22.12.2022
Cinema Moralia – Folge 290

Was kann das Kino vom Fußball lernen?

Pasolini
Valerio Curcio: Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen – Fußball nach Pier Paolo Pasolini
(Foto: Edition Converso)

Angriff ist die bessere Verteidigung: Pasolini und der Fußball als Ästhetisierung des Lebens, als letztes heiliges Ritual einer verdammten Welt – und als Schule des Kinos im Sumpf des Theoriedefizits – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 290. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Dem Kino der Gegenwart, dem deutschen sowieso, fehlt schon seit längerer Zeit etwas Grund­sätz­li­ches: Es ist die Fähigkeit, die Massen zu begeis­tern. Die Fähigkeit zu mobi­li­sieren, in die Tiefe und zugleich in die Breite zu wirken.
Viele Filme und ihre Macher wollen das gar nicht mehr. Sie sind »bescheiden«, heißt es aner­ken­nend, wo Horizont und Vision fehlen, wie Interesse an »den Leuten«. Statt­dessen Rückzug ins Ernst­hafte und Seriöse, das bei uns ja besonders gern mit Kunst verwech­selt wird.
Warum trauen wir uns nicht, ein bisschen unernster und unse­riöser zu sein?

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Antwort: Weil wir das Kino auch nicht mehr ernst nehmen. Weil wir die Kunst nicht ernst nehmen. Weil wir beides behandeln, wie den Besuch eines Gottes­dienstes. Es soll uns erbauen, es soll ein Gefühl der eigenen Bedeutung geben. Aber es spielt keine echte Rolle in unserem Leben. Sonst wäre es umkämpfter, proble­ma­ti­scher, Objekt des Streits, keines der Erbauung.
Eine Rolle in unserem Leben würde es erst dann wieder spielen, wenn es Gebrauchs­ge­gen­stand sein dürfte, nicht heilige Kunst sein müsste. Die Literatur ist schon eher ein solcher Gebrauchs­ge­gen­stand.

Die Filme­ma­cher scheinen sich auch mit ihren immer kleineren Publi­kums­seg­menten zu begnügen, statt sich zu fragen, wie man sie ausweiten und Koali­tionen zwischen den verschie­denen Publi­kums­schichten bilden könnte.
Das aber wäre die Aufgabe.

Klar ist natürlich, dass »die Rahmen­be­din­gungen«, sprich: die Film­för­de­rung, es den Machern nicht gerade leicht machen, in irgend­einer Hinsicht groß zu denken.
Aber das ist auch nur die halbe Wahrheit.

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Die mangelnde gesell­schaft­liche und ästhe­ti­sche Bedeutung des Kinos hier­zu­lande zeigt sich auch daran, dass es – jeden­falls in Deutsch­land – keinerlei ästhe­ti­sche Phan­ta­sien entfes­selt. Wo gäbe es denn in den letzten 30, 40, 50 Jahren eine vernünf­tige ästhe­ti­sche Theorie des Kinos? Eine Theorie, oder auch eine theo­re­tisch infor­mierte Geschichte des Kinos, die es mit dem aufnehmen kann, was gleich­zeitig von der Kunst­wis­sen­schaft über die Kunst und von der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft über Literatur geschrieben wird?

Was hätten unsere Film­schaf­fenden über einige der Kunst-Themen des Jahres zu sagen gehabt, etwa über die »documenta-Debatte«, über BDS, über die Zukunft der Kritik?

Inter­es­siert Euch das überhaupt Leute??? Oder besser doch Kopf in den Sand und Denk­faul­heit. »Wir müssen auch noch den Antrag fertig machen«.

Wo gäbe es bemer­kens­werte Ausein­an­der­set­zungen der Filmblase, also der Filme­ma­cher aller Gewerke und ihrer wissen­schaft­li­chen und feuil­le­to­nis­ti­schen Beiboote mit zeit­genös­si­scher Philo­so­phie, Sozio­logie, Ästhetik, Theorie?
Es gibt sie einfach nicht – und alle sind damit zufrieden.

