ABSTAND/ZOOM
Filmalphabet: X_VARIABLE/ UNBEKANNTE |
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Zeichensprache ersetzt viele Worte und ist irgendwie auch ein Platzhalter | ||
(Foto: Mubi) |
Von Nora Moschuering
Man soll kleinen, gestrichelten Linien zum X folgen. Da wird schon was sein, am Besten ein Goldschatz. »X marks the spot«. Manchmal findet man auf Kinderspielplätzen ein X im Sand, ansonsten gilt heute meist: »The blue dot marks the spot.« Dann markiert der blaue Punkt z.B. einen Ort, der einem bekannt ist, den man aber ohne Markierung nicht finden würde. Oder er markiert etwas Unbekanntes, wie auch bei Herrn Röntgen, der das X für seine Strahlung benutzt hat oder den X-Akten von »Akte X – die unheimlichen Fälle des FBI«. Man kann das X aber auch als Variable benutzen, die für immer als Stellvertreter steht oder die man durch etwas Konkretes ersetzen kann. Aber was schreibe ich da, in Wirklichkeit ist mein Kopf gerade, so gut es geht, im Urlaub und Gleichungen mit Unbekannten zu bearbeiten, gehört eindeutig nicht dazu, dafür lese ich Texte über Stiftung-Warentest-Vergleiche, z.B. von Schokocremes, den Sinn von Zecken oder auch Romane.
Ich bin keine so gewitzte Leserin, dass ich immer die Bücher lese, deren Verfilmung bald ins Kino kommt. Überhaupt nicht. Zufall war das, dass ich mit »Der Gesang der Flusskrebse« punktgenau zum Filmstart fertig war. Gesehen habe ich ihn aber noch nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich das möchte, ich komme gleich dazu, warum, vorher markiere ich hier zwei Punkte, ein Mal den Ort, an dem der Körper von Chase im Sumpf, unter einem Feuerwachturm, gefunden wird, das andere Mal die Hütte von Kya, Catherine, die seit ihrem siebten Lebensjahr alleine in den Marschlanden, einem Sumpfgebiet in North Carolina, lebt. Sie wird mit Anfang Zwanzig für diesen Mord angeklagt und kommt vor Gericht. Wichtig sind außerdem noch ihre große Liebe Tate, der ihr das Lesen beibringt, und Jumpin, ein Händler, der sie als Einziger aus dem nahegelegenen Ort unterstützt. 2019 hat die Zoologin Delia Owens das Buch geschrieben, Reese Witherspoon hat es in ihrem Buchclub empfohlen, und sie ist nun auch Produzentin der Verfilmung. Geschickt mischt Owens alles, was Erfolg verspricht: Eine Liebesgeschichte, ein Krimi und ein Gerichtsdrama, garniert mit langen Passagen des beruhigenden Eins-Werdens mit der Natur. Sie wird dabei nie zu pathetisch und nie richtig hoffnungslos. Die meisten, ohnehin auch eher seltenen Dialoge kann man dabei getrost schnell überfliegen, es wird gesprochen wie in einem Erklärfilm, dagegen ist die Beschreibung der Natur und Kyas Leben in den Marschlanden sehr schön, besonders, wenn man dabei selber in den Himmel schaut und die Bäume leicht schwanken und irgendwo Kinder spielen. Es ist eben auch eskapistisch und das ist eine weitere Erfolgs-Ingredienz, denn es spielt in den 60er und 70er Jahren, da war die Welt zwar auch nicht in Ordnung, aber es ist trotzdem safe vorbei. Was nicht safe vorbei ist, sind die Vorwürfe gegen die Autorin, dass sie evtl. selber an einem Mord beteiligt gewesen sein soll und ob es, mit diesem Wissen, moralisch eigentlich ok ist, das Buch zu lesen, das möglicherweise auf mehr eigenen Erfahrungen beruht, als man es bei diesem Thema haben möchte. Ich lege ein neues Kühlpad unter meinen Laptop und trenne so gut es geht Autorin und Buch, Wirklichkeit und Fiktion und schaue mir den Trailer an. Wo ist der Schlamm, der Staub, die Marsch? Der reale Dreck, der sich überall absetzt: zwischen den Zehen, den Fingern, im Haar? Wo ist die zerfallene, überwucherte Hütte, in der es dunkel und verraucht ist und vor der Kya lieber schläft, als in ihr drin? Wo ist das Mädchen, die junge Frau, die dort jahrelang alleine lebt und sich von Muscheln ernährt, alte Kleider aufträgt und kein Handtuch benutzt. Schon im Buch ist eines ihrer am häufigsten benannten Attribute ihre Schönheit, daneben ist sie natürlich auch noch super-intelligent. Eigentlich ist sie einfach perfekt, als wäre das nötig, damit man sich ihr als Heldin zuwenden kann. Daisy Edgar-Jones, die Kya spielt, sieht dann eben auch so aus: schön und mit gut gewaschenem Haar. Aber auch Chase und Tade sehen aus wie männliche Cheerleader, wirken dabei aber auch absonderlich uncharismatisch. Gut, ja, mein Urteil entstammt aus dem Trailer.
