Intelligent innehalten |
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Das ist die Freiheit, die wir ersehnen: Mit Mustang hat die nach Frankreich emigrierte Deniz Gamze Ergüven ein lichtