Cinema Moralia – Folge 283
Paris-Rom, oder: Die Modifikation |
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Ach – die Pariser Kinos und ihre Programme... | ||
(Foto: privat) |
»Die Zeit zerstört alles.«
- aus: »Irréversible« von Gaspar Noé
Frühere Generationen sahen etwas kommen. Wir sehen etwas verschwinden.
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Einmal im Leben wollte ich diese Zugfahrt gemacht haben: Paris-Rom genau so wie im Roman von Michel Butor, den ich vor bestimmt 30 Jahren, wahrscheinlich länger her, gelesen habe, den ich seitdem nicht vergessen konnte. Man lebt ja sowieso gerne Romanszenen und -konstellationen nach, sowie auch filmische Konstellationen.
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Da sitzt einer in einem ultramodernen Zug, und während der Zugfahrt verändert er sich und sein Leben. Genau gesagt: Er tut das eben gerade nicht. Denn als er losfährt, will er sich und sein Leben verändern, alles verändern, und als er ankommt, ist er sicher, dass er nichts verändern will. Die Fahrt, die Bewegung selbst ist das Eigentliche. Der Zug funktioniert wie das Kino. Es ist ein Zwischenraum, ein nicht-mehr-hier und noch-nicht-dort, ein Ort, an dem man auf ganz andere Weise die Gedanken loslassen und schweifen lassen kann.
Aber das wusste ich damals noch nicht. Damals schien mir, dass es einfach die Literatur gewordene symbolische Verbindung zwischen zwei der schönsten Städte der Welt war und zwischen den zwei interessantesten Ländern Europas. Damals kannte ich Spanien noch nicht.
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In San Sebastián war meine Zugreise diese Woche losgegangen; am Sonntagmorgen nach Ende des Filmfestivals San Sebastián von Hendaye mit dem TGV nach Paris. Wie gewohnt in Frankreich ist alles gleichzeitig komplizierter und einfacher; einfacher weil der Zug auf die Minute pünktlich fährt und ankommt, die Wagen angenehm sind und genug Platz da ist, die Schaffner freundlich und überhaupt...; komplizierter weil sonntags keine Schalter aufhaben und man alles online machen muss, wie sowieso Frankreich unsäglich digitalisiert ist. Und am besten bucht man ein paar Wochen im Voraus. Irgendwie hat es dann doch geklappt am gleichen Tag zu buchen, aber nur mit Hilfe einer netten älteren Dame am Informationsschalter, der im Gegensatz zum Fahrkartenschalter offen hatte, und die sich nach vergeblichem »geht nicht« hinter ihrem Fenster hervorschleppte und mir sehr freundlich – »kalm missjö« – dabei half, die nicht etwa durch ihre Sprache, sondern durch ihre Denkweise komplizierten Automatenschritte nachzuvollziehen.
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Am nächsten Tag in Paris dann ein paar Stunden intensivste Filmkultur à la Frankreich und damit das Gegenteil aller deutschen: Schwer genug schon sich zu entscheiden zwischen dem Programm zwei der tollsten Programmkinos im 6. Arrondissment: Dem »Reflet Médicis«, das gerade eine Sirk-Retrospektive zeigt, eine Schau zu Hong Sang-soo, den Film Tausendschönchen von Vera Chytilová, dazu natürlich die hier fast obligatorische Godard-Schau. Und vor allem A Vendredi Robinson von Mitra Farahani, den für manche schönsten Film der letzten Berlinale – eine Hommage auch aber nicht nur an Godard, der auch mit die letzten Bilder dieses Genies enthält.
Noch besser das Programm, noch schöner das Kino gleich nebenan, das legendäre »Le Champo«. Dort läuft neben einigen aktuellen und Einzeltiteln nebeneinander eine Pasolini-Reihe, eine James-Bond-Nacht, und eine Reihe zu den »Großen Regisseuren Japans«.
Wir entschieden uns zuerst für Oshima (Nackte
Jugend), dann für Ozu (Der Geschmack von grünem Tee über Reis). Vor dem Film gehen wir essen, kommen auf dem Weg an einem dritten Kino vorbei: Eine lange Schlange ringelt sich vor dem »Ciné-Club Des Ecoles«, das von oben bis unten mit Godard plakatiert ist, auch hier laufen zwei Dutzend seiner Filme, heute Le petit soldat. Ganz offensichtlich standen all diese jungen Menschen für die Filme eines gerade verstorbenen 91-jährigen an. In Deutschland wäre das undenkbar. Unglaublich, diese Franzosen!
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Es war dann aber leider doch nicht Godard, sondern eine »Netflix Preview« von Blonde, die gezeigt wurde. Man soll die Franzosen also nicht blind verklären, aber diese drei Kinoprogramme allein, abzüglich Netflix, bleiben undenkbar.