Ob Witherspoon, die ja schon bei Wild (2014), der von ihr produziert wurde und in dem sie auch die Hauptrolle spielt, und Gone Girl (2014), den sie auch mitproduziert hat, auf der Suche nach komplexen Frauenfiguren war, hier nun eine solche zeigt, oder ob Kya nicht viel mehr die romantische Vorstellung von einer Frau ist, die mit der Natur verschmolzen und die deshalb begehrenswert ist, an der aber nichts komplex und alles Fassade ist, darüber kann man nach Ansehen des Filmes diskutieren.
Weiter mit Menschen mit XX-Chromosomen: dabei scheint es manchmal noch die Ansicht zu geben, dass auf dem zweiten X irgendwo geschrieben steht, dass man auf Kleider steht, auf Nagellack, auf Perücken und darauf, kleine Bling-Bling-Täschchen herumzutragen. Nichts gegen all diese Dinge, aber natürlich ist das komplizierter und erst recht in einem bayerischen Dorf, wenn man trotz seiner XY-Chromosomen einfach gerne Kleider anzieht. Uli Decker beschreibt in Anima – Die Kleider meines Vaters den unbändigen Wunsch des Vaters danach zu travestieren. Schon als Kind trägt er die Kleider seiner Mutter und später dann die eigenen. In Highheels versucht er dann so gut es geht zu flanieren. All das hält er vor der Familie geheim. Die beiden Töchter, eine davon Uli, erfahren erst am Totenbett von seiner Leidenschaft, die Mutter weiß es schon etwas länger. Decker ist eine sehr liebevolle, detailreiche und phantasievolle Beschreibung dieses Lebens und seines Umfeldes gelungen. Sie verurteilt dabei nicht, weil sie selbst Teil davon ist und sich nie loslöst und es aus der Distanz betrachtet. Schön ist daher auch immer ihre eigene »Kleider«-Findung, die z.B. an einem Glücksrad hängen: Papst, Cowboy, ein weißer Anzug, eine Rüstung, eine Lederhosn. Immer wieder wird reflektiert, was das mit einer Familie macht, wenn man ein bewusstes oder unbewusstes Geheimnis hat, und damit ist Familie Decker sicher nicht allein. Da fliegt Uli in einer Animation an Häuserfronten vorbei und stellt sich vor, wie das Leben hinter den Fenstern läuft, als gäbe es da ein richtiges Leben, dem man einfach folgen könnte, aber sie weiß natürlich und aus eigener Erfahrung, dass es eben nicht so ist. Dabei nähert sie sich ihren eigenen Unsicherheiten und denen der anderen. Sie verkleidet sich, wird zu ihrem Vater, erzählt aber gleichzeitig auch davon, Teil des Ortes sein zu wollen, der Traditionen. Nichts wird verurteilt, Alles wird betrachtet und überlegt, wie und wo man sich da einordnen möchte und kann. Wichtig ist vor allen Dingen, dass man eine Entscheidung fällen kann.
Anima lief bei den Filmkunstwochen München, die Mitte August zu Ende gegangen sind, startet aber im Herbst (vorrausichtlich am 20.10.) in den Kinos. Er lief Sonntag früh, und ich musste mich erst mal um abgesperrte Straßen herumlavieren. Die European Championships schlängelten sich mit ihrer Radrennstrecke rund um den Hauptbahnhof. Verwirrt, etwas aufgekratzt, aber pünktlich kam ich ins Kino. Sport interessiert mich ja wenig, aber ich mag es, wenn unbekannte, aber positive, und überraschende Variablen auftauchen, wie in diesem Fall eben abgesperrte Straßen, an deren Rändern Menschen stehen, winken, klatschen und Radler trinken. Ich mag es auch, wenn Boulderwände oder Riesenräder auf dem Königsplatz stehen, ich die Musik von fernen Konzerten im Olympiapark höre, Stadtführungen, in die man stolpert oder Mittelaltermärkte mit Met-Ausschank. Es ist schön, wenn der öffentliche Raum belebt ist. Beleben tun ihn definitiv auch Gruppen von Menschen, die sich zu einem Film zusammengefunden haben und danach vor dem Kino auf der Straße oder dem kleinen Innenhof des City stehen und über den Film reden, wie nach Anima.
