17.11.2022
Cinema Moralia – Folge 287

»Ohne Kritik keine Öffent­lich­keit. Ohne Öffent­lich­keit keine Künste. Ohne Künste keine Demo­kratie«

Arsenal
Arsenal: sowjetisches Revolutionskino
(Foto: Arsenal Institut Berlin)

Die Zukunft der Kritik in der PR-Gesellschaft: Ein Doppel-Kongress und viele Gedanken – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 287. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Der Kritiker ist vom Kriti­sierten (und denen, die diesem unter­worfen sind) nicht getrennt, sondern Teil der immer schon statt­fin­denden gesell­schaft­li­chen Selbst­ver­s­tän­di­gung, der aber anspruchs­voll gefasst ist als Teil der Selbst­auf­lö­sung eines Täuschungs­zu­sam­men­hangs.«
Rahel Jaeggi, in: »Was ist Kritik?«, hrsg. von Rahel Jaeggi; Frankfurt 2009

»Die Zukunft der Kritik« – der Titel des Kongresses ist opti­mis­tisch; viel­leicht unfrei­willig. Denn er geht zumindest einmal davon aus, dass es so eine Zukunft überhaupt gibt, und dass sich die Frage nach­stellt. Aus meiner Sicht ist das schon Opti­mismus.

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Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt (in dem Band: »Was ist Kritik?«, s.o.) die Lage der Gegen­warts­ge­sell­schaften, in denen auch Kritik statt­findet, so:
»Erfah­rungen des Kontroll- und des Gestal­tungs­ver­lustes prägen aber nicht nur die kollek­tive, sondern ebenso die indi­vi­du­elle Lebens­wirk­lich­keit in der Spät­mo­derne: Dass das eigene Leben biogra­phisch nicht mehr planbar, nicht mehr als Lebens­pro­jekt zu verfolgen ist, postu­lieren nicht nur die Sozi­al­phi­lo­so­phen, sondern bestä­tigen auch die empi­ri­schen Sozi­al­for­scher. Erfolg­reiche Daseins­be­wäl­ti­gung in hoch­dy­na­mi­schen Gesell­schaften, in denen sich die Optio­nen­felder ständig und in unvor­her­seh­baren Rich­tungen verschieben, erfordert die Fähig­keiten des Wellen­rei­ters, der neue Optionen ergreift und seinem Leben eine neue Richtung zu geben vermag, wann und wo immer sich günstige Gele­gen­heiten bieten. Wer hingegen an der Idee autonomer Lebens­ge­stal­tung oder an der Verfol­gung eines Lebens­pro­jektes festhält, riskiert sein Scheitern.«

Wenn im Folgenden von Kritik die Rede ist, meinen wir ausdrück­lich nicht allein Film­kritik. Sondern Kunst­kritik im Allge­meinen und damit auch als Gesell­schafts­kritik verstanden.

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Dass Kritik der Kritik unbedingt nötig ist, und zuwenig statt­findet, haben wir in früheren »Cinema Moralia«-Folgen schon zur Genüge und zum Teil detail­liert beschrieben.

Um sie kriti­sieren zu können, ist es aber unver­zichtbar, Kritik überhaupt erst einmal weiter statt­finden zu lassen, sie also vor dem zu retten, was sie gefährdet. Und man sollte sich nicht täuschen, wie vielen – neudeutsch »Heraus­for­de­rungen« genannten – Bedro­hungen Kritik in der Gegenwart ausge­setzt ist.

Man will keine Kritik. Denn Kritik stört den Fluss. Den Fluss des Gesell­schaft­li­chen, das Dauer-Geplapper in Medien und Portalen, den Fluss der Bilder, der eigen­pro­du­zierten und dann schnellst­mög­lich in asozialen Netz­werken veröf­fent­lichten »Selfies« ebenso wie den Fluss der nicht umsonst Strom genannten Streaming-Portale, den Fluss des oft genug insti­tu­tio­nell mode­rierten oder sogar initi­ierten Main­strea­ming verschie­denster Lebens­be­reiche.

Warum sollte man in einer Welt, in der das Leben selbst zunehmend kuratiert ist, noch Kritik brauchen? sie würde die Kuratoren infrage stellen, die Lebens­ent­würfe erschüt­tern, die Entschei­dung, die einem von Maschinen und Gesell­schaft abge­nommen wird, wieder zurück in die eigenen Hände befördern – wo man sie nicht haben möchte.

