Die diskrete Seite des Jahres 2012 |
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So zurückhaltend, dass sogar die Protagonisten oftmals nur von hinten gefilmt werden: Shame |
Woche für Woche wird man als Kinofreund mit einer Masse von Filmneustarts konfrontiert, dazu kommen Festivals, Filmtage, Filmreihen und Länderschauen in allen Größen und Formen und weil das immer noch nicht ausreicht, der jährlich produzierten Filmflut gerecht zu werden, könnte man sich noch mit Bergen von (direct to) DVDs eindecken. Wer kann da noch den Überblick behalten, wer kann da noch alles sehen, was ihn interessiert? Zurück bleibt Woche für Woche das quälende Gefühl, wieder
viel Schönes und Gutes verpasst zu haben.
Dieses unschöne Gefühl erfährt seinen Höhepunkt zum Jahreswechsel, wenn in langen Listen und Artikeln auf die besonders sehenswerten Filme zurückgeblickt wird und man in konzentrierter Form vorgeführt bekommt, was man während der letzten zwölf Monate hätte sehen wollen bzw. sollen. Da stellt sich schon einmal das Gefühl der Überforderung ein und resigniert muss man hinnehmen, dass man keine Chance hat, das Verpasste auch nur ansatzweise
irgendwann nachzuholen.
Als probates Mittel gegen eine cineastische Überlastungsstörung wird sich dieser Kinorückblick auf zehn Filme beschränken. Das sind nicht notwendigerweise die zehn allerbesten Filme des Jahres, es sind auch nicht die am wenigsten beachteten oder am meisten missverstandenen. Es sind einfach zehn gute Filme, an die man sich gerne zurückerinnert bzw. die es lohnt nachzuholen.
In der Auswahl steckt sicher ein gewisses Maß an Zufall und Willkür, trotzdem zeichnet sich eine
übergreifende Gemeinsamkeit ab; sie sind auffällig unauffällig, d.h., ihre Art des Erzählens ist ruhig, diskret, zurückhaltend, subtil, tief- und hintergründig, worin man aber kaum ein durchgehendes Motiv des Kinojahrs 2012 sehen kann, da neben dieser speziellen Auswahl ein Vielfaches an vollkommen anders gearteten – also laute, aufdringliche, spektakuläre, etc. – Filmen gelaufen ist.
Wenn es um Gangster geht, dann wird es gerne laut, schnell und hektisch. Nicolas Winding Refns Drive ist da anders. Ein ruhiger, fast elegischer Film, Ryan Gosling als professioneller Fahrer trägt eine (naturgemäß nicht aufgeregte) Melancholie mit sich herum und selbst wenn die Gewalt einmal in diesem Film ausbricht, dann nur, um schnell wieder zu verschwinden und wie träge in der Luft
hängender Pulverrauch schemenhaft zurückzubleiben.
Drive im Doublefeature mit Bullitt zu sehen bietet sich nicht nur wegen des augenfälligen Crime-and-Car-Themas an, sondern auch wegen ihrer ähnlich coolen Erzählweise und ihren beiden lakonisch schwermütigen Hauptfiguren.
Das Genre des Spionagefilms (bzw. der Spionageliteratur) war lange Zeit in seiner Erzählweise ein sehr diskretes. Spione mögen und machen keinen Lärm, entsprechend unaufgeregt wurden solche Geschichten von den Meistern des Genres erzählt. Dann kam der Haudegen James Bond, ihm folgten immer noch hyperaktivere Spione bzw. Spionjäger wie Ethan Hunt oder Jason Bourne nach, so dass heute bei der Verräterjagd genauso die Fetzen fliegen wie in jedem anderen Actionfilm. Wie schön war es da, mit Dame, König, As, Spion einen geradezu klassischen Spionagefilm präsentiert zu bekommen. Seine Erzählweise ist derart verhaltenen und langsam, dass man es als Zuschauer schon fast nicht mehr gewöhnt ist. Trotzdem (bzw. gerade deswegen) wird man unweigerlich in die (erfreulich klare und unkomplizierte) Handlung hineingezogen. Das großartige Schauspielerensemble überzeugt durch feine Nuancen anstelle von großen Gesten, die Bildgestaltung ist selbst in Tristes wunderschön, der Regisseur Tomas Alfredson beweist nach So finster die Nacht ein weiteres Mal, wie man ein ausgelutschtes Genre vom Kopf auf die Füße stellt.
