Was die Welt bewegt |
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NICE PEOPLE – Publikumspreis mit 98,5% „Fand ich toll“- Stimmen |
Das maßgeblich durch die Hamburger Kulturbehörde und den NDR unterstützte Festival spielt sowohl in der internationalen als auch in der nationalen Festivallandschaft eine eher untergeordnete Rolle. Das Programm besteht zum Großteil aus Filmen, die andernorts schon gezeigt wurden, weshalb sich die Presseberichterstattung im Vergleich zu den übrigen großen deutschen Festivals wie beispielsweise in München oder auch Mannheim/Ludwigshafen eher in Grenzen hält. Ein Vergleich
mit der Berlinale als eines der wichtigsten A-Festivals erübrigt sich.
Aber das Filmfest Hamburg versteht sich ohnehin in erster Linie als Publikumsfestival, das den Hamburger und Hamburgerinnen Gelegenheit bietet, einen Blick auf das internationale Filmgeschehen zu werfen. Die geographisch und sprachlich abgesteckten Sektionen – Tansatlantik (englischsprachiges Kino aus den USA und Kanada), Asia Express, Voilà (französischsprachiges Kino), Vitrina
(spanisch-portugiesisch sprachiges Kino) – sowie die diesjährige Länder-Retrospektive des israelischen Kinos ermöglichen einen umfassenden Blick auf das zeitgenössische internationale Kino und seine Themen, auf die Welt und was sie bewegt.
Insbesondere die europäische Welt beschäftigt sich dieser Tage vor allem mit dem Strom Geflüchteter, die eine neue Heimat suchen. Mit einem kurzen schwarz-weiß Clip, der jeder öffentlichen Filmvorführung vorangestellt war, bezog das Filmfest Hamburg eine eindeutige Position: „Refugees Welcome“ war die allabendlich wiederkehrende Botschaft. Und so ist es nicht verwunderlich, dass der Dokumentarfilm Nice People über das erste Bandy-Team Somalias, zusammengesetzt aus in Schweden lebenden Geflüchteten, mit einer beeindruckenden Eindeutigkeit von 98,5% „Fand ich toll“-Stimmen den Publikumspreis des Festivals gewann. Auch wenn der Film zweifelsohne von seinem Inhalt unabhängige Qualitäten aufweist, ist dieses Abstimmungsergebnis doch ein eindrucksvolles Zeugnis einer gesamtgesellschaftlichen Stimmung und
Position zur Flüchtlingsthematik.
Aber nicht nur das Publikum ist hierfür dieser Tage besonders empfänglich. Auch beim Gewinner der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes, dem Flüchtlingsdrama Dämonen und Wunder – Dheepan von Jacques Audiard, drängte sich beim Hamburger Screening im Zusammenspiel mit dem „Refugees Welcome“-Clip und einer entsprechenden Anmoderation
der Verdacht auf, dass hier nicht nur eine filmische Leistung, sondern auch ein politisches Thema ausgezeichnet wurde. Und schließlich schwingt das Thema Flucht ebenso in der Begründung für den Preis „Der politische Film der Friedrich-Ebert-Stiftung“ mit, in der es über den Gewinner Every Face Has a Name von Magnus Gertten heißt: »Dieses ist ein Film über den Holocaust, aber auch über Flucht und Neuanfang. Anfangs fast beiläufig, dann immer
kraftvoller entwickelt der Film schließlich eine Parallelmontage. Zu sehen sind plötzlich auch Aufnahmen aus der Gegenwart, aufgenommen in einem Hafen in Sizilien. Dort stranden Flüchtlinge vor allem aus Afrika. Auch sie sind oft verletzt und traumatisiert. Auch ihnen gibt der Regisseur ein Gesicht – und einen Namen.«
Das Thema Flucht zieht sich mal mehr, mal weniger sichtbar durch das gesamte Programm des Filmfests Hamburg 2015 und verbindet die unterschiedlichsten
Kontexte zu einem gemeinsamen Weltgeist, der darum kämpft, Altes hinter sich zu lassen und Neues zu beginnen – ein Motiv, das bereits durch den Eröffnungsfilm Das brandneue Testament aufgegriffen wird. In dieser pechschwarzen Komödie begibt sich Gottes Tochter, wie einst ihr Bruder „J.C.“, in die Welt, um ein – wie der Titel ja bereits verrät – brandneues
Testament zu schreiben und damit die Dinge zum Guten zu wenden.
