Cinema Moralia – Folge 290
Was kann das Kino vom Fußball lernen? |
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Valerio Curcio: Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen – Fußball nach Pier Paolo Pasolini | ||
(Foto: Edition Converso) |
Dem Kino der Gegenwart, dem deutschen sowieso, fehlt schon seit längerer Zeit etwas Grundsätzliches: Es ist die Fähigkeit, die Massen zu begeistern. Die Fähigkeit zu mobilisieren, in die Tiefe und zugleich in die Breite zu wirken.
Viele Filme und ihre Macher wollen das gar nicht mehr. Sie sind »bescheiden«, heißt es anerkennend, wo Horizont und Vision fehlen, wie Interesse an »den Leuten«. Stattdessen Rückzug ins Ernsthafte und Seriöse, das bei uns ja besonders gern mit Kunst
verwechselt wird.
Warum trauen wir uns nicht, ein bisschen unernster und unseriöser zu sein?
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Antwort: Weil wir das Kino auch nicht mehr ernst nehmen. Weil wir die Kunst nicht ernst nehmen. Weil wir beides behandeln, wie den Besuch eines Gottesdienstes. Es soll uns erbauen, es soll ein Gefühl der eigenen Bedeutung geben. Aber es spielt keine echte Rolle in unserem Leben. Sonst wäre es umkämpfter, problematischer, Objekt des Streits, keines der Erbauung.
Eine Rolle in unserem Leben würde es erst dann wieder spielen, wenn es Gebrauchsgegenstand sein dürfte, nicht heilige
Kunst sein müsste. Die Literatur ist schon eher ein solcher Gebrauchsgegenstand.
Die Filmemacher scheinen sich auch mit ihren immer kleineren Publikumssegmenten zu begnügen, statt sich zu fragen, wie man sie ausweiten und Koalitionen zwischen den verschiedenen Publikumsschichten bilden könnte.
Das aber wäre die Aufgabe.
Klar ist natürlich, dass »die Rahmenbedingungen«, sprich: die Filmförderung, es den Machern nicht gerade leicht machen, in irgendeiner Hinsicht groß zu denken.
Aber das ist auch nur die halbe Wahrheit.
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Die mangelnde gesellschaftliche und ästhetische Bedeutung des Kinos hierzulande zeigt sich auch daran, dass es – jedenfalls in Deutschland – keinerlei ästhetische Phantasien entfesselt. Wo gäbe es denn in den letzten 30, 40, 50 Jahren eine vernünftige ästhetische Theorie des Kinos? Eine Theorie, oder auch eine theoretisch informierte Geschichte des Kinos, die es mit dem aufnehmen kann, was gleichzeitig von der Kunstwissenschaft über die Kunst und von der Literaturwissenschaft über Literatur geschrieben wird?
Was hätten unsere Filmschaffenden über einige der Kunst-Themen des Jahres zu sagen gehabt, etwa über die »documenta-Debatte«, über BDS, über die Zukunft der Kritik?
Interessiert Euch das überhaupt Leute??? Oder besser doch Kopf in den Sand und Denkfaulheit. »Wir müssen auch noch den Antrag fertig machen«.
Wo gäbe es bemerkenswerte Auseinandersetzungen der Filmblase, also der Filmemacher aller Gewerke und ihrer wissenschaftlichen und feuilletonistischen Beiboote mit zeitgenössischer Philosophie, Soziologie, Ästhetik, Theorie?
Es gibt sie einfach nicht – und alle sind damit zufrieden.
Viel und gern wird von unseren »Filmschaffenden« gerade über »Feminismus« und »Diversität« geschwafelt, über »Postkolonialismus« und »Nachhaltigkeit«, über »Rassismus« und »Ökologie«.
Aber wo geht das über halbgelesene, viertelverdaute Leitartikel hinaus?
Und auf welche – und seien es auch nur modische – Theorien rekurriert man denn da? Eigentlich stört Theorie nur die gute Laune der Einigkeit. Hauptsache die richtige Gesinnung, über Theorie müsste
man sich ja streiten.
Natürlich macht die Marx-Lektüre keine Revolutionärin, und Adorno ersetzt nicht den Gang ins Museum. Aber ganz ohne geht es halt auch nicht.
So aber ist dann eben auch unsere Debatte, selbst wenn sie Themen berührt, bei denen an Engagement und Interesse der Beteiligten kein Zweifel bestehen kann.
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Für Ästhetik dagegen interessiert sich sowieso niemand. Ästhetik steht unter Verdacht. Allein schon das Wort. Reden wir besser von Form. Geht schon, ist aber nicht dasselbe. Geschmack? Haltung? Stil? Sind subjektiv. Handwerk? Muss jeder beherrschen.
