Cinema Moralia – Folge 287
»Ohne Kritik keine Öffentlichkeit. Ohne Öffentlichkeit keine Künste. Ohne Künste keine Demokratie« |
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Arsenal: sowjetisches Revolutionskino | ||
(Foto: Arsenal Institut Berlin) |
»Der Kritiker ist vom Kritisierten (und denen, die diesem unterworfen sind) nicht getrennt, sondern Teil der immer schon stattfindenden gesellschaftlichen Selbstverständigung, der aber anspruchsvoll gefasst ist als Teil der Selbstauflösung eines Täuschungszusammenhangs.«
Rahel Jaeggi, in: »Was ist Kritik?«, hrsg. von Rahel Jaeggi; Frankfurt 2009
»Die Zukunft der Kritik« – der Titel des Kongresses ist optimistisch; vielleicht unfreiwillig. Denn er geht zumindest einmal davon aus, dass es so eine Zukunft überhaupt gibt, und dass sich die Frage nachstellt. Aus meiner Sicht ist das schon Optimismus.
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Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt (in dem Band: »Was ist Kritik?«, s.o.) die Lage der Gegenwartsgesellschaften, in denen auch Kritik stattfindet, so:
»Erfahrungen des Kontroll- und des Gestaltungsverlustes prägen aber nicht nur die kollektive, sondern ebenso die individuelle Lebenswirklichkeit in der Spätmoderne: Dass das eigene Leben biographisch nicht mehr planbar, nicht mehr als Lebensprojekt zu verfolgen ist, postulieren nicht nur die Sozialphilosophen,
sondern bestätigen auch die empirischen Sozialforscher. Erfolgreiche Daseinsbewältigung in hochdynamischen Gesellschaften, in denen sich die Optionenfelder ständig und in unvorhersehbaren Richtungen verschieben, erfordert die Fähigkeiten des Wellenreiters, der neue Optionen ergreift und seinem Leben eine neue Richtung zu geben vermag, wann und wo immer sich günstige Gelegenheiten bieten. Wer hingegen an der Idee autonomer Lebensgestaltung oder an der Verfolgung
eines Lebensprojektes festhält, riskiert sein Scheitern.«
Wenn im Folgenden von Kritik die Rede ist, meinen wir ausdrücklich nicht allein Filmkritik. Sondern Kunstkritik im Allgemeinen und damit auch als Gesellschaftskritik verstanden.
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Dass Kritik der Kritik unbedingt nötig ist, und zuwenig stattfindet, haben wir in früheren »Cinema Moralia«-Folgen schon zur Genüge und zum Teil detailliert beschrieben.
Um sie kritisieren zu können, ist es aber unverzichtbar, Kritik überhaupt erst einmal weiter stattfinden zu lassen, sie also vor dem zu retten, was sie gefährdet. Und man sollte sich nicht täuschen, wie vielen – neudeutsch »Herausforderungen« genannten – Bedrohungen Kritik in der Gegenwart ausgesetzt ist.
Man will keine Kritik. Denn Kritik stört den Fluss. Den Fluss des Gesellschaftlichen, das Dauer-Geplapper in Medien und Portalen, den Fluss der Bilder, der eigenproduzierten und dann schnellstmöglich in asozialen Netzwerken veröffentlichten »Selfies« ebenso wie den Fluss der nicht umsonst Strom genannten Streaming-Portale, den Fluss des oft genug institutionell moderierten oder sogar initiierten Mainstreaming verschiedenster Lebensbereiche.
Warum sollte man in einer Welt, in der das Leben selbst zunehmend kuratiert ist, noch Kritik brauchen? sie würde die Kuratoren infrage stellen, die Lebensentwürfe erschüttern, die Entscheidung, die einem von Maschinen und Gesellschaft abgenommen wird, wieder zurück in die eigenen Hände befördern – wo man sie nicht haben möchte.
