02.01.2014

Besser verstört

Immer Aerger mit 40
Ein Kinojahr, mit dem man sich anfreunden kann – hier: Apatows Immer Ärger mit 40

Ein sehr persön­li­cher Rückblick auf das Filmjahr 2013

Von Michael Haberlander

Wieder ein Jahr vorbei, wieder eine nicht zu bewäl­ti­gende Flut von Filmen, wieder eine unend­liche Vielfalt, wieder nur einen Bruchteil gesehen. Sich unter diesen Vorzei­chen hinstellen zu wollen und zu behaupten, man gestalte einen (wie auch immer) objek­tiven und allge­meinen Rückblick auf das Filmjahr 2013, ist absurd und / oder lächer­lich. Alles, was man tun kann, ist zurück­zu­bli­cken auf den kleinen Teil des riesigen Angebots, der absicht­lich oder zufällig in die eigene Aufmerk­sam­keit geraten ist und dabei einen positiven Eindruck hinter­lassen hat.

Wenn es auch sinnlos ist, nach einem allge­meinen, durch­gän­gigen Thema, einem weit­ver­brei­teten Trend, einer großen Klammer für das Filmjahr 2013 zu suchen, so zeigt sich bei mir doch rein subjektiv ein Geschmacks­muster, das sich in der Vorjahren schon abge­zeichnet hat und das in den abge­lau­fenen 12 Monaten nun besonders markant zu Tage trat.
Es waren in erster Linie die wider­sprüch­li­chen und mehr­deu­tigen Filme, die mich begeis­terten, während mich das Eindeu­tige und Offen­sicht­liche über­wie­gend lang­weilte und nervte. Gerade bei einigen von der Kritik hoch­ge­lobten Filmen mit poli­ti­scher bzw. sozialer Brisanz und Relevanz, die sich nach außen hin wahn­sinnig viel­schichtig und reflek­tiert gaben, erkannte ich (formal wie inhalt­lich) nur die immer gleiche Eindeu­tig­keit, für die ich 2013 weniger empfäng­lich war als je zuvor.
Ob es in diesem Jahr (zufällig?) sehr viele Filme in der von mir gewünschten Geschmacks­rich­tung gab oder ob ich mir aus dem uner­gründ­li­chen Angebot nur glück­li­cher­weise die entspre­chenden Werke heraus­ge­sucht habe, sei dahin­ge­stellt.

Der einzige Film aus der Gruppe der „poli­ti­schen Filme“, bei dem der Gesamt­ein­druck trotz einiger Schwächen positiv blieb, war Zero Dark Thirty, dessen Erzähl­weise erfreu­lich unein­heit­lich war und gekonnt zwischen höchster Spannung und totalem Still­stand pendelte.

Ein Meister des Unein­deu­tigen ist und bleibt Paul Thomas Anderson, das hat er mit seinem wunderbar vers­tö­renden The Master einmal mehr bewiesen. Wer hier wem was antut, was die Figuren antreibt und warum die Dinge so sind wie sie sind, wird man mit Sicher­heit nicht fest­stellen können.

Auch von David O. Russell gibt es einige schön kompli­zierte Filme, nach seinem zu gerad­li­nigen The Fighter von 2010 und in Anbe­tracht der Ausgangs­si­tua­tion (Besetzung, Story) von Silver Linings hatte ich dies­be­züg­lich so meine Bedenken, musste dann aber erfreut fest­stellen, wie ziel­si­cher dieser Film immer eine halbe Note neben der Melodie des üblichen Hollywood-Bezie­hungs­dramas liegt, was ihn in jeder Hinsicht angenehm »unhar­mo­nisch« und somit mir sympa­thisch machte.

Obwohl Immer Ärger mit 40 ebenso fein zwischen Ernst, Humor und Irrsinn austa­riert war wie Silver Linings, war hier die allge­meine kritische Beur­tei­lung viel schlechter und Preise (bzw. Nomi­nie­rungen) regnete es dafür auch nicht. Den Regisseur Judd Apatow hält man fälsch­li­cher­weise immer noch für einen eindi­men­sio­nalen Hau-drauf-Komiker, was eigent­lich kein vernünf­tiger Mensch behaupten kann, wenn er etwa Immer Ärger mit 40 mit offenen Augen gesehen hat.

Aus Apatows „Schule“ kommen die Macher und Darsteller des absurden Welt­un­ter­gangs­films Das ist das Ende, der aller­dings einige sehr krasse Komik bereit­hält, der aber auch immer wieder sehr klug über das Thema Freund­schaft nachdenkt, was ihn für diese Liste der wider­sprüch­li­chen Filme quali­fi­ziert.

Um Freund­schaft ging es auch in Frances Ha, der durch seine zwangs­läufig ambi­va­lente Melan­cholie und seine schlichten filmi­schen Mittel verzau­berte.