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Es folgt noch ein Aperçu: Im Restaurant schräg gegenüber an der Ecke wurden wir auf den Nebentisch aufmerksam, wo Kartoffelbrei überaus cremiger Konsistenz langsam aus 40cm Höhe aus dem Kupfertopf direkt in den Teller gegossen wurde.
Der so bediente Gast war, jetzt sahen wir genauer hin, kein anderer als der Regisseur von »Blonde«: Andrew Dominik, den ich zwei Tage vorher noch auf der Bühne in San Sebastián gesehen hatte. Umringt von eifrigen Netflix-Anzugträgern und vielleicht
noch ein paar Cineclubbern und neben ihm der Musiker Warren Ellis, der seit 25 Jahren in Paris lebt.
Was den Abend dann aber richtig abrundete, war, dass Dominik nach dem Dessert noch Besuch bekam: Vom Regiepaar Gaspar Noé und Lucile Hadzihalilovic.
Wenn so ein ganz normaler Pariser Kinoabend ist...
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Dass der Zustand der Filmkultur in Deutschland so vergleichsweise desaströs ist, hat vielleicht damit etwas zu tun: Wie viel Film im Film-Film gibt es? Wie viel Reflexion über das Filmemachen? Wie viel Beschwörung auch des Zaubers, den Kino bedeutet? Des Glamours? Es hat alles etwas miteinander zu tun. Sowas kommt von sowas. Es ist nicht voneinander zu trennen. Wer das Medium nicht liebt, wer die Künstler nicht liebt, wer sie nur als Stellvertreter und Repräsentanten eigener Gelüste und Ansichten sieht, aber nicht für sich genommen, nicht in ihrem Eigenwert und ihrer sperrigen Widerständigkeit, der kann auch kein gutes Kino machen.
Welt vergessen; Welt spiegeln; Welt anders sehen. Darum geht es.
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Es ist mehr als suspekt, wenn vom Kino »Gesellschaftliche Verantwortung« verlangt wird. Wie jede Kunst, sollte auch Kino nicht in Dienst genommen werden.
Wie jede Kunst ist das Kino dazu, da Gegenrealitäten zu schaffen und zu verteidigen – gegen den Mainstream. Gegen die als Schwarmintelligenz maskierte Dummheit.
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Heute kommt allerorten, nicht nur in der Kunst, auch in der Politik die verbrauchte Sentimentalität zurück und triumphiert über die Restbestände kühner Artistik.
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»Sparta ist ein herausragender und reifer Film, der mit seinem heiklen Thema äußerst einfühlsam umgeht. Die Viennale ist überzeugt, dass Filmfestivals nicht zuletzt dazu da sind, Filme wie Sparta zu zeigen und zur Diskussion zu stellen.«
Aus der Pressemitteilung der Viennale, heute am 28. September 2022
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»Es war einmal eine Zeit, da hatten Götter in der Stadt gewohnt. Jetzt liegt Raffael im Pantheon begraben, ein Halbgott noch, ein Glückskind Apolls, doch wie traurig, was später sich ihm an Leichnamen gesellte, ein Kardinal vergessener Verdienste, ein paar Könige, ihre mit Blindheit geschlagenen Generale, in der Karriere hochgediente Beamte, Gelehrte, die das Lexikon erreichten, Künstler akademischer Würden. Wen schert ihr Leben?«
- Wolfgang Koeppen, »Der Tod in Rom«
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Setbesuch in Tivoli bei Rom. Dass die Regisseurin auf einen zukommt und einen gleich mit Handschlag begrüßt, ist mir in Deutschland selten passiert, dass es die Hauptdarstellerin genauso macht, noch weniger. Was einen sofort einnimmt, ist die Unmittelbarkeit, die Direktheit, das Informelle gepaart mit großer Höflichkeit, das einem bei Italienern immer wieder begegnet. Ein menschliches Interesse auch Unbekannter für Unbekannte.
Später sitzen wir dann alle zusammen: Acht
Italiener, Drehbuch, Regie, Kamera, Produktion, Darsteller, historische Berater. Alle reden durcheinander, kameradschaftlich, solidarisch. Ein klassisches Interview ist so unmöglich. Aber man lacht, trinkt, ist sofort Teil einer Familie. Wir reden nicht über die Wahlen, obwohl die Neofaschisten gewonnen haben. Lampedusa werden wir jetzt nicht zitieren. Aber Italien bleibt Italien.
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In Rom ist mir Andrew Dominik bis jetzt noch nicht über den Weg gelaufen. Dafür habe ich mit Jasmine Trinca einen Wein getrunken. Das war besser.
(to be continued)