Im weiblich dirigierten Film steht Flucht und Aufbruch in ein neues Leben oft im Zusammenhang mit der Befreiung aus dem Patriarchat. Der in Hamburg mit dem „Art Cinema Award“ ausgezeichnete Film Mustang der Regisseurin Deniz Gamze Ergüven zeigt die Rebellion eines kleinen Mädchens gegen die repressiven
sexistischen Strukturen einer traditionellen türkischen Gesellschaft. Freiheitsberaubung, emotionaler und körperlicher Missbrauch bilden die Ausgangssituation einer weiteren Heldin. Auch in Grannys Dancing on the Table von Hanna Sköld sucht ein Mädchen den Ausweg aus einem über Generationen etablierten System von Missbrauch und Unterdrückung, das hier jedoch nicht soziokulturell, sondern psychologisch hergeleitet wird.
Die
Filmemacherinnen, so scheint es, begegnen dem Thema Flucht mit größerem Optimismus als ihre männlichen Kollegen, die der Option auf Veränderung und Neuanfang sichtbar skeptisch gegenüber stehen. Die mit Abstand eindrücklichste, bedrückendste und auch streitwürdigste Flucht zeigt László Nemes in seinem intensiven KZ-Drama Son of Saul, das das Kinopublikum tief in die Erlebniswelt
des titelgebenden Häftlings und die Vernichtungs- und Entmenschlichungsmaschine des Lagers mitnimmt. Weit weniger schockierend, aber ebenfalls sichtbar pessimistisch gestaltet sich Pablo Traperos Kriminaldrama The Clan, in dem Unschuldige dem Strudel des Bösen erliegen und das Streben nach Gerechtigkeit als vergeblicher Kampf erscheint. Auch die Sci-Fi-Tragödie The Lobster – Hummer sind auch nur Menschen lässt ihren Helden gleich zwei mal aus einer restriktiven Gesellschaft flüchten, ohne dabei das Ankommen an einem besseren Ort in Aussicht zu stellen.
Dass Pessimismus keine rein weibliche Perspektive darstellt, beweist schließlich die bedrückende Coming of Age Geschichte Valley von Sophie Artus, die ihren drei jugendlichen Hauptfiguren keine Möglichkeit gibt, sich aus ihrem kriminellen wie auch
gewalttätigen sozialen Milieu zu befreien. Vielleicht ist dieser pessimistische Haltung gegenüber der israelischen Jugend aber auch kulturell bedingt, zeichnet doch der in der Retrospektive präsentierte Film Six Acts aus dem Jahr 2012 ebenfalls ein hoffnungsloses Bild, nimmt dabei jedoch sexuelle Verrohung und Ausbeutung in der Oberschicht ins Visier.
Die vielleicht vergnüglichste, wenn auch nicht weniger hoffnungslose Flucht vollzieht Comedienne
Camille Cotin in Harry Me – The Royal Bitch of Buckingham. Die Mockumentary begleitet Cotin bei dem Versuch, durch die Ehe mit Prinz Harry ein neues und vor allem besseres Leben zu beginnen. Politisch unkorrekt, zuweilen bösartig, aber immer voller Humor sorgten die Regisseurinnen Eloïse Lang und Noémie Saglio für ein erfrischendes Gegengewicht zu den bedrückenden (Ausgangs-) Szenarien erfolgreicher und scheiternder Fluchten.
Auf die Frage, was die Welt heute bewegt, hat die Filmauswahl des Filmfest Hamburg 2015 also eine klare Antwort. Doch es überwiegt der Pessimismus. Während nahezu alle Filme eine ungerechte, unmoralische, unmenschliche Welt portraitieren, aus der geflohen werden muss, zeigen nur sehr wenige tatsächlich einen Ausweg. Es bleibt zu hoffen, dass diese Hoffnungslosigkeit keinen Ausdruck realer Hilflosigkeit, kein lähmendes Gefühl unvermeidbaren Scheiterns widerspiegelt. Denn ein „Refugees Welcome“-Clip reicht leider nicht, um die Welt jenseits der Leinwand tatsächlich zu verändern.