Viel und gern wird von unseren »Film­schaf­fenden« gerade über »Femi­nismus« und »Diver­sität« geschwa­felt, über »Post­ko­lo­nia­lismus« und »Nach­hal­tig­keit«, über »Rassismus« und »Ökologie«.
Aber wo geht das über halb­ge­le­sene, vier­tel­ver­daute Leit­ar­tikel hinaus?
Und auf welche – und seien es auch nur modische – Theorien rekur­riert man denn da? Eigent­lich stört Theorie nur die gute Laune der Einigkeit. Haupt­sache die richtige Gesinnung, über Theorie müsste man sich ja streiten.

Natürlich macht die Marx-Lektüre keine Revo­lu­ti­onärin, und Adorno ersetzt nicht den Gang ins Museum. Aber ganz ohne geht es halt auch nicht.

So aber ist dann eben auch unsere Debatte, selbst wenn sie Themen berührt, bei denen an Enga­ge­ment und Interesse der Betei­ligten kein Zweifel bestehen kann.

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Für Ästhetik dagegen inter­es­siert sich sowieso niemand. Ästhetik steht unter Verdacht. Allein schon das Wort. Reden wir besser von Form. Geht schon, ist aber nicht dasselbe. Geschmack? Haltung? Stil? Sind subjektiv. Handwerk? Muss jeder beherr­schen.

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Die besten, also inter­es­san­testen Theorien des Kinos und die besten Kate­go­rien der Film­be­trach­tung stammen aus der Kunst- und der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, sie stammen von Arnheim und Barthes, Eco und Adorno.
Es gibt in den letzten Jahren aus Deutsch­land keine Bücher, die bessere Fragen an das Kino stellten und bessere Kate­go­rien anböten, um über Kino nach­zu­denken, als etwa das neueste Buch von Moritz Baßler (Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler) »Populärer Realismus. Vom Inter­na­tional Style gegen­wär­tigen Erzählens«, obwohl sich dessen Konzept sofort aufs Autoren­kino über­tragen lässt, und einiges an Provo­ka­tionen unserer Gemüt­lich­keit bereit­hält. Oder als den kurzen Einwurf »Die Wirk­lich­keit findet statt. Über notwen­dige Präsenz in Kunst und Sport« von Horst Bredekamp (Kunst­his­to­riker) und Gunter Gebauer (Philosoph und Sport­theo­re­tiker), das zwar mit komplexen ästhe­ti­schen Kate­go­rien operiert, aber bezeich­nen­der­weise vom Fußball und seiner Beziehung zum Publikum handelt.

Womit wir beim nächsten Thema wären.

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In Deutsch­land, wo man am meisten über das urteilt, wovon man am wenigsten versteht, und das Hinschauen und Hinhören, und die Schulung des Instinkts wie des Geschmacks nicht nur im Hinblick auf das Kino krass unter­ent­wi­ckelt sind, in diesem Deutsch­land hat man bis zum Sonntag auch nicht an den WM-Titel der Argen­ti­nier glauben wollen. Denn so hieß es kontra­fak­tisch, die seien ja »nur abwehr­stark« und bis auf den einen ein Haufen mittel­mäßiger Klopper (merke: beides ist etwas, was die Deutschen immer auszeich­nete, was sie aber inzwi­schen verloren haben, zugunsten von... nichts!). Und außerdem geht einem anstän­digen Deutschen »der Kult um Messi auf die Nerven«.
Dass es sich nicht um einen Kult handelt, sondern um Respekt für ein Genie, um Aner­ken­nung für dessen Beschei­den­heit und Aufop­fe­rungs­be­reit­schaft, und um Liebe, die jene des Ball­zau­be­rers für sein zahlendes wie nicht­zah­lendes Publikum erwidert, will in die deutschen Dick­schädel nicht hinein. Sie faseln lieber weiter vom »durch Kampf zum Spiel kommen«.

