28.07.2022
Cinema Moralia – Folge 280

Das Glück der kühlen Analyse

Städel Museum Welcome Day
Etwas Ähnliches für Kino und Film noch nicht einmal vorstellbar: die Bildungsinitiative »Meinungsbilder« des Städel-Museums
(Foto: Städel Museum)

Grün ist der Frust: Wo ist Claudia Roth? Vom grundsätzlichen Auslagern der Verantwortung. Sollen die öffentlich-rechtlichen Sender sturmreif geschossen werden? Und Lars Henrik Gass' Generalabrechnung mit dem geistigen Zustand der deutschen Filmbranche – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 280. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Immer wieder auf die paar Momente am Tag hin denken, wo die schmerz­haft sprach­lose, stam­melnde Welt spruch­reif wird.«
- Peter Handke

»Wenn Sie immer wieder streng und unnach­giebig Qualität fordern, kann es schon sein, dass man Sie Unmensch und Tyrann nennt. Damit muss man leben.«
- Stefan Soltesz, vergan­gene Woche in München verstor­bener Dirigent

»BILD meint: Lückenlos aufklären!«
- BILD 19.07.2022

Die Stimmung in der deutschen Filmszene ist von einem Fruststau gegenüber der Politik geprägt. Aller­orten ziehen Förder­gre­mien und Kultur­po­li­tiker im schlechten Sinn die Zügel an. Obwohl man weiß, dass im Kino gerade nichts gut funk­tio­niert, stellt sich die Bundes­kul­tur­mi­nis­terin Claudia Roth tot. Offenbar plant der Bund eine weitere Verschie­bung der FFG-Novelle, weil man anschei­nend keinerlei film­po­li­ti­sche Konzepte hat. Die Kultur­staats­mi­nis­terin hat nur die Ukraine im Kopf, vermeidet aber jede Begegnung mit den Bran­chen­ver­tre­tern.

Langsam wird aus Frust Wut: Ein wichtiger Bran­chen­player, der nicht genannt werden will, beschreibt die bisherige Bilanz der Staats­mi­nis­terin Roth so: »Sie ist faul, sie trifft sich mit Intel­lek­tu­ellen, und mit Tom Tykwer war sie dreimal essen, der weiß schon nicht mehr, was er mit ihr reden soll.«

Roths einzige echte Tat war ein fatal falsches Signal: 90 Millionen Euro Steu­er­gelder gibt es nach der Aufsto­ckung des »German Motion Picture Fund« durch Claudia Roth für die Streaming-Dienste.

Ansonsten erleben wir das grund­sätz­liche Auslagern der kultur­po­li­ti­schen Verant­wor­tung. Das Desaster der documenta ist ein gutes Beispiel dafür: Es ist nicht allein der schlimme und obszöne Anti­se­mi­tis­mus­skandal. Sondern es ist das Desaster einer Kultur­po­litik, für die die Documenta- Ereig­nisse nur reprä­sen­tativ und die Spitze des Eisbergs sind, eine grund­sätz­liche »Kopf-in-den-Sand-Haltung.

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»I hate mini­ma­lism« schrieb die Autorin Chelsea Fagan schon vor fünf Jahren im »Guardian«.
Ihr herr­li­cher Text änderte nichts daran, dass nicht nur komplett weiße gepin­selte möbellose Wohn­zimmer in sind; auch mini­ma­lis­ti­sches Kino, Lang­sam­keit und lange Einstel­lungen sind gerade bei manchen Kinofans sehr beliebt. Zu prüfen wäre die Frage, ob sich in diesem seit knapp zwei Jahr­zehnten wach­senden Boom dieses Yogakinos nicht unbewusst ganz andere gesell­schaft­liche Bedürf­nisse Bahn brechen. Mini­ma­lismus ist ein klas­si­sches Distink­ti­ons­kri­te­rium. Man muss ihn sich nicht nur leisten können. Man muss ihn vor allem verstehen und goutieren.

Es fällt jeden­falls in Zeiten und gesell­schaft­li­chen Verhält­nissen besonders auf, in denen die Ener­gie­spar-Appelle an Privat­haus­halte Legion werden, und man über Wohlstand vor allem unter der Perspek­tive der Belastung und bösen Folgen spricht, und den Menschen erklärt wird, dass »ein bisschen Verzicht« (Markus Lanz) doch wohl allen zumutbar ist, auch auf der Leinwand das metho­di­sche Entrüm­peln und »Magic Cleaning« (Marie Kondo) feiert.
Die Ansicht, Mini­ma­lismus sei erst durch die Pandemie in Mode gekommen, ist jeden­falls nicht richtig, auch wenn diese bestimmten Formen des filmi­schen Mini­ma­lismus einen neuen Schub gegeben hat.

Fagan sah 2017 Mini­ma­lismus als ein »mora­li­sches Upgrade für dieje­nigen, die sich nun einer begehrten Ästhetik und Moral der Armut bedienen, ohne je arm gewesen zu sein«. Mini­ma­lismus ist eine Strategie der sozialen Distink­tion. »It is just another form of conspi­cuous consump­tion, a way of saying to the world: 'Look at me! Look at all of the things I have refused to buy, and the incre­dibly-expensive, sparse items I have deemed worthy instead!'«
Wer ist am teuersten arm? Wer langweilt sich am elabo­rier­testen?