Wenn dieser Text gefällt, könnten Ihnen folgende Filme gefallen – wären solche Hinweise nicht viel bequemer und einfacher und schneller zu befolgen als das Lesen einer diffe­ren­zierten Film­kritik, das Entschlüs­seln der für einen selbst rele­vanten Infor­ma­tionen, das Nach­denken, wie weit man sich auf das Urteil des Autors verlassen sollte, und ob dieses einen Grund ist, einen Film zu besuchen oder ihn gerade zu vermeiden?

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Joseph Beuys hat, durchaus angreifbar, formu­liert: »Jeder ist ein Künstler.« Heute gilt jeden­falls: »Jeder ist ein Kritiker.«
Das poli­ti­sche Miss­ver­s­tändnis, dass Demo­kratie etwas mit Betei­li­gung zu tun habe, die keinen Preis hat, sondern aus einem natür­li­chen Anrecht folgt, führt zum kultu­rellen Miss­ver­s­tändnis, dass aus ähnlich natür­li­chem Anrecht jeder voraus­set­zungslos mitquat­schen und mitur­teilen könne, und dass jedes Urteil, jede Wertung gleich­viel wert sei. Denn ein Kanon oder die Vorstel­lung einer quali­ta­tiven Hier­ar­chie innerhalb der Kunst gilt als »privi­le­giert«, denkfaul und womöglich faschis­tisch.
Wo aber alles und alle gleich sind, braucht man keinen Schieds­richter des guten Geschmacks (arbiter elegan­tiae) mehr, niemanden, der einem die Komple­xität eines Werkes entfaltet und erklärt, oder gar den eigenen Geschmack infrage stellt.

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Zusam­men­fassen ließe sich diese Lage auch im Begriff der PR-Gesell­schaft. Als solche muss man eine Gesell­schaft verstehen, in der sehr viele, mögli­cher­weise sogar alle Phänomene auch als PR, also als Formen der Vermark­tung und des Kommu­ni­ka­ti­ons­de­signs verstanden werden müssen.

Jedes Theater, jedes Museum, jedes wissen­schaft­liche Institut soll seine Arbeit heute erklären und sich selbst bewerben, alle Insti­tu­tionen haben eine »Mission«, die in »Mission State­ments« möglichst glatt und unan­greifbar formu­liert wird – während unab­hän­gige Vermitt­lung, Einord­nung, Bewertung mit den allge­meinen Medien schwinden.

Es scheint offen­sicht­lich, dass heute in modernen Gesell­schaften auch bei Indi­vi­duen PR, also Labeling, Kommu­ni­ka­ti­ons­de­sign und der Versuch, das eigene öffent­liche Image zu steuern, nach­zu­kon­trol­lieren und zu korri­gieren, inzwi­schen nahezu alle Gesell­schafts­be­reiche durch­ziehen und das, was früher einmal Privat­heit hieß, abgelöst haben.

Was kann unter solchem Steue­rungs­druck Kritik noch heißen?

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Der Verfall der Kritik bedeutet einen Verfall von Inhalten und Formen, ein Fehlen von Fragen und Infra­ge­stel­lung, von Orien­tie­rung und Sinn. Dies alles bedroht die Künste in ihrer Vers­tänd­lich­keit und Kommu­ni­ka­ti­ons­fähig­keit und somit letztlich in ihrer Freiheit. Wer nichts versteht, kann nicht urteilen. Das bedroht die gesell­schaft­li­chen Fähig­keiten zu kriti­scher Analyse und echter Inno­va­tion.

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»Die Zukunft der Kritik« heißt ein Kongress, der am kommenden Freitag/Samstag (18.-19. November 2022), in der Bundes­kunst­halle Bonn und in der nächsten Woche Donnerstag bis Samstag (24.-26. November 2022) in der Akademie der Künste Berlin statt­finden wird.