Die Argen­ti­nier siegten durch Inten­sität, durch Leiden­schaft, durch Wider­stands­fähig­keit. Und durch den Willen zu siegen, der auch bedeutet, dass man willens ist, anderen eine Nieder­lage zu bereiten.

Wir sollten darüber nach­denken, was sich vom Fußball für das Kino lernen lässt.

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Pier Paolo Pasolini (1922-1975) war ein Anti­fa­schist und Provo­ka­teur, ein großer Film­re­gis­seur und Denker – und er war Fußballfan und -spieler. Und zwar unbedingt. Für ein Fußball­spiel verschob er sogar Dreh­ar­beiten.

»Jedes Tor ist eine für sich stehende Erfindung, es unter­wan­dert den Code: Jedes Tor ist Unaus­weich­lich­keit, Geis­tes­blitz, Staunen, Irrever­si­bi­lität. Genau wie das dich­te­ri­sche Wort. Der Torschüt­zen­könig einer Meis­ter­schaft ist stets der beste Dichter des Jahres«, sagte Pasolini einmal, um die poetische Dimension des Fußballs zu verdeut­li­chen.

Es wirkt, als habe er über Lionel Messi geschrieben.

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Selber war der erklärte Kommunist, der auch als Sport­re­porter arbeitete, Fan des FC Bologna, über den er 1963 sogar einen Film gemacht hat – in seiner Jugend­zeit war Bologna italie­ni­scher Seri­en­meister, ein Team, das in den Vorkriegs­jahren in Europa gefürchtet war, und für das es immer nur nach vorne ging. Es war eine Seelen­ver­wandt­schaft. Der deutsche Doku­men­tar­film­re­gis­seur Pepe Dankwart, der über Pasolini den Film »Vor mir der Süden« gemacht hat, erklärte jetzt in einem Beitrag auf 3sat-Kultur­zeit Pasolinis Liebe zum Fußball aus einer sozialen Erfahrung: »Er wurde von allen Seiten ange­griffen. Aber er hat nicht zurück­ge­zogen. Diese Menta­lität hat er auch auf dem Fußball­platz gebracht. Er wollte stürmen. Ohne taktische Spielchen.«

Ein Stürmer also – was sonst? Von ihm konnte man schon immer lernen, dass Angriff die bessere Vertei­di­gung ist. Aber der Mann des Volkes hat den Volks­sport Fußball nicht nur geliebt, er hat in ihm auch eine Verheißung gesehen und hatte ein quasi reli­giöses Verhältnis zu ihm. Nicht etwa das Kino, sondern der Fußball war für Pasolini auch schon in den 1950er Jahren »das letzte sakrale Schau­spiel unserer Zeit«, der einzige Ort, an dem sich noch alle Schichten und Klassen und Ideo­lo­gien versam­meln und wie einst das Kirch­gän­ger­volk zu einer Masse verschmelzen. »Er [Calcio i.e. Fußball] mag der Zerstreuung dienen, doch im Kern handelt es sich um einen Ritus. Während andere sakrale Schau­spiele, selbst der Gottes­dienst, bereits im Nieder­gang begriffen sind, ist uns der Fußball als einziges geblieben. Er hat den Platz des Theaters einge­nommen.«

Auf gesell­schaft­li­cher Ebene definiert er den Fußball damit als die letzte heilige Darbie­tung unserer Zeit. Das heißt, für ihn ist die Masse an Zehn­tau­senden Fans, die sich in einem Stadion versam­meln, eine poten­ziell revo­lu­ti­onäre Masse.

Ginge es mit rechten Dingen zu, müsste man so etwas auch übers Kino sagen können.