Während Frances Ha im schönsten Schwarz-Weiß vom neuro­ti­schen New York erzählte, verschlug es Woody Allen mit Blue Jasmine ins sonnig bunte San Francisco. Nach Match Point mochte ich keinen von Allens Filme mehr wirklich, gerade die zotigen Frem­den­ver­kehrspro­spekt­groß­stadt­filme der letzten Jahre fand ich fürch­ter­lich belanglos. Blue Jasmine ist trotz Bilder­buch-San Francisco und trotz einiger insze­na­to­ri­scher Schwächen erstaun­lich gut ausge­fallen, was vor allem daran liegt, dass hier vieles nicht so ist und so kommt, wie es zuerst erscheint bzw. wie man es erwartet. So ist der Film auch (absicht­lich!) kaum lustig, obwohl man ständig das Gefühl hat, er müsse es sein.

Dieses Gefühl kennt man nur zu gut von den Coen Brüdern, in deren Filme die Skur­ri­lität und Absur­dität nur selten zum Lachen reizt, jedoch immer wieder verstört und dabei erstaun­lich gut unterhält. Inside Llewyn Davis, der einem auf narra­tiver wie emotio­neller Ebene laufend den Boden entzieht, ist ein über­wäl­ti­gender weiterer Beleg hierfür.

Nicht immer war ich so angenehm und gekonnt verstört wie bei den Coen Brüdern, manchmal war die Vers­tö­rung auch unbequem, wenn nicht gar schmerz­haft, etwa bei Ridley Scotts The Counselor, einem schau­lus­tigen Blick in das mensch­liche Verderben oder bei Park Chan-wooks Stoker, einer Mischung aus Addams Family, 70er Jahre Horror und sarkas­ti­schem Mörder­mär­chen oder bei Nicolas Winding Refns rausch­haft brutalem Only God Forgives, in dem Logik und Verstehen hinter reine Form und Stili­sie­rung zurück­treten. Neben ihren (z.T. wort­wört­lich) augen­fäl­ligen Stärken gibt es in jedem dieser Filme etwas, das mich stört. Dass ich nicht genau benennen kann, was dieser Stör­faktor ist, macht sie in jedem Fall inter­es­santer als die, bei denen ich mein Unbehagen sehr präzise formu­lieren kann.
So ist es etwa bei The Place Beyond the Pines, der zu Anfang eine großartig unde­fi­nierte, lako­ni­sche Bankräuber-Sozi­al­drama-Geschichte ist. Mit dem uner­war­teten und vers­tö­renden Ableben der von Ryan Gosling gespielten Haupt­figur ändert der Film aber in jeder Hinsicht sein Gesicht und seine Qualität und alles wird plump, offen­sicht­lich, konstru­iert, was nach diesem Anfang wirklich bedau­er­lich ist.
Mit Only God Forgives und The Place Beyond the Pines hat sich zumindest bestätigt, dass Ryan Gosling der perfekte Schau­spieler für die von mir so geschätzte Mehr­deu­tig­keit ist.

Sehr ange­strengt um Vers­tö­rung bemühte sich Drecksau, der mit seinen Provo­ka­tionen und Anstößig­keiten oft peinlich anti­quiert wirkte. Insgesamt hat es aber schon gepasst, denn ein Film, der auf die Zwölf zielt und dabei knapp daneben trifft, ist mir immer noch lieber als vorsich­tiges Gefäl­lig­keits­kino.

Ebenfalls auf die Zwölf zielte (und traf) Der Tag wird kommen, der dem unsterb­li­chen Punk mal wieder zu filmi­schen Ehren verhalf. Eine sehr schräge Geschichte von zwei sich annähernden Brüdern (einer davon gespielt vom wieder einmal wunder­baren Benoît Poel­vo­orde), die aus der Hölle eines Gewer­be­ge­biets ausbre­chen und eine Spur der Ver- und Zers­tö­rung hinter sich herziehen.

Ähnlich bizarr aber mit einer ganz anderen Stim­mungs­lage und Thematik präsen­tierte sich Berberian Sound Studio, eine Hommage an das Genre des italie­ni­schen Giallo-Films. In diesem Film ist nichts, wie es scheint und klingt, sonder­bare Dinge gehen vor sich, die Logik muss weichen, wenn die Spannung einen Film regiert bzw. dominiert.

Jenseits der Logik bewegte sich auch Camille – Verliebt nochmal!, der eine Frau ohne größere Erklä­rungs­an­sätze und dröge Diskus­sionen zum Raum-Zeit-Kontinuum in ihre Pubertät zurück­schickt, um dort alles besser oder doch wieder genauso falsch zu machen. Ein schöner Film über (Vorher-)Bestim­mung, der seine Unwahr­schein­lich­keiten offen zur Schau trägt, anstatt sie – wie im Kino sonst oft üblich – als Realität zu verkleiden.

