichts wirklich Relevantes und Gravierendes, sondern Kinkerlitzchen, die zudem nicht miteinander zusammenhängen. Vor allem geht es um ein grundsätzlich diffuses Ressentiment gegen die mächtige Intendantin und derzeitige ARD-Vorsitzende, um Vorwürfe, die sich aber bei ständiger Wiederholung auch dann, wenn sie nicht zutreffen sollten, als toxisch erweisen.
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Jeder mit ein wenig Einblick weiß, dass die interne Politik des RBB bei vielen RBB-Mitarbeitern, besonders im Bereich der Technik und des Unterbaus, nicht auf Beifall stößt. Das gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Radio und Fernsehen, das von der derzeitigen Intendanz sehr einseitig zu Lasten des doch so erfolgreichen Radios gehandhabt wird. Damit macht sie sich angreifbar.
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Im Gehalts-Ranking der neun ARD-Rundfunkanstalten liegt die ARD-Vorsitzende übrigens nur auf Platz fünf, also genau in der Mitte.
Bei den Abendessen geht es um neun dienstliche Abendessen in vier Jahren, also etwa zwei pro Jahr. Die durchschnittlichen Kosten pro Gast für das Essen (ohne Getränke) lagen zwischen 23,12 Euro und 56,53 Euro brutto. Bei angemieteten Flächen oder Restaurantbesuchen wären den Gebührenzahlern erhebliche Mietkosten entstanden.
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Im offiziellen Statement des Senders heißt es: »Der RBB sieht sich in der Berichterstattung mit einer Vielzahl von Vorwürfen und Unterstellungen konfrontiert. Manche sind aus unserer Sicht auf den ersten Blick als falsch oder konstruiert zu erkennen, andere beruhen auf einer Verquickung von irrigen Annahmen und voreiligen Schlussfolgerungen, deren Aufbereitung etwas aufwendiger sein wird. ... Wir werden die einzelnen Punkte also gewissenhaft aufklären, auch wenn das im Zweifelsfall etwas mehr Zeit in Anspruch nimmt. ...Wir prüfen wegen der Berichterstattung darüber hinaus presserechtliche Schritte und haben dazu Rechtsanwalt Christian Schertz beauftragt.«
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Das Frankfurter »Städel«-Museum lädt zur Bildungsinitiative »Meinungsbilder«. In der Einleitung heißt es unter anderem: »Wissen, was ist, was gewesen ist und was kommen könnte, sich Meinungen zu bilden, Debatten und Diskurse zu führen, um eine lebendige demokratische Kultur zu leben, steht im Zentrum einer großen kulturellen Bildungsinitiative des Städel Museums«. Und weiter: »Bilder lesen zu lernen, darüber zu sprechen, gemeinsam zu diskutieren und so gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene unserer Zeit besser verstehen zu lernen, ist der Vermittlungsansatz von Meinungsbildern. Wir verstehen Kunst als eine Möglichkeit, demokratische Diskurse zu fördern. Auch das Herausbilden von Kompetenzen in Bereichen der Interkulturalität und Multiperspektivität oder der souveräne Umgang mit der Informations- und Bilderflut des Digitalzeitalters sind wesentliche Ziele der Vermittlungsarbeit unserer Bildungsinitiative,« so Chantal Eschenfelder, Leiterin Bildung und Vermittlung, Städel Museum.
Leider kann man sich etwas Ähnliches für Kino und Film noch nicht einmal vorstellen. Es liegt jenseits des Horizonts einer heruntergekommenen Filmpolitik, die sich nicht als Gestalterin versteht, sondern als Haushaltverwalterin. Und wenn doch mal gestaltet wird, hat das mit Kunst nichts zu tun, sondern mit Filmfernem wie »Green Producing« und »Diversität«.
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Der wichtigste Text zur aktuellen filmkulturellen Situation ist bereits zwei Monate alt und stammt von Lars Henrik Gass, Filmwissenschaftler und Chef der Kurzfilmtage Oberhausen. Im »Filmdienst« geht es nur scheinbar um eine Frankfurter Konferenz. Tatsächlich nimmt der Autor die punktuellen Bezüge darauf zum Anlass für eine verdiente Generalabrechnung mit dem geistigen Zustand der deutschen Filmbranche und den Strukturen, die ihn ermöglichen und erzeugen: Eine von der
Wirtschaft und mikroökonomischem Effizienzdenken komplett unterjochte Kultur; eine autoritäre Ministerialbürokratie, die die wirtschaftlich nicht existente, aber komplett vom Markt gekaperte Branche in Scheindebatten um Diversität verwickelt und mit ihnen nach dem Prinzip des »Teile und Herrsche« beschäftigt, damit diese vergisst, dass man doch eigentlich das System ändern müsste.
Während Misstrauen als Haltung mindestens adäquat sein sollte, lässt sich die
»Branche« einlullen und entwickelt eine sklavische Dankbarkeit gegenüber dem demokratischen Hofstaat.
Auch die Filmkritik verkommt zum Service.
Diesen Text sollten alle, die in Deutschland mit Film zu tun haben, analysieren, und für sich produktiv machen.
Sie sollten das Glück der kühlen Analyse genießen, anstatt es sich in der Emotion eines »aber es muss doch...« gemütlich zu machen.
Nein: Verweigerung ist das Gebot der Stunde.
(to be continued)