Horrorfilme neigen zwar oft zum Grellen, Hysterischen, Gehetzten, jedoch ist der stille Horror eine feste Größe in diesem Genre. We Need to Talk About Kevin ist ein Beispiel hierfür, und wie so oft in diesem Subgenre ist ein Kind der Auslöser für das immer tiefer kriechende Unbehagen und Entsetzen. Geschickt schafft es der Film, zwischen verschiedenen Welten zu wandeln, mal erinnert er an vergleichbare Horrorfilme der 1960er und 1970er Jahre, dann ist er wieder ein klassisches Familien- bzw. Sozialdrama, dann wieder eine philosophisch psychologische Reflexion über das »Böse« und seinen Ursprung.
Scham ist ein hochprivates Gefühl und lässt sich nicht laut nach außen tragen (man kann schon laut die Scham von anderen einfordern oder einen Pranger aufstellen, der davon Betroffene wird aber immer die nichtöffentliche im-Boden-versinken-Option wollen). Entsprechend zurückhaltend erlebt man Michael Fassbender in Shame als sexsüchtigen Geschäftsmann im Konflikt mit dieser Empfindung. Es
ist dabei nicht ganz klar, um welche Scham es hier geht; um die Scham, die mit allem Sexuellen verbunden ist oder der Scham süchtig zu sein (eben nach diesem Sex) oder der Scham für ein verkorkstes Leben?
Im Inneren der von Fassbender gespielten Figur toben emotionelle Stürme, doch bleibt sie und der Film nach außen hin weitgehend ruhig und wahrt die (elegante) Form. Zwangsläufig baut sich durch diese Dissonanz ein Druck auf, der sich irgendwann Bahn brechen muss.
Kein Problem mit der Scham hat Magic Mike bei seinem »sündigen« Job als Stripper, schon eher schämt er sich, dass er es nicht schafft, ein eigenes Geschäft aufzubauen. Der hyperproduktive, alle Genres und Sujets durchprobierende Steven Soderbergh erzählt hier eine Geschichte über männliche Stripper im heißen Süden Amerikas und überrascht mit einem weitgehend unspektakulären Film. Man erwartet bei einem Thema wie diesem einen offensichtlichen und aufdringlichen Film, tatsächlich zählen aber gerade Zurückhaltung und Gelassenheit zu seinen wichtigsten Qualitäten.
Bei der filmischen Alliteration Martha Marcy May Marlene ist von Anfang an klar, dass man es mit keinem lauten Film zu tun hat. Im zeitlichen Wechsel wird erzählt, wie Martha (gespielt von der mit Abstand talentiertesten Olsen-Schwester Elizabeth) zu einer vermeintlich freundlichen, in Wirklichkeit aber abgründigen Landsekte gerät, von dieser flieht und bei ihrer Schwester und deren Mann unterkommt, um mit dem erlebten Irrsinn klarzukommen. Der Film belegt auf das Eindringlichste, dass Unterdrücker, Missbraucher und Zerstörer nicht immer mit lautem Kriegsgeschrei und martialischem Gehabe auftreten. Oft kommen sie leise, mit einem Lächeln, einer ruhigen Stimme und blumigen Argumenten, wie bei Martha Marcy May Marlene etwa die großartig von John Hawks dargestellte Charlie-Manson-Variation des Sektenführers Patrick.
Komödien verbindet man im ersten Moment gerne mit wilder Aktion, mit Slapstick, Klamauk und brüllenden Kalauern. Komödie kann aber immer auch ganz anders, nämlich sehr subtil, perfide und entschleunigt funktionieren. Ziemlich überraschend stellte sich Young Adult als kleines Meisterwerk des zurückhaltenden Humors heraus, auch wenn der Film erheblich expliziter ist, als manch superelegante
(europäische) Konversationskomödie.