Wenn dieser Text gefällt, könnten Ihnen folgende Filme gefallen – wären solche Hinweise nicht viel bequemer und einfacher und schneller zu befolgen als das Lesen einer differenzierten Filmkritik, das Entschlüsseln der für einen selbst relevanten Informationen, das Nachdenken, wie weit man sich auf das Urteil des Autors verlassen sollte, und ob dieses einen Grund ist, einen Film zu besuchen oder ihn gerade zu vermeiden?
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Joseph Beuys hat, durchaus angreifbar, formuliert: »Jeder ist ein Künstler.« Heute gilt jedenfalls: »Jeder ist ein Kritiker.«
Das politische Missverständnis, dass Demokratie etwas mit Beteiligung zu tun habe, die keinen Preis hat, sondern aus einem natürlichen Anrecht folgt, führt zum kulturellen Missverständnis, dass aus ähnlich natürlichem Anrecht jeder voraussetzungslos mitquatschen und miturteilen könne, und dass jedes Urteil, jede Wertung gleichviel wert sei.
Denn ein Kanon oder die Vorstellung einer qualitativen Hierarchie innerhalb der Kunst gilt als »privilegiert«, denkfaul und womöglich faschistisch.
Wo aber alles und alle gleich sind, braucht man keinen Schiedsrichter des guten Geschmacks (arbiter elegantiae) mehr, niemanden, der einem die Komplexität eines Werkes entfaltet und erklärt, oder gar den eigenen Geschmack infrage stellt.
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Zusammenfassen ließe sich diese Lage auch im Begriff der PR-Gesellschaft. Als solche muss man eine Gesellschaft verstehen, in der sehr viele, möglicherweise sogar alle Phänomene auch als PR, also als Formen der Vermarktung und des Kommunikationsdesigns verstanden werden müssen.
Jedes Theater, jedes Museum, jedes wissenschaftliche Institut soll seine Arbeit heute erklären und sich selbst bewerben, alle Institutionen haben eine »Mission«, die in »Mission Statements« möglichst glatt und unangreifbar formuliert wird – während unabhängige Vermittlung, Einordnung, Bewertung mit den allgemeinen Medien schwinden.
Es scheint offensichtlich, dass heute in modernen Gesellschaften auch bei Individuen PR, also Labeling, Kommunikationsdesign und der Versuch, das eigene öffentliche Image zu steuern, nachzukontrollieren und zu korrigieren, inzwischen nahezu alle Gesellschaftsbereiche durchziehen und das, was früher einmal Privatheit hieß, abgelöst haben.
Was kann unter solchem Steuerungsdruck Kritik noch heißen?
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Der Verfall der Kritik bedeutet einen Verfall von Inhalten und Formen, ein Fehlen von Fragen und Infragestellung, von Orientierung und Sinn. Dies alles bedroht die Künste in ihrer Verständlichkeit und Kommunikationsfähigkeit und somit letztlich in ihrer Freiheit. Wer nichts versteht, kann nicht urteilen. Das bedroht die gesellschaftlichen Fähigkeiten zu kritischer Analyse und echter Innovation.
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»Die Zukunft der Kritik« heißt ein Kongress, der am kommenden Freitag/Samstag (18.-19. November 2022), in der Bundeskunsthalle Bonn und in der nächsten Woche Donnerstag bis Samstag (24.-26. November 2022) in der Akademie der Künste Berlin stattfinden wird.