In der Ankün­di­gung heißt es: »Jeder Mensch ist heute ein Kritiker. Aber wo ist die Kritik? Wir sind alle Experten, die einander bewerten. Aber wo sind die Experten fürs Ganze?«

Und weiter nicht weniger triftig: »Ohne Kritik keine Öffent­lich­keit. Ohne Öffent­lich­keit keine Künste. Ohne Künste keine Demo­kratie.«

Dann folgt die Über­le­gung: »Ausge­rechnet jetzt, wo die Monopole der Kritik gebrochen sind und endlich mehr Perspek­tiven Raum bekommen, erlebt die Kritik ihre größte Krise.«
Hier möchte ich den Veran­stal­tern wider­spre­chen: der rheto­risch konstru­ierte Wider­spruch ist keiner. Denn das Brechen der Monopole der Kritik – nicht der Indus­trien und Insti­tu­tionen – ist ja eben die Voraus­set­zung und Ursache ihrer Krise. Kritik hat etwas mit Monopolen, Privi­le­gien und Hier­ar­chien zu tun. Wie Demo­kratie. Wer Monopole, Privi­le­gien und Hier­ar­chien zerstört, zerstört auch Kritik und Demo­kratie, deren untrenn­barer Zusam­men­hang ja von den Veran­stal­tern selbst betont wird.

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Dies und anderes werde ich selber mit anderen disku­tieren können, denn ich habe die Ehre und das Vergnügen, als einer von wenigen Film­kri­ti­kern und als einer von ganz wenigen freien Kritikern an der Veran­stal­tung als Podi­ums­gast teil­zu­nehmen – beim Podium über »Orte und Ökonomien der Kritik«.
Im Einzelnen geht es unter anderem um die Fragen: Was kann die Kritik, was können die Künste?; Wer kriti­siert wen von wo aus?; Was ist die Rolle der Kritik? Wo gibt es poli­ti­schen Druck?

Im Grund­sätz­li­chen darum, in welchem Verhältnis stehen Prin­zi­pien der Diver­sität und Inter­sek­tio­na­lität zu Argu­menten der Form und welche Rolle neue Wirk- und Distri­bu­ti­ons­me­cha­nismen der Kritik spielen? Also: Was bedeutet (heute) kritische Öffent­lich­keit? Und wo ist die Öffent­lich­keit im Metaverse?

Wir werden weiter denken und berichten.

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Für die in Berlin, denen das alles zuviel wird, bietet sich als Ausweich­termin der öffent­liche Auftritt eines Kritikers an: »Ein Revo­lu­ti­ons­film zwischen Univer­sa­lismus und Patrio­tismus« lautet der Vortrag von Bert Rebhandl am Donnerstag, 24. November um 19 Uhr im Berliner Arsenal. Es geht um Aleksandr Dowschenkos Film Arsenal, UdSSR 1929, der, begleitet von Eunice Martins am Flügel, anschließend gezeigt wird. In der Ankün­di­gung heißt es: »Der Film Arsenal trägt einen Wider­spruch im sowje­ti­schen Revo­lu­ti­ons­kino aus, der 2022 durch den russi­schen Impe­ri­al­krieg in der Ukraine wieder aufbrach.«

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Zu guter Letzt mal wieder zu Netflix. Diese Woche startet Bardo von Alejandro González Iñárritu. Dieser Film gehört unbedingt auf die große Leinwand! Er zeigt Bilder, die wirklich fürs Kino gemacht sind und die nur dort funk­tio­nieren können.
Zugleich ist er eine Netflix-Produk­tion. Immerhin vier Wochen lang ist er im Kino zu sehen – in vielen spanisch­spra­chigen Ländern und in den USA war dies sogar für sieben Wochen der Fall. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist die, dass der ameri­ka­ni­sche Streaming-Dienst den Film nur in relativ wenigen deutschen Kinos heraus­bringt.

Was ist das eigent­lich für eine Politik? Warum macht Netflix das? Geht es nur darum, um die Oscars mitbuhlen zu können? Inzwi­schen regt sich auch bei den Kreativen Wider­stand, die ersten, die eupho­risch bei Netflix gestartet sind, wenden sich bereits wieder ab, weil die Filme oft kaum noch ins Kino kommen.

Iñárritu selbst ist aller­dings gelassen. Er erinnerte sich gegenüber »Screen« an seine Kindheit. Er hatte damals nur begrenzten Zugang zu Kino­vor­füh­rungen. »Ich habe all diese absolut groß­ar­tigen Leute im Fernsehen gesehen, Bergman, Buñuel, Fellini, und zwar mit einer VHS mit Bildern von sehr schlechter Qualität. Jetzt sieht man das alles auf dem Smart­phone. Was aber tatsäch­lich überlebt, ist die Idee.«

(to be continued)