Cinema Moralia – Folge 284
Und dann kommt Björn Böhning um die Ecke... |
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Auch die Regisseurin Shirin Neshat, deren Film Land of Dreams bald in die Kinos kommt, hat unterschrieben... | ||
(Foto: W-Film) |
»Wir sind alt, Chevalley, sehr alt. Es sind zumindestens 25 Jahrhunderte, dass wir auf den Schultern das Gewicht hervorragender ganz verschiedenartiger Kulturen tragen: alle sind sie von außen gekommen, keine ist bei uns von selbst gekeimt, in keiner haben wir den Ton angegeben.«
- Giuseppe Tomasi di Lampedusa: »Der Leopard«»Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: Hier ist erst der Schlüssel zu allem.«
- Goethe
Es muss sich alles verändern, damit alles so bleibt wie es ist – so sagt es Fürst Salinas in Viscontis unvergleichlichem Sizilienepos Der Leopard und Lampedusas Vorlage. Das Kino wächst hier über sich hinaus, wird, was es sein muss: Existentiell. Burt Lancaster, der frühere Zirkusartist wird im Technicolor geadelt zum Raubtieraristokraten. In Viscontis Namen darf er hier
auch so schöne wahre gute Sätze sagen wie diesen: »Ich gehöre einer abtretenden Klasse an. Die Sizilianer, seit 2.500 Jahren Kolonie, wollen Schlaf, Tod, Unbeweglichkeit. Wir waren Adler, Leoparden; an unsere Stelle treten Lämmer und Geier.«
Der eigentliche Höhepunkt des Films ist aber nicht die vierzigminütige, grandiose Ball-Sequenz, sondern das Danach: Salinas tritt hinaus in den grauenden Morgen, Schüsse irgendwo in der Ferne kartätschen die Revolution nieder und er weiß, es
ist vorbei mit allem. Es ist trotzdem schön und es bricht einem das Herz.
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Das Herz bricht aus vielen Gründen.
Kein Tag vergeht, ohne dass ich seit dem 13. September an JLG denke. Es rührt mich, immer noch immer wieder an ihn zu denken. An seine letzten Stunden. Ich weiß auch nicht, warum.
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»Aber noch ist es nicht so weit, eben haben wir ja erst mühevoll die Türe aufgestoßen, uns halbwegs eingerichtet in einer Finsternis, die niemals voll zu erleuchten sein wird, warum nicht, soll noch gesagt werden. Aber hat man denn nicht schon allerorten Leuchtfackeln angezündet? Gibt es nicht Psychologie, uns zu helfen? Soziologie, uns zu orientieren? Existiert nicht lange schon ein Forschungszweig, der sich Suizidologie nennt und dem bedeutende wissenschaftliche Arbeiten zu verdanken sind? Natürlich...« – Jean Amery
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Es ist ein sehr schöner Nachruf, einer der schönsten, den Georg Seeßlen auf epd-Film zu Godard geschrieben hat.
Allein der Anfang: »Jeder neue Film von Jean-Luc Godard hat uns vor Augen geführt, welch absurdes Unterfangen Filmkritik eigentlich sein kann. Nicht nur, weil Godards Filme immer schon gerade dort waren, wohin man mit Texten noch nicht (oder nie) gelangen konnte, sondern auch, weil seine Filme ja immer schon selbst Kritik waren. Kritik des Films, Kritik des Bildes, Kritik der Worte, des Sehens, Hörens, Lebens. In vielen Filmen von Godard passiert etwas, das wie eine Loslösung erscheint, als würde ein Film sich irgendwann vom Wollen derer, die ihn machen, lösen, sich wie ein unruhiger Fluss den eigenen Weg suchen und nicht nur überraschende Wendungen, sondern auch Staus, Inseln, Schnellen erleben und umgekehrt die ›machen‹, die ihn produzieren und vielleicht auch die, die ihn sehen. Ein Film by Godard oder ein Godard by Film. Godard jedenfalls ist der Name für eine Sphäre, in der sich Bilder, Worte und Klänge auf eine neue Weise organisieren.«
Und die Feststellung: »Und doch liegt JLGs frohe Botschaft an unser Metier auch darin: dass man anders, freier über Film sprechen und schreiben kann, wo es andere, freiere Filme gibt.«
Aber am Schluss spricht Seeßlen das frei und selbstbewusst aus, was alle Kleinbürger des Feuilleton in diesem wie anderen Fällen zaghaft verschweigen: Freitod. Selbstmord. Suizid. Eines der letzten alten Tabus in der scheinbar tabulosen, gerade wieder neue Tabus erfindenden Wohlstandsgesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Die Monographie über »Der Freitod und das Kino« ist noch nicht geschrieben.
