Cinema Moralia – Folge 289
»Es wechseln die Zeiten...« |
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Aftersun, ein Liebling vieler Cineasten – bei den Euopäischen Filmpreisen leer ausgegangen... | ||
(Foto: MUBI/DCM) |
»Why do the French like Jerry Lewis so much?«
Chantal Akerman: »I don’t know, I haven‘t seen any films of Jerry Lewis.«
What films do you like now?
Chantal Akerman: »Gertrud of Carl Dreyer. Yasujiro Ozu. And I like some things of Martin Scorsese; I like Raging Bull very much. And I love Godard‘s Passion. Jean Renoir: Rules of the Game; La Chienne.«
– Chantal Akerman im Interview, 1983»Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.«
– Bertolt Brecht
War da was? Ach ja: Die Umfrage der Zeitschrift »Sight & Sound« zu den zehn »besten Filmen aller Zeiten«. Erstmals, das wurde berichtet, gewann der Film einer weiblichen Filmemacherin: Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles. Ein ausgezeichneter Film, eine tolle Regisseurin, und trotzdem eine falsche Wahl.
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Und nicht nur deswegen, weil diese Wahl nicht etwa für eine Veränderung irgendwelche Verhältnisse steht, sondern im Gegenteil, weil sie eigentlich die tatsächliche, auch politische Lage der Filmverhältnisse kaschiert.
Sondern aus grundsätzlicheren Überlegungen.
Ich liebe die Berliner Filmregisseurin Jutta Brückner und ich liebe ihren Text, den sie für uns dankenswerterweise letzte Woche zu dieser Entscheidung geschrieben hat. Sie führt darin sehr gute Gründe auf, um diesen Film auszuzeichnen. Leider glaube ich, dass kein einziger all dieser Gründe die Wahl von Jeanne Dielman motiviert hat.
Ich liebe auch die Filmemacherin Chantal Akerman. Eine der Größten, Besten. Um alles das geht es jetzt aber nicht.
Denn trotz alldem ist sehr zu bezweifeln, dass »Jeanne Dielman« der beste Film aller Zeiten ist, so wie man vorher unbedingt daran zweifeln musste, dass »Vertigo« oder »Citizen Kane« die besten Filme aller Zeiten sind. Wir haben das vorher kritisiert – man muss es also auch jetzt kritisieren.
Der Unterschied zwischen beidem ist ein anderer. Wenn über die Überschätzung von »Vertigo« oder »Citizen Kane« debattiert wurde, dann wurde über eine fehlgeleitete Kinovorstellung und verirrten Filmgeschmack debattiert. Es wurde über die Dominanz amerikanischer Wahrnehmungen im Gegenwartskino debattiert. Es wurde über Kriterien debattiert.
Nicht debattiert wurde hingegen über politische Ideologien. Das scheint mir jetzt nötig zu sein. Denn die Wahl von Jeanne Dielman hat leider nichts damit zu tun, dass plötzlich viele Menschen auf dieser Welt Chantal Akerman gut finden, und etwas mit ihrem Film anfangen könnten. Es hat einzig und allein mit der leider von allzu vielen Menschen geteilten ideologischen Agenda zu tun, nach der jetzt gefälligst eine Frau ausgezeichnet werden muss.
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Die daraus folgende falsche Entscheidung zerstört geradezu das, was an der vielleicht immer schon ein bisschen hirnrissigen Umfrage und Vorstellung vom »besten Film aller Zeiten« bislang interessant war: Das Interesse für Geschmack und Ästhetik. Offensichtlich interessieren sich heute allzu viele Leute nicht mehr für Geschmack und Ästhetik, sondern für die Politisierung von beidem. Dies führt nicht zu einem besseren Geschmack und einer anderen Ästhetik, sondern es führt zur
Verabschiedung dieser Kategorien bzw. auf lange Sicht zu ihrer Neuformatierung unter anderen Begriffen und den anderen Formen. Das wird interessant werden.
Die Filmliste von »Sight & Sound« können wir allerdings bis auf weiteres vergessen.
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Ich weiß, man wird diese Frage nicht gerne hören. Aber sie muss gestellt werden: Dient es dem Kino oder schadet es dem Kino, wenn Menschen, die wissen wollen, was »ein guter Film« ist, in diesen Film gehen? Es gibt solche Menschen, und ich glaube nicht, dass es dem Kino dient, wenn sie das tun.