Erfreulich boshaft und konsequent werden in Young Adult die Standards der üblichen Thirtysomthings-Beziehungs-Lebenskrisen-Familienheimkehrer-Komödien unterlaufen und gebrochen und Charlize Theron kann beweisen, dass sie wirklich eine gute Schauspielerin ist, ohne ganz angestrengt gegen ihr ansprechendes Äußeres anzuspielen (wie etwa in Monster oder North Country).
Mit zahlreichen (oft überstrapazierten) Standards brach auf sehr charmante Weise auch Oh Boy, der von einem etwas planlosen jungen Mann in Berlin erzählt. Die ewiggleichen Klischees von der Nabelschau identitätskrisengeplagter Großstadtbewohner um die 40 werden hier alle nicht bedient, dafür bekommt man eine Geschichte mit leisem Humor, durchscheinender Tragik und großer Melancholie präsentiert. Tom Schilling spielt wunderbar unentschlossen einen späten Nachkommen des Fürsten Myschkin (aus Dostojewskis »Der Idiot«), der mit einer gewissen Naivität durch das Leben geht, eigentlich nur das Gute will, von seinen Mitmenschen aber zielsicher ins Unglück geführt bzw. gestoßen wird. Betörend schöne Schwarzweißbilder, präzise Figuren- und Situationszeichnung und eine geradezu traumwandlerisch sichere Regie (Jan-Ole Gerster), unter der selbst ein Running Gag wie die vergebliche Suche nach einer Tasse Kaffee nicht flach wird, machen Oh Boy zu einer Trouvaille in der deutschen Kinolandschaft.
Gar nicht ruhig und zurückhaltend waren und sind Leben und Arbeit von Mehmet Göker. Aus dem Nichts baute Göker ein enorm erfolgreiches Finanzunternehmen auf, regierte dieses in einer Mischung aus Sektenführer, Imperator und Hardcorekapitalist, führte eine schillerndes, großspuriges Leben, kam mit der Justiz in Konflikt, musste herbe Rückschläge hinnehmen, ist aber immer noch guter Dinge. Dieses spektakuläre Leben fasst der Dokumentarfilmer Klaus Stern in Versicherungsvertreter – Die erstaunliche Karriere des Mehmet Göker in gewohnt zurückhaltende Bilder und ermöglicht dadurch tiefe Einblicke in eine sonderbare Welt, in der man sich gerne von falschen Versprechen, großen Gesten und glitzerndem Luxus blenden lässt.
Wie vollkommen anders als Mehmet Göker ist da Henryk Wichmann. Der CDU-Politiker machte keine steile, sondern eine moderate Karriere, er führt kein spektakuläres Leben, sein Auftreten hat nichts Großspuriges. Herr Wichmann lebt den bundesrepublikanischen Alltag, der selten dramatisch daherkommt, der vielmehr von langweiliger Routine, nervenden Detailfragen, Interessenskonflikten und profanen Alltagsproblemen geprägt ist. Bereits 2003 hat uns Andreas Dresen den unermüdlichen Arbeiter im politischen System der BRD im Dokumentarfilm Herr Wichmann von der CDU vorgestellt, nun begegnen wir ihm wieder als Herr Wichmann aus der dritten Reihe (des Landtages in Brandenburg) und noch eindringlicher als beim ersten Film über den Wahlkampf von Herrn Wichmann kann man hier erfahren, dass die aufgeregt in den Medien berichtete Politik doch nur die Spitze des Eisberges ist, der unseren politischen und gesellschaftlichen Alltag darstellt. Stuttgart 21 ist die (auffällige) Ausnahme, Bahnhof Vogelsang ist die (unspektakuläre) Regel.
Wem diese Auswahl an Filme zu beschränkt und / oder zu einseitig ist, der kann beruhigt sein. Das Kinojahr 2013 wird ihn wieder mit einer absurden Vielfalt und Menge an Filmen heraus- und möglicherweise sogar überfordern.