Der Häufung von Unwahr­schein­lich­keiten begegnet The Broken Circle mit einer Tendenz ins Märchen­hafte. Hier geht es eben nicht darum, realis­tisch von einem Musi­ker­paar und ihrem ster­benden Kind zu erzählen, sondern darum, eine betont emotio­nelle Geschichte vor- bzw. aufzu­führen. Das bewegt sich zwar stel­len­weise arg nahe am Tear­jerker und anderem Gefühls­over­flow, aber wo viel Musik im Spiel ist, da ist es selten einfach, sachlich zu bleiben.

Apropos märchen­haft. Unter dem Regen­bogen stellte Märchen auf den Prüfstand der Realität, das Ergebnis ist ein für Agnès Jaoui typischer Mix aus Witz, Ernüch­te­rung und verfah­renen Gefühlen. Für mich lohnte sich der Besuch des Films in jedem Fall, da ich Jean-Pierre Bacri immer gerne beim gepflegten Herum­gran­teln zusehe.

Eine märchen­hafte Basis hatte auch ein deutscher Low-Budget-Film, der aus Hans im Glück einen Hans Dampf machte. Dieser ist weniger in allen Gassen als auf einer wech­sel­haften Reise nach Italien, wo er das wahre Glück vermutet. Als reiner Tor durchlebt er gut gelaunt manches Abenteuer, das Ende des Films ist völlig unver­mutet und durchaus vers­tö­rend.

Die spanische Schnee­witt­chen-Adaption Blan­ca­nieves hatte ebenfalls ein über­ra­schendes, gar nicht märchen­haftes Ende. Leider war dieses Ende das einzige angenehm Uner­war­tete in einer sonst ziemlich vorher­seh­baren Handlung, weshalb ich insgesamt nur mäßig begeis­tert war, auch wenn der Film durch­ge­hend schön anzu­schauen ist. Dass mich die (erwach­sene) Haupt­figur Carmen regel­mäßig an Miley Cyrus erinnerte, hat mein Verhältnis zu dem Film sicher nicht verbes­serte.

Überaus kontro­vers wurde das Feuil­leton-Pracht­s­tück Fins­ter­world aufge­nommen, mir waren die ganzen Diskus­sionen darum (vor allem zu seinem Deutsch­land­bild) herzlich egal. Vor allem wegen einigen sehr fein gezeich­neten Charak­ter­bil­dern und einem im deutschen Kino selten zu sehenden Zynismus fand ich ihn im Großen und Ganzen sehens­wert.

Zu den wenigen »gerad­li­nigen« Filmen des Jahres 2013, die mir gut gefielen, zählte das virtuose Renn­fahrer-Biopic Rush (der zumindest in der Charak­ter­zeich­nung seiner beiden Haupt­fi­guren viel­schichtig war) und die äußerst amüsante Komödie Wir sind die Millers, die dem Drogen­schmuggel aus Mexiko eine ganz andere Seite als The Counselor abge­winnen konnte.
Über­ra­schend gerad­linig fielen auch die beiden Abschieds­filme von Steven Soder­bergh aus, etwa der souverän insze­nierte Side Effects, der mich trotz der ange­strebten Verwir­rungen und Fall­stricke »nur« solide unter­hielt. In jeder Hinsicht fulminant war dagegen Liberace, in dem Soder­bergh noch einmal fast alles zeigte, was er als Regisseur kann. Das einzige was fehlte, ist sein Talent fürs Abwegige und Unan­ge­passte, das mir zum Jahres­ende Dank eines geschenkten Stapels alter VHS-Kassetten in Form seiner frühen Werke Gray's Anatomy und Schi­zo­polis wieder­be­geg­nete. Schade, dass damit für immer Schluss sein soll.

Bei Doku­men­tar­filmen ist die Frage danach, ob sie eindeutig oder unein­deutig sein sollen, ganz schwer zu beant­worten. Dokus wollen die Realität (manche sagen auch Wahrheit dazu) abbilden, darüber ob diese eindeutig oder unein­deutig ist, streiten Philo­so­phen seit ein paar tausend Jahren.
Entspre­chend unein­heit­lich fällt dann auch die Auswahl von Dokus aus, die mir 2013 gefallen haben, das zeigt sich etwa schon an den sehr unter­schied­li­chen Filmen über zwei sehr unter­schied­liche Schlag­zeug­le­genden, einer­seits dem freund­lich gewitzten Portrait des netten Jimmy Carl Black Where's the Beer and When Do We Get Paid? ande­rer­seits das über­bor­dende Panop­tikum zum genia­lisch manisch noto­ri­schen Ginger Baker Beware of Mr. Baker. Ähnlich extrem sind die Unter­schiede im super­rea­lis­ti­sche Sofia's Last Ambulance über den tristen Alltag einer Kran­ken­wa­gen­be­sat­zung in Bulga­riens Haupt­stadt und Wochen­end­krieger, einem aufwendig gestal­teten Ausflug in die Paral­lel­welt der Live-Rollen­spieler.

Würde man mich fragen, ob 2013 ein gutes Film- bzw. Kinojahr war, könnte ich ange­sichts der vorste­henden Liste guten Gewissens antworten: Für mich auf alle Fälle!