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Der »Tages­spiegel« fährt eine Kampagne gegen die RBB-Chefin Patricia Schle­singer. Wie Bluthunde auf der Hatz nach dem ange­schos­senen Wild hat man zur Treibjagd geblasen. Oder wie soll man die absurde Schlag­zahl erklären, mit der im Weltblatt für die Char­lot­ten­burger – quasi als eine Art Live­ti­cker aus der Recherche – jeden Tag ein neuer Text über Frau Schle­singer veröf­fent­licht wird? Nach dem Auftakt am 06.07. erschien am 07., 08., 09., 14., 19., 20., 22., und 23. Juli je ein Text, am, 16., 25. und am heutigen 27. Juli jeweils gleich zwei Texte, in denen es irgendwie um Schle­singer ging, oder um ihren Mann, und um das, was im Medi­en­deutsch »Aufklärungs­be­darf« heißt.

15 Texte in 21 Tagen – was ist der Sinn einer solchen Form der Bericht­erstat­tung? Warum wird nicht eine Geschichte komplett durch­re­cher­chiert, um dann die volls­tän­dige Fakten­lage in ihrem Für und Wider inklusive der Gegen­ar­gu­mente der Beschul­digten vorzu­legen? Muss der »Tages­spiegel« in Zeiten der Berliner Schul­fe­rien das Sommer­loch füllen? Oder will man dem Boulevard Konkur­renz machen?
Bemer­kens­wert ist, dass die anderen Berliner Zeitungen diese Recher­chen nicht flan­kieren. Der TAZ oder der »Berliner Zeitung« oder der »Welt« genügen für die gleichen Sach­ver­halte ein bis zwei Beiträge in den letzten vier Wochen.

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Ein Para­de­bei­spiel für den Struk­tur­wandel der Öffent­lich­keit: Medien verändern ihre Aufgabe; sie sind vom Reso­nanz­körper zu Akteuren geworden. Dagegen ist solange nichts zu sagen, solange diese Akteure tatsäch­lich als Stell­ver­treter der Bürger agieren, solange sie keine eigenen Inter­essen haben, oder diese Inter­essen zumindest trans­pa­rent sind.
Hat der Tages­spiegel bzw. der ihn heraus­ge­bende ebenfalls mächtige Holtz­brinck-Verlag keine eigenen medi­en­po­li­ti­schen Inter­essen?
Das genau wäre die Frage, der bisher keinerlei Aufmerk­sam­keit gilt. Cui bono? Wer hat etwas davon, Patricia Schle­singer zu schaden?

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In der Folge geschieht jeden­falls in der Öffent­lich­keit, was in solchen Fällen eben in der Öffent­lich­keit geschieht: Während die FAZ noch vorsichtig von den »womöglich skan­dal­träch­tigen Fragen« formu­liert, weiß die Bild-Zeitung wieder einmal schon alles: »Die ARD hat einen neuen Skandal«.
Man hat den Eindruck: Die öffent­lich-recht­li­chen Sender sollen sturmreif geschossen werden.

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Um was für Vorwürfe geht es? Dem ersten Tages­spiegel-Text folgend geht es um fünferlei: Der Bau des neuen RBB-Medi­en­hauses könnte teurer werden. Schle­sin­gers Ehemann, der Jour­na­list Gerhard Spörl hat einen u.a. durch den RBB-Verwal­tungs­rats­chef vermit­telten Bera­ter­ver­trag, der nichts mit dem RBB zu tun hat. Schle­singer hat in ihrem Privat­haus dienst­liche Abend­essen veran­staltet, und das Catering dem RBB in Rechnung gestellt, woran der RBB-Rech­nungshof nichts zu bean­standen hatte. Schle­sin­gers Gehalt ist 2021 erhöht worden. Manche Mitar­beiter des RBB sind unzu­frieden.

Mit anderen Worten: Nichts wirklich Rele­vantes und Gravie­rendes, sondern Kinker­litz­chen, die zudem nicht mitein­ander zusam­men­hängen. Vor allem geht es um ein grund­sätz­lich diffuses Ressen­ti­ment gegen die mächtige Inten­dantin und derzei­tige ARD-Vorsit­zende, um Vorwürfe, die sich aber bei ständiger Wieder­ho­lung auch dann, wenn sie nicht zutreffen sollten, als toxisch erweisen.

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Jeder mit ein wenig Einblick weiß, dass die interne Politik des RBB bei vielen RBB-Mitar­bei­tern, besonders im Bereich der Technik und des Unterbaus, nicht auf Beifall stößt. Das gilt insbe­son­dere für das Verhältnis zwischen Radio und Fernsehen, das von der derzei­tigen Intendanz sehr einseitig zu Lasten des doch so erfolg­rei­chen Radios gehand­habt wird. Damit macht sie sich angreifbar.