Es dient dem Narzissmus und der Selbstwahrnehmung der Blase, also einem paar Dutzend politischen Ideologen.
Dazu passt auch die Begründung der großen Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey, die Wahl des Films sei einerseits ein Triumph für das »Women’s cinema«, andererseits Zeichen einer größeren Wertschätzung von »Slow Cinema«-Filmen mit längerer Dauer und langsamen Erzähltempo.
Ja, vielleicht ist das ein Triumph für das »Frauenkino«. Aber eben nicht für das Kino. Und es ist dieses Kino, nicht das »Frauenkino«, das Chantal Akerman interessiert hat. Jetzt wird sie instrumentalisiert.
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Laura Mulvey wundert sich ausgiebig darüber, wie es passieren konnte, dass Jeanne Dielman plötzlich »out of nowhere« wie sie selber schreibt, an die Spitze der Umfrage katapultiert wurde. Aber sie schreibt dann überraschend unterkomplex nur über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Filmen, die dort eine Spitzenposition eingenommen haben. Sie schreibt gar nicht darüber, das in diesen Jahr doppelt soviel Leute abgestimmt haben, wie in den Jahren zuvor. Und dass aller Wahrscheinlichkeit nach auch doppelt so viele Leute gefragt worden. Man muss bei einer Abstimmung, erst recht einer Massenabstimmung, also auf die Abstimmenden schauen, um die Entscheidungen zu verstehen.
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Vor allem ist es ein Triumph einer veränderten Agenda des British Film Insitute. Denn weder »Frauenkino« noch »Slow Cinema« repräsentieren eine Gruppe, die über eine sehr eng gefasste Filmkunstszene hinaus für viele Leute interessant ist.
Die Filmliste und die natürlich aus der ganz erheblichen Vergrößerung der Gruppe der Befragten folgenden Entscheidungen repräsentieren vor allem eine ganz bestimmte Klasse – um jetzt nicht Blase zu sagen – von Akademikern vor
allem aus angelsächsischen und anderen europäischen Ländern, die in der Filmkritik und im Kuratieren von Filmreihen tätig sind (Ich habe übrigens wie vor zehn Jahren selber auch teilgenommen). Sie repräsentiert noch nicht einmal die Mehrheit der Cinephilen und Cineasten unter den 'normalen' Filmfans.
Ich glaube daher, dass diese Wahl langfristig sowohl dem Anliegen der weiblichen Filmemacher um Gleichbehandlung wie diesem Film schadet. Er könnte nun zu einem Symbol für das Falsche werden. Für eine grundsätzliche politische Führung die in einigen Jahren als das Mode Phänomen entlarvt werden wird, das sie ist.
Dagegen muss man Jeanne Dielman von jetzt an vor allem verteidigen.
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War da was? Ach ja: Der Europäische Filmpreis. Zum 35. Mal wurde er am Samstagabend in Reykjavik verliehen. Angeblich handelt es sich um »den europäischen Oscar«, die wichtigste Auszeichnung des Kinos dieses Kontinents, der immerhin irgendwann einmal das Kino selbst erfunden hat.
Über eine kleine Meldung in den Nachrichten hinaus hat man diesen Preis trotzdem kaum wahrgenommen. Wieder einmal.
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Gewonnen hat Triangle of Sadness vom Schweden Ruben Östlund in allen vier Kategorien, für die er nominiert war. Ein verdienter Sieger.
Zugleich ist dieser Preis so wenig überraschend, wie er falsch ist: Denn Triangle of Sadness ist ungeachtet der überraschend vielen
kritischen Stimmen unter einer bestimmten Gruppe von Filmkritikern (die, die gutes Kino mit »Filmkunst« gleichsetzen und die wieder mit Statik und Tempodrosselung, »Slow Cinema«), ganz bestimmt einer der besten Filme aus Europa im letzten Jahr; er verbindet scharfe politische Kritik mit guter Unterhaltung, und er ist – ganz wichtig – bei allem Ernst endlich mal wieder eine gute Komödie.
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Es gibt allerdings über all das hinaus auch ganz profane Gründe, warum dieser Film von Anfang an die besten Chancen hatte.
Der Film lief im Gegensatz zu den meisten anderen bereits in sehr vielen europäischen Ländern im Kino; er wurde von der Kritik vielbesprochen; er bekam nach der Goldenen Palme in Cannes auch viele andere Preise; er hat im Vergleich zu allen anderen nominierten Kandidaten einfach viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Er war sichtbarer.
Diese Sichtbarkeit und Massentauglichkeit ist auch der einzige rational nachvollziehbare Grund, warum nicht die in Paris lebende Iranerin Zar Amir Ebrahimi (wie beim Filmfestival von Cannes) und nicht die Französin Lea Seydoux zur besten Darstellerin gewählt wurden, sondern die Luxemburgerin Vicky Krieps – die gerade DER große Schwachpunkt von Marie Kreutzers ansonsten interessantem österreichischem Sissi-Film Corsage ist.
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Ein weiteres bemerkenswertes interessantes Detail: Fast alle nominierten Filme hatten zuvor beim Filmfestival in Cannes ihre Weltpremiere gehabt: Kaum in Berlin, oder Venedig. Der europäische Filmpreis ist also auch ein Triumph des Festivals von Cannes über die Konkurrenz.
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So gesehen steht das Ergebnis zwar für das wichtigste Alleinstellungsmerkmal des europäischen Kinos: Den Autorenfilm. Die persönliche unverwechselbare Handschrift einzelner Filmemacher-Individuen ist das, was den europäischen Film auszeichnet gegenüber den Instantprodukten der Streaming-Dienste und gegenüber dem formatierten Industriekino der Studiobetriebe vor allem in Hollywood aber auch in Asien.
Die Preise und die Nominierten stehen aber nicht für das Andere, Zweite, das den europäischen Film mit seinen rund 30 verschiedenen Filmkulturen doch auch noch auszeichnen müsste: Künstlerische Vielfalt.
Und ich meine damit ausdrücklich nicht jene formatierte Diversität der Hautfarben und Geschlechter, wie sie von den filmpolitischen Regulierern zuletzt gern und immer lauter gefordert wird! Sondern es geht um einen Pluralismus der Stile und Herangehensweisen. Der ist
auch in Europa nicht und immer weniger gegeben. Es gibt europäische Bananenkrümmungs- und Käsereife- und Tierwohlverordnungen, die ziemlich unsinnig sind, aber es gibt genauso unsinnige Filmverordnungen.
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Zwei Beispiele: Ein Film wie das britische Debüt Aftersun, ein Liebling vieler Cineasten wurde in den Nominierungen ebenso wenig berücksichtigt wie der spanische Pacifiction von Albert Serra, der jetzt viele Jahresbestenlisten anführt.
Beide Filme waren in der Box der EFA, aber
die angebliche Expertise der über 4000 Akademiemitglieder siebte sie aus, genauso wie manch' anderen bemerkenswerten Film.
Die komplette Ignoranz gegenüber solchen und ein, zwei Dutzend anderer europäischer Filme liegt an einem Wahlsystem, das den Mainstream begünstigt und damit nordamerikanische Erzählweisen. Gerade das, was europäisches Kino ausmacht, Vielfalt und Eigensinn, werden in diesem System bestraft. Die Preise sind ausrechenbar und langweilig geworden.
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Natürlich: An alldem sind auch manchmal die Verleiher schuld, wie in diesem Fall die Verleiher von Aftersun, die Verantwortlichen des ausgezeichneten Streaming-Dienstes Mubi – den man nicht mit den anderen konventionellen Streamern vergleichen darf –, die aber hier einen Fehler gemacht haben, weil sie Aftersun erst in dieser Woche starten, aber nicht bereits vor ein paar Wochen. Deutschland ist das mitgliederstärkste Land in der europäischen Filmakademie. Die Abstimmenden in Deutschland hätten mit einem früheren Start diesen Film nicht nur im Kino sehen können, sie hätten auch Filmkritiken lesen können, die ihnen erklärt hätten, warum dieser Film vielleicht besser ist als die anderen vielnominierten großen Werke.
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War da was?
Wenn der Europäische Filmpreis nicht auch in Zukunft weitgehend unter dem Radar der europäischen Öffentlichkeit stattfinden soll, dann muss er sich verändern. Statt politischer Ersatzhandlungen, statt austauschbarer Sonntagsreden über Diversität und grünes Produzieren, die man auch auf Buchmessen und Theaterfestivals halten könnte, muss es wieder um das Kino als Kunst gehen.