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Beim Verlag »edition converso«, das auch die groß­ar­tigen poli­ti­schen Texte des Sizi­lia­ners Leonardo Sciascia auf Deutsch verlegt, ist jetzt ein Buch von Valerio Curcio über Pasolini und den Fußball erschienen. Es heißt »Der Torschüt­zen­könig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini« und legt dar, dass Fußball für Pasolini aber nicht nur dieser quasi-religiöse Ort war, sondern eine der wenigen Situa­tionen, die dem mensch­li­chen Leben noch einen Sinn geben. In denen man die Last der spät­ka­pi­ta­lis­ti­schen Kons­um­ge­sell­schaft für ein paar freie unbe­fan­gene Stunden abschüt­teln konnte: »Die zwei Stunden Mitfie­bern (Aggres­sion und Verbrü­de­rung) im Stadion sind befreiend: auch wenn darin aus Sicht einer poli­ti­schen Moral oder mora­lis­ti­schen Politik eine Verwei­ge­rungs­hal­tung oder Welt­flucht zum Ausdruck kommt.«

Eine physische wie exis­ten­zi­elle Notwen­dig­keit, Welt­flucht und Befreiung. Im Fußball kann man Kraft und Inspi­ra­tion schöpfen, Freiheit, Sorg­lo­sig­keit und Gesel­lig­keit erleben.

Zugleich sei Fußball auch eine univer­selle Sprache, ein Mittel des Austauschs und der sozialen Teilhabe:

»Fußball ist ein System von Zeichen wie eine Meta­sprache. Es ist der letzte heilige Ritus unserer Zeit. Während andere heilige Riten wie die Messe im Nieder­gang begriffen sind, steht der Fußball bei den Massen hoch im Kurs. Er ist die Schau­spiel­kunst, die das Theater ersetzt hat.«

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Der deutsche Autor Moritz Rinke breitet in dem Beitrag seine Wunsch­phan­ta­sien aus: »Es müsste jemanden wie Pasolini jetzt geben. Der würde diesen Infantino eigen­händig zur Strecke bringen.« Ande­rer­seits: »Er würde gegen die völlige Entmo­ra­li­sie­rung und Vermark­tung dieses Sports wettern. Ich bin aber überzeugt, dass er dann heimlich denn noch die Spiele schauen würde.«

Fußball war eben auch für Pasolini Regres­sion und Trans­gres­sion, nicht Mora­li­sie­rung sondern Ästhe­ti­sie­rung des Lebens.

Das Kino muss genau das wieder werden. In Deutsch­land wie anderswo.

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Schon vor über drei Jahren schrieb der 2021 verstor­bene Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler und Theo­re­tiker der Ästhetik, Karl Heinz Bohrer in der »Litera­ri­schen Welt« darüber, »warum ein Autor nie ein Gefühls­ad­vokat sein sollte und die Gegen­warts­li­te­ratur größ­ten­teils grau­en­haft ist.«
Wann ist Bohrer zuletzt im Kino gewesen?

Es werde »keine inter­es­sante Literatur mehr geschrieben ... Was ist mit der Literatur los? Ist mit ihr etwas los?« Und weiter: »Bei Neuer­schei­nungen, beim Durch­blät­tern von Verlags­ka­ta­logen und Rezen­sionen fällt auf, wie das Lebens­kund­liche, das emotio­nell Bewegende eines uns schon bekannten Stoffes in den Charak­te­ris­tiken betont wird. Man hat da nicht unbedingt den Eindruck, von etwas geistig Inspi­rie­rendem, nicht von Literatur als Kunst.«
Bohrer fordert Imagi­na­tion ein, und die Vermei­dung der Wieder­ho­lung des realen Lebens und der »Lebens­hilfe«.
Bereits Hans Blumen­berg hat argu­men­tiert, dass der Roman, sofern er wirklich Literatur ist, nichts mit der Nach­ah­mung der Wirk­lich­keit zu tun hat, sondern der dem Roman eigenen ästhe­ti­schen Illusion der Wirk­lich­keit entspringt. Erst damit kommt die Erkenntnis.

Vieles in der zeit­genös­si­schen Literatur, so Bohrer, »steht aber nicht mehr im Zeichen von Erkenntnis«

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Literatur:

Valerio Curcio: »Der Torschüt­zen­könig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini.« Mit einem Vorwort von Moritz Rinke. Edition Converso, Karlsruhe 2022, 192 S., Abb., geb., 20 Euro.

(to be continued)