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Im Gehalts-Ranking der neun ARD-Rund­funk­an­stalten liegt die ARD-Vorsit­zende übrigens nur auf Platz fünf, also genau in der Mitte.
Bei den Abend­essen geht es um neun dienst­liche Abend­essen in vier Jahren, also etwa zwei pro Jahr. Die durch­schnitt­li­chen Kosten pro Gast für das Essen (ohne Getränke) lagen zwischen 23,12 Euro und 56,53 Euro brutto. Bei ange­mie­teten Flächen oder Restau­rant­be­su­chen wären den Gebüh­ren­zah­lern erheb­liche Miet­kosten entstanden.

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Im offi­zi­ellen Statement des Senders heißt es: »Der RBB sieht sich in der Bericht­erstat­tung mit einer Vielzahl von Vorwürfen und Unter­stel­lungen konfron­tiert. Manche sind aus unserer Sicht auf den ersten Blick als falsch oder konstru­iert zu erkennen, andere beruhen auf einer Verqui­ckung von irrigen Annahmen und vorei­ligen Schluss­fol­ge­rungen, deren Aufbe­rei­tung etwas aufwen­diger sein wird. ... Wir werden die einzelnen Punkte also gewis­sen­haft aufklären, auch wenn das im Zwei­fels­fall etwas mehr Zeit in Anspruch nimmt. ...Wir prüfen wegen der Bericht­erstat­tung darüber hinaus pres­se­recht­liche Schritte und haben dazu Rechts­an­walt Christian Schertz beauf­tragt.«

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Das Frank­furter »Städel«-Museum lädt zur Bildungs­in­itia­tive »Meinungs­bilder«. In der Einlei­tung heißt es unter anderem: »Wissen, was ist, was gewesen ist und was kommen könnte, sich Meinungen zu bilden, Debatten und Diskurse zu führen, um eine lebendige demo­kra­ti­sche Kultur zu leben, steht im Zentrum einer großen kultu­rellen Bildungs­in­itia­tive des Städel Museums«. Und weiter: »Bilder lesen zu lernen, darüber zu sprechen, gemeinsam zu disku­tieren und so gesell­schaft­liche Entwick­lungen und Phänomene unserer Zeit besser verstehen zu lernen, ist der Vermitt­lungs­an­satz von Meinungs­bil­dern. Wir verstehen Kunst als eine Möglich­keit, demo­kra­ti­sche Diskurse zu fördern. Auch das Heraus­bilden von Kompe­tenzen in Bereichen der Inter­kul­tu­ra­lität und Multi­per­spek­ti­vität oder der souveräne Umgang mit der Infor­ma­tions- und Bilder­flut des Digi­tal­zeit­al­ters sind wesent­liche Ziele der Vermitt­lungs­ar­beit unserer Bildungs­in­itia­tive,« so Chantal Eschen­felder, Leiterin Bildung und Vermitt­lung, Städel Museum.

Leider kann man sich etwas Ähnliches für Kino und Film noch nicht einmal vorstellen. Es liegt jenseits des Horizonts einer herun­ter­ge­kom­menen Film­po­litik, die sich nicht als Gestal­terin versteht, sondern als Haus­halt­ver­wal­terin. Und wenn doch mal gestaltet wird, hat das mit Kunst nichts zu tun, sondern mit Film­fernem wie »Green Producing« und »Diver­sität«.

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Der wich­tigste Text zur aktuellen film­kul­tu­rellen Situation ist bereits zwei Monate alt und stammt von Lars Henrik Gass, Film­wis­sen­schaftler und Chef der Kurz­film­tage Ober­hausen. Im »Film­dienst« geht es nur scheinbar um eine Frank­furter Konferenz. Tatsäch­lich nimmt der Autor die punk­tu­ellen Bezüge darauf zum Anlass für eine verdiente Gene­ral­ab­rech­nung mit dem geistigen Zustand der deutschen Film­branche und den Struk­turen, die ihn ermög­li­chen und erzeugen: Eine von der Wirt­schaft und mikroö­ko­no­mi­schem Effi­zi­enz­denken komplett unter­jochte Kultur; eine auto­ri­täre Minis­te­ri­al­büro­kratie, die die wirt­schaft­lich nicht existente, aber komplett vom Markt gekaperte Branche in Schein­de­batten um Diver­sität verwi­ckelt und mit ihnen nach dem Prinzip des »Teile und Herrsche« beschäf­tigt, damit diese vergisst, dass man doch eigent­lich das System ändern müsste.
Während Miss­trauen als Haltung mindes­tens adäquat sein sollte, lässt sich die »Branche« einlullen und entwi­ckelt eine skla­vi­sche Dank­bar­keit gegenüber dem demo­kra­ti­schen Hofstaat.
Auch die Film­kritik verkommt zum Service.

Diesen Text sollten alle, die in Deutsch­land mit Film zu tun haben, analy­sieren, und für sich produktiv machen.
Sie sollten das Glück der kühlen Analyse genießen, anstatt es sich in der Emotion eines »aber es muss doch...« gemütlich zu machen.

Nein: Verwei­ge­rung ist das Gebot der Stunde.

(to be continued)