Denn nach der Pandemie, in den Digitalgewittern der US-Streamingdienste, gehört auch das unabhängige europäische Kino – das von Frauen wie Männern – längst zu den gefährdeten Arten.
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Der Disney Konzern ist – man kann das gar nicht anders sagen – ein überaus unsympathisches Unternehmen. Hinter der Cuteness, der Süßlichkeit der Disney-Figuren verbirgt sich ein knallhartes Geschäftsmodell, das gnadenlos mit allem umgeht, was dieses Geschäftsmodell stört. Und es verbirgt sich dahinter ein überaus konservatives teilweise reaktionäres Weltbild.
Man hört – natürlich nur unter der Hand – von einer Marketingkampagne, die die Kinobetreiber zwingt, diesen Film monatelang zu spielen: Man hört von Kinobetreibern, die, wenn sie diesen Film überhaupt nur ein einziges Mal zeigen wollen, unterschreiben müssen, ihn mindestens drei Monate lang, 12 Wochen am Stück zu spielen.
Das ist natürlich eine sehr problematische Praxis, schon aus Prinzip. Denn damit verstopft man gleichzeitig die Kinos für viele andere Filme.
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Und ich bin auch gespannt, ob dieser Film eigentlich mit einer Pause laufen wird – fast dreieinhalb Stunden Laufzeit, dazu noch Werbung und Trailer bedeutet ja, dass der Film am Tag nur die Hälfte der üblichen Zahl von Vorstellungen zulässt, nur zwei oder drei anstelle von fünf oder sechs. Das bedeutet in der Praxis, das den Kinobetreiber auch Einnahmen verloren gehen, weil sie weniger »Concessions«, also Getränke, Popcorn, Schokolade und anderes verkaufen können. In einer Pause, die, glaube ich, auch aus körperlichen Gründen für viele nötig sein wird, allein schon, damit die Zuschauer im Kino nicht daran denken, wann sie wohl am besten mal kurz aufs Klo gehen, könnte man auch noch mal entsprechende Artikel anbieten.
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Über die 3D Technik wird noch ein andermal zu reden sein. Über die Kasse Marketingkampagne muss man jetzt reden.
Wie gesagt: Disney ist kein sympathisches Unternehmen. Der Disney-Konzern will Geld verdienen. Und zwar in der ganzen Welt. Deswegen darf es nicht zu amerikanisch sein. Ein bisschen amerikanisch muss es schon sein, aber wenn es zu amerikanisch ist, dann wird es nicht mehr in China verkauft. So denkt dieser Konzern.
Jeder unserer Leser, der ernsthaft glaubt, dass es sich, wenn er jetzt irgendwo »der größte Film aller Zeiten« liest, dabei um ein unabhängiges Urteil handelt, dem ist nicht zu helfen! Das muss man schon ganz offen sagen. Denn das sind natürlich alles Marketingstrategien. Auch was man jetzt im Netz und in manchen Zeitungen lesen kann: »Die ersten Rückmeldungen nach der US Premiere!«, »Was ist auf Twitter los?« – das ist alles gemacht!
Wir kennen es von der staatlichen
Propaganda im Politischen, dass man so etwas heute sogar maschinell herstellen kann. Wir dürfen nicht glauben, dass ein weltweites Unternehmen das nicht genauso macht, wenn es dem Verkauf nutzt.
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Natürlich werden die guten Zahlen auch auf andere Weise von Außen mitproduziert. Von dem Halten eines Films im Kino über Wochen war schon die Rede. Wenn dann vom »erfolgreichsten Film aller Zeiten« die Rede ist, dann ist ja die Frage offen: Meint man jetzt die Zuschauerzahlen? Oder meint man die Einnahmen?
Wenn ein Film über drei Stunden lang ist, dann kostet die einzelne Karte jedenfalls viel viel mehr. Dann ist so ein Film fast automatisch im Sinne der Einnahmezahlen
erfolgreich.
Man muss jedenfalls diese Superlative relativieren, und klarmachen, dass es sich bei den meisten davon nur um Werbe-Schlagzeilen handelt, die von einer großen Marketingkampagne induziert werden. Dass man sich solche Filme immer nach bestimmten Kriterien zum jeweils erfolgreichsten Film aller Zeiten rechnen kann – so wie das allein schon bei drei Filmen von James Cameron, bei Terminator 2, bei Titanic, und dem ersten Avatar der Fall gewesen ist.
(to be continued)