In der Ankündigung heißt es: »Jeder Mensch ist heute ein Kritiker. Aber wo ist die Kritik? Wir sind alle Experten, die einander bewerten. Aber wo sind die Experten fürs Ganze?«
Und weiter nicht weniger triftig: »Ohne Kritik keine Öffentlichkeit. Ohne Öffentlichkeit keine Künste. Ohne Künste keine Demokratie.«
Dann folgt die Überlegung: »Ausgerechnet jetzt, wo die Monopole der Kritik gebrochen sind und endlich mehr Perspektiven Raum bekommen, erlebt die Kritik ihre größte Krise.«
Hier möchte ich den Veranstaltern widersprechen: der rhetorisch konstruierte Widerspruch ist keiner. Denn das Brechen der Monopole der Kritik – nicht der Industrien und Institutionen – ist ja eben die Voraussetzung und Ursache ihrer Krise. Kritik hat etwas mit Monopolen, Privilegien und
Hierarchien zu tun. Wie Demokratie. Wer Monopole, Privilegien und Hierarchien zerstört, zerstört auch Kritik und Demokratie, deren untrennbarer Zusammenhang ja von den Veranstaltern selbst betont wird.
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Dies und anderes werde ich selber mit anderen diskutieren können, denn ich habe die Ehre und das Vergnügen, als einer von wenigen Filmkritikern und als einer von ganz wenigen freien Kritikern an der Veranstaltung als Podiumsgast teilzunehmen – beim Podium über »Orte und Ökonomien der Kritik«.
Im Einzelnen geht es unter anderem um die Fragen: Was kann die Kritik, was können die Künste?; Wer kritisiert wen von wo aus?; Was ist die Rolle der Kritik? Wo gibt es politischen
Druck?
Im Grundsätzlichen darum, in welchem Verhältnis stehen Prinzipien der Diversität und Intersektionalität zu Argumenten der Form und welche Rolle neue Wirk- und Distributionsmechanismen der Kritik spielen? Also: Was bedeutet (heute) kritische Öffentlichkeit? Und wo ist die Öffentlichkeit im Metaverse?
Wir werden weiter denken und berichten.
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Für die in Berlin, denen das alles zuviel wird, bietet sich als Ausweichtermin der öffentliche Auftritt eines Kritikers an: »Ein Revolutionsfilm zwischen Universalismus und Patriotismus« lautet der Vortrag von Bert Rebhandl am Donnerstag, 24. November um 19 Uhr im Berliner Arsenal. Es geht um Aleksandr Dowschenkos Film Arsenal, UdSSR 1929, der, begleitet von Eunice Martins am Flügel, anschließend gezeigt wird. In der Ankündigung heißt es: »Der Film Arsenal trägt einen Widerspruch im sowjetischen Revolutionskino aus, der 2022 durch den russischen Imperialkrieg in der Ukraine wieder aufbrach.«
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Zu guter Letzt mal wieder zu Netflix. Diese Woche startet Bardo von Alejandro González Iñárritu. Dieser Film gehört unbedingt auf die große Leinwand! Er zeigt Bilder, die wirklich fürs Kino gemacht sind und die nur dort funktionieren können.
Zugleich ist er eine Netflix-Produktion. Immerhin vier Wochen lang ist er im Kino zu sehen – in vielen spanischsprachigen Ländern und
in den USA war dies sogar für sieben Wochen der Fall. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist die, dass der amerikanische Streaming-Dienst den Film nur in relativ wenigen deutschen Kinos herausbringt.
Was ist das eigentlich für eine Politik? Warum macht Netflix das? Geht es nur darum, um die Oscars mitbuhlen zu können? Inzwischen regt sich auch bei den Kreativen Widerstand, die ersten, die euphorisch bei Netflix gestartet sind, wenden sich bereits wieder ab, weil die Filme oft kaum noch ins Kino kommen.
Iñárritu selbst ist allerdings gelassen. Er erinnerte sich gegenüber »Screen« an seine Kindheit. Er hatte damals nur begrenzten Zugang zu Kinovorführungen. »Ich habe all diese absolut großartigen Leute im Fernsehen gesehen, Bergman, Buñuel, Fellini, und zwar mit einer VHS mit Bildern von sehr schlechter Qualität. Jetzt sieht man das alles auf dem Smartphone. Was aber tatsächlich überlebt, ist die Idee.«
(to be continued)