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Die besten, also interessantesten Theorien des Kinos und die besten Kategorien der Filmbetrachtung stammen aus der Kunst- und der Literaturwissenschaft, sie stammen von Arnheim und Barthes, Eco und Adorno.
Es gibt in den letzten Jahren aus Deutschland keine Bücher, die bessere Fragen an das Kino stellten und bessere Kategorien anböten, um über Kino nachzudenken, als etwa das neueste Buch von Moritz Baßler (Literaturwissenschaftler) »Populärer Realismus. Vom
International Style gegenwärtigen Erzählens«, obwohl sich dessen Konzept sofort aufs Autorenkino übertragen lässt, und einiges an Provokationen unserer Gemütlichkeit bereithält. Oder als den kurzen Einwurf »Die Wirklichkeit findet statt. Über notwendige Präsenz in Kunst und Sport« von Horst Bredekamp (Kunsthistoriker) und Gunter Gebauer (Philosoph und Sporttheoretiker), das zwar mit komplexen ästhetischen Kategorien operiert, aber bezeichnenderweise vom Fußball und
seiner Beziehung zum Publikum handelt.
Womit wir beim nächsten Thema wären.
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In Deutschland, wo man am meisten über das urteilt, wovon man am wenigsten versteht, und das Hinschauen und Hinhören, und die Schulung des Instinkts wie des Geschmacks nicht nur im Hinblick auf das Kino krass unterentwickelt sind, in diesem Deutschland hat man bis zum Sonntag auch nicht an den WM-Titel der Argentinier glauben wollen. Denn so hieß es kontrafaktisch, die seien ja »nur abwehrstark« und bis auf den einen ein Haufen mittelmäßiger Klopper (merke: beides ist etwas, was
die Deutschen immer auszeichnete, was sie aber inzwischen verloren haben, zugunsten von... nichts!). Und außerdem geht einem anständigen Deutschen »der Kult um Messi auf die Nerven«.
Dass es sich nicht um einen Kult handelt, sondern um Respekt für ein Genie, um Anerkennung für dessen Bescheidenheit und Aufopferungsbereitschaft, und um Liebe, die jene des Ballzauberers für sein zahlendes wie nichtzahlendes Publikum erwidert, will in die deutschen Dickschädel nicht hinein.
Sie faseln lieber weiter vom »durch Kampf zum Spiel kommen«.
Die Argentinier siegten durch Intensität, durch Leidenschaft, durch Widerstandsfähigkeit. Und durch den Willen zu siegen, der auch bedeutet, dass man willens ist, anderen eine Niederlage zu bereiten.
Wir sollten darüber nachdenken, was sich vom Fußball für das Kino lernen lässt.
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Pier Paolo Pasolini (1922-1975) war ein Antifaschist und Provokateur, ein großer Filmregisseur und Denker – und er war Fußballfan und -spieler. Und zwar unbedingt. Für ein Fußballspiel verschob er sogar Dreharbeiten.
»Jedes Tor ist eine für sich stehende Erfindung, es unterwandert den Code: Jedes Tor ist Unausweichlichkeit, Geistesblitz, Staunen, Irreversibilität. Genau wie das dichterische Wort. Der Torschützenkönig einer Meisterschaft ist stets der beste Dichter des Jahres«, sagte Pasolini einmal, um die poetische Dimension des Fußballs zu verdeutlichen.
Es wirkt, als habe er über Lionel Messi geschrieben.
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Selber war der erklärte Kommunist, der auch als Sportreporter arbeitete, Fan des FC Bologna, über den er 1963 sogar einen Film gemacht hat – in seiner Jugendzeit war Bologna italienischer Serienmeister, ein Team, das in den Vorkriegsjahren in Europa gefürchtet war, und für das es immer nur nach vorne ging. Es war eine Seelenverwandtschaft. Der deutsche Dokumentarfilmregisseur Pepe Dankwart, der über Pasolini den Film »Vor mir der Süden« gemacht hat, erklärte jetzt in einem Beitrag auf 3sat-Kulturzeit Pasolinis Liebe zum Fußball aus einer sozialen Erfahrung: »Er wurde von allen Seiten angegriffen. Aber er hat nicht zurückgezogen. Diese Mentalität hat er auch auf dem Fußballplatz gebracht. Er wollte stürmen. Ohne taktische Spielchen.«
Ein Stürmer also – was sonst? Von ihm konnte man schon immer lernen, dass Angriff die bessere Verteidigung ist. Aber der Mann des Volkes hat den Volkssport Fußball nicht nur geliebt, er hat in ihm auch eine Verheißung gesehen und hatte ein quasi religiöses Verhältnis zu ihm. Nicht etwa das Kino, sondern der Fußball war für Pasolini auch schon in den 1950er Jahren »das letzte sakrale Schauspiel unserer Zeit«, der einzige Ort, an dem sich noch alle Schichten und Klassen und Ideologien versammeln und wie einst das Kirchgängervolk zu einer Masse verschmelzen. »Er [Calcio i.e. Fußball] mag der Zerstreuung dienen, doch im Kern handelt es sich um einen Ritus. Während andere sakrale Schauspiele, selbst der Gottesdienst, bereits im Niedergang begriffen sind, ist uns der Fußball als einziges geblieben. Er hat den Platz des Theaters eingenommen.«
Auf gesellschaftlicher Ebene definiert er den Fußball damit als die letzte heilige Darbietung unserer Zeit. Das heißt, für ihn ist die Masse an Zehntausenden Fans, die sich in einem Stadion versammeln, eine potenziell revolutionäre Masse.