Genau darum ging es auch bei der Abschlussveranstaltung der Filmkunstwochen, der von der REVÜ – dem Flugblatt für Cinephilie gestaltet wurde. Gezeigt wurde der Film Zero Fucks Given des Regie-Duos Emmanuel Marre und Julie Lecoustre, im Anschluss wurde ein Text dazu vorgelesen und ein Gespräch begonnen. Gleich zu Beginn ging es dabei um das Zusammentreffen im öffentlichen Raum und ob gerade in einer Zeit der Individualisierung, der Vereinzelung oder wie es Andreas Reckwitz nennt: der Singularitäten das Kino wieder ein Raum für Gemeinschaft sein kann, andere These war, dass eben jene Individualisierung zu einer Durchkapitalisierung führt.
Bei jedem Blick in Cassandres Gesicht im Film musste ich auch an einen Titel der Band »Ja, Panik« denken: »Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit«. Cassandre, Adèle Exarchopoulos (die für ihr Spiel die Palme d’Or in Cannes bekommen hat), arbeitet für die Fluggesellschaft Wings (ein anderes Ryanair) und träumt – wobei das Wort in ihrem phlegmatischen Fall nicht passt – davon, für Emirates zu fliegen, quasi als Aufstieg in dieser Flugbegleiter*innen-Hierarchie. Viele der Flugbegleiter*innen im Film sind auch in Wirklichkeit Flugbegleiter*innen, Dokumentarisches mischt sich mit Spielfilm, Erfahrungen realer Personen mit der Geschichte von Cassandre. Diese Cassandre/Kassandra scheint so müde und überdrüssig, dass sie nicht einmal mehr die Kraft hat, Dinge vorauszusagen: bringt ja nichts und so antwortet sie älteren Streikenden, dass sie sich um sich kümmern muss. Fliegen ist ja auch nicht die beste Art, den Weltuntergang zu verhindern, aber diese stetige Bewegung, das nirgendwo Ankommen (wollen), aber trotzdem in Bewegung sein, scheint Cassandre zumindest zu beruhigen oder zu beschäftigen. Der Besuch all dieser unwirklichen Orte, Nicht-Orte wie sie Marc Augé nennt, alle nur zum Transit gedacht, sind wie ein Sinnbild ihrer Gefühle. Der Film selber teilt sich in zwei Teile. Der erste Teil: sonnenverbrannt und heiß, sieht aus wie bewegte Fotografien des britischen Fotografen Martin Parr, in denen die Helligkeit, das Licht und das Flimmern, etwas wie Glam verspricht, aber eigentlich doch eher Trash ist. Dahinein nun performt Cassandra über den Wolken, mit ihrem Stewardessenkostüm, das immer ein bisschen aus der Zeit zu fallen scheint, ihr Verkaufstalent wird bewertet und sie sträubt sich gegen einen Aufstieg in der Hierarchie, der dazu führt, dass ihre Kolleg*innen nicht mehr ihre Kolleg*innen sind. Der zweite Teil: Sie ist bei ihrem Vater und ihrer Schwester. Die verstorbene Mutter steht über allem, scheint aber verunglückt zu sein, nachdem Cassandra gegangen ist, also kann das Unglück eigentlich nicht als Trauma gelten und ihren Weggang und ihre Traurigkeit rechtfertigen. Es ist etwas Inhärenteres, gegen das sie sich auch ab und zu wehrt, z.B. indem sie den Unfallort ihrer Mutter aufsucht, der ihr im Regen und in seiner Belanglosigkeit aber auch nicht hilft. Das X, also, der Punkt, den Cassandre suchen könnte oder zu dem sie zurückkehren könnte, ist ihr völlig abhanden gekommen.
Im Anschluss an den Film las Camille Tricaud, die zusammen mit Franziska Unger 2019 das Künstlervideo »Apocalypse Airlines« gedreht hat, ihren Text zum Film vor: Ein Moment der Reflexion, des Zurücklehnens und des Inputs der Ideen, die jemand Anderes beim Sehen des Filmes hatte, während man selber seine Gedanken ordnet. Im Anschluss dann das Gespräch, das, wie schon wie bei Anima, gut funktionierte, Spaß machte und sich seinen Weg in die Gespräche vor dem Kino und in den öffentlichen Raum bahnte.
Apocalypse Airlines ist übrigens ein Werbespot einer fiktiven Airline, die uns mit einem Popsong einlädt, einzusteigen, bzw. darüber nachzudenken, welchen Preis wir und die Umwelt für unser individuelles Vergnügen zahlen. Auch sie tragen diese Uniformen und versuchen uns etwas zu verkaufen, gehen aber dann auch so weit, uns irgendwann die Gasmasken aufzusetzen: Enjoy! Das ist sowohl aktivistisch, als auch poppig und ein anderer Ansatz als Zero Fucks Given. Auch eine Generation besteht eben aus unterschiedlich zu besetzenden Variablen.