Seeßlen zu Godard: »Dass dieser Mensch uns mit einem weiteren unlösbaren Rätsel hinterlassen würde, einem assistierten Suizid, der nicht auf eine Krankheit, sondern, wie die Angehörigen mitteilen, auf Erschöpfung zurückgeht, ist konsequent. Der zweite Teil der Botschaft ist bedeutend: Godard, heißt es, wollte, dass man das weiß. Die intimste Entscheidung, die über das eigene Leben, den eigenen Tod, ist für ihn auch die öffentlichste. Jean-Luc Godard hat auch seinen Tod politisch gemacht.«
Ein Glück im Unglück.
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Man soll den Freitod nicht auf die leichte, sehr wohl aber auf die freie Schulter nehmen. Freiheit wird, vor allem in Deutschland aber oft missverstanden als Liederlichkeit als Verantwortungslosigkeit. Der ganze Liberalismus – nein ich meine nicht (nur) die FDP – ist ein Opfer dieses falschen Verständnisses.
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Im Iran protestieren Filmemacher und Schauspieler gegen das Regime. Anlass ist der Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini infolge schwerer Verletzungen in Polizeigewahrsam. Am 16. September starb sie. Nicht »aufgrund der Misogynie« des islamistischen Regimes, wie der Spiegel schreibt, sondern wegen eklatanter Menschenrechte.
Man sollte nicht wegschauen. Und zwar nicht, weil es hier um »eine Frau« geht, weil es um »eine Kurdin« geht, sondern weil es um Menschen geht und um das Verlangen nach Freiheit. Emanzipatorische Kräfte sind ja nicht nur weiblich und kurdisch.
Am 25. September hat der iranische Regisseur Asghar Farhadi (About Elly, Nader und Simin) deutlich um internationale Hilfe gebeten. Der Oscarpreisträger bat, sich weltweit sichtbar mit den Protestierenden zu solidarisieren und lud »alle Künstler, Filmemacher, Intellektuelle, Bürgerrechtler aus der ganzen Welt und allen Ländern sowie alle, die an die Würde und Freiheit des Menschen glauben« dazu ein, »sich mit den starken und mutigen Frauen und Männern Irans zu solidarisieren, sei es durch Videos, durch Schreiben oder auf andere Weise«.
Ende September verfassten iranische Filmschaffende einen regierungskritischen offenen Brief, der ihre Unterstützung für die Proteste zum Ausdruck bringt. Zu den Unterzeichnenden gehört Ali Abbasi, der Regisseur des Films Holy Spider (2022), der für Dänemark als Beitrag für die Oscarverleihung 2023 eingereicht wurde, sowie dessen Hauptdarstellerin Zahra Amir Ebrahimi, die dieses Jahr in Cannes für diesen Film als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde; daneben auch die Regisseurin Shirin Neshat, deren Film Land of Dreams (2021) im November in die deutschen Kinos kommt.
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Holy Spider ist eine deutsche Produktion. Unter hohem Risiko sprangen der Berliner Produzent Sol Bondy und seine Firma One Two Films 2020 als Hauptproduzent ein.
Dieser Film weicht vor nichts zurück – er ist der drastische Gegenentwurf zum aus guten Gründen oft sehr indirekteren, sich aber auch auf Poesie zurückziehenden, von der Zensur geprägten Iranischen Kino. Ali Abbasi zeigt ein Iran, welches von vielen Iranerinnen und Iranern als
»endlich mal echt« bezeichnet wurde. Und das durch die Ereignisse der letzten Wochen eine dringliche Resonanz findet.
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»Gibt es mit dem Kino jetzt zu Ende? Hat das Kino noch eine Zukunft?« Das fragte mich eine sehr gute, vielbeschäftigte deutsche Schauspielerin letzte Woche während eines sonnigen Gesprächs auf dem Filmfest Hamburg. Spontan reagierte ich so: »Nein, auf keinen Fall! Medien sterben nicht, sie werden nur durch neue ergänzt. Dem Kino geht es sehr gut, es wird immer Kino gebraucht, aber natürlich muss ich das Kino also die Produktion wie die Distribution neuen Umständen
anpassen.«
Später überlegte ich, ob ich das eigentlich selber glaube? Vielleicht bin ich, wenn ich mal drüber nachdenke, nicht ganz so optimistisch.
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Wie man hört, dürfen an der sogenannten »Filmuniversität Potsdam« deren Namensgeber Konrad Wolf sich so laut im Grab herumdreht, dass man das Rumpeln bis Berlin vernimmt, Regisseure neuerdings keine eigenen Drehbücher mehr schreiben.
Denn die Drehbuchstudis brauchen ein Reservat, brauchen Hege und Pflege, denn in der freien Wildbahn wären sie offenbar nicht überlebensfähig.
Aber wozu müssen solche Drehbuchschreiber überhaupt überleben, wenn sie sich nur parasitär auf Kosten von Regisseuren behaupten können.
Der Autorenfilm wird damit in Potsdam offiziell abgewickelt. Die Bürokratie als Reservatsleiter sorgt dafür.
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Es kennzeichnet Endzeiten, wenn es Gesetze für alles gibt. Wenn alles und jedes geregelt werden muss, ist dies ein Indiz dafür, dass es nirgendwo mehr einen selbstverständlichen Konsens gibt. Dafür, dass Misstrauen herrscht. Dass Regierende noch die kleinsten Regungen und Nuancen der von ihnen Regierten kontrollieren möchten.
Ein Übermaß an Bürokratie und Gesetzen ist das Kennzeichen einer Krise der Demokratie.
Wenn diese Überlegung stimmt, dann können wir nicht optimistisch sein für die Zukunft der Republik und ihres Kinos.
Nicht alle sagen es offen, aber die Allermeisten denken es: Gerade den Produzenten, aber auch den Regisseuren wird die kreative Luft abgeschnürt durch zig neue Regelungen, die nicht nur »Green Producing« und »Diversität« vorschreiben, sondern vor allem Themen vorgeben, Inhaltismus vorgeben, die alle möglichen Nachweise für alle möglichen kleinkarierten Wünsche der Filmförderer verlangen.
Nichts wird besser dadurch.
Zu einem Aufstand der Filmschaffenden kommt es nur deswegen nicht, weil alle müde sind und feige. Weil sie alle Angst haben, die Ersten zu sein, die aus der Deckung kommen, und den Verantwortlichen in Politik und Förderung ins Gesicht sagen, was sie von ihnen halten.
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Und dann kommt Björn Böhning um die Ecke... Es wurde mir von mehreren Teilnehmern erzählt: Wieder einmal spielt der Produzentenverband – der zugegeben als Interessenvertretung seit längerer Zeit öffentlich unsichtbar ist – mit der Idee einer Zusammenlegung mit der sogenannten »Produzentenallianz«. Ungleiche Verbände, deren Fusion nur Monster zeugen kann, weil die Allianz zu großen Teilen aus Werbefilmern und Fernsehproduzenten, darunter auch
Sendertöchtern besteht.
Wenn es kein anderes Argument gäbe gegen eine Zusammenlegung – es gibt Dutzende –, dann ist das die Person von Björn Böhning, dem Geschäftsführer der Allianz.
Wer kann diesem Mann, der das Desaster um die DFFB-Besetzungen zu verantworten hat, inklusive Gerichtsurteile gegen die DFFB und rückdatierte Bewerbungen noch trauen?
Böhning versteht nichts von der Sache, er versteht nur Strippenzieherei und hat politische Kontakte.
Die gute Nachricht: Am Tag nach der möglichen Fusion gründet sich dann ein tatsächlich unabhängiger Produzentenverband.
(to be continued)