Ginge es mit rechten Dingen zu, müsste man so etwas auch übers Kino sagen können.
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Beim Verlag »edition converso«, das auch die großartigen politischen Texte des Sizilianers Leonardo Sciascia auf Deutsch verlegt, ist jetzt ein Buch von Valerio Curcio über Pasolini und den Fußball erschienen. Es heißt »Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini« und legt dar, dass Fußball für Pasolini aber nicht nur dieser quasi-religiöse Ort war, sondern eine der wenigen Situationen, die dem menschlichen Leben noch einen Sinn geben. In denen man die Last der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft für ein paar freie unbefangene Stunden abschütteln konnte: »Die zwei Stunden Mitfiebern (Aggression und Verbrüderung) im Stadion sind befreiend: auch wenn darin aus Sicht einer politischen Moral oder moralistischen Politik eine Verweigerungshaltung oder Weltflucht zum Ausdruck kommt.«
Eine physische wie existenzielle Notwendigkeit, Weltflucht und Befreiung. Im Fußball kann man Kraft und Inspiration schöpfen, Freiheit, Sorglosigkeit und Geselligkeit erleben.
Zugleich sei Fußball auch eine universelle Sprache, ein Mittel des Austauschs und der sozialen Teilhabe:
»Fußball ist ein System von Zeichen wie eine Metasprache. Es ist der letzte heilige Ritus unserer Zeit. Während andere heilige Riten wie die Messe im Niedergang begriffen sind, steht der Fußball bei den Massen hoch im Kurs. Er ist die Schauspielkunst, die das Theater ersetzt hat.«
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Der deutsche Autor Moritz Rinke breitet in dem Beitrag seine Wunschphantasien aus: »Es müsste jemanden wie Pasolini jetzt geben. Der würde diesen Infantino eigenhändig zur Strecke bringen.« Andererseits: »Er würde gegen die völlige Entmoralisierung und Vermarktung dieses Sports wettern. Ich bin aber überzeugt, dass er dann heimlich denn noch die Spiele schauen würde.«
Fußball war eben auch für Pasolini Regression und Transgression, nicht Moralisierung sondern Ästhetisierung des Lebens.
Das Kino muss genau das wieder werden. In Deutschland wie anderswo.
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Schon vor über drei Jahren schrieb der 2021 verstorbene Literaturwissenschaftler und Theoretiker der Ästhetik, Karl Heinz Bohrer in der »Literarischen Welt« darüber, »warum ein Autor nie ein Gefühlsadvokat sein sollte und die Gegenwartsliteratur größtenteils grauenhaft ist.«
Wann ist Bohrer zuletzt im Kino gewesen?
Es werde »keine interessante Literatur mehr geschrieben ... Was ist mit der Literatur los? Ist mit ihr etwas los?« Und weiter: »Bei Neuerscheinungen, beim Durchblättern von Verlagskatalogen und Rezensionen fällt auf, wie das Lebenskundliche, das emotionell Bewegende eines uns schon bekannten Stoffes in den Charakteristiken betont wird. Man hat da nicht unbedingt den Eindruck, von etwas geistig Inspirierendem, nicht von Literatur als Kunst.«
Bohrer fordert Imagination
ein, und die Vermeidung der Wiederholung des realen Lebens und der »Lebenshilfe«.
Bereits Hans Blumenberg hat argumentiert, dass der Roman, sofern er wirklich Literatur ist, nichts mit der Nachahmung der Wirklichkeit zu tun hat, sondern der dem Roman eigenen ästhetischen Illusion der Wirklichkeit entspringt. Erst damit kommt die Erkenntnis.
Vieles in der zeitgenössischen Literatur, so Bohrer, »steht aber nicht mehr im Zeichen von Erkenntnis«
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Valerio Curcio: »Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini.« Mit einem Vorwort von Moritz Rinke. Edition Converso, Karlsruhe 2022, 192 S., Abb., geb., 20 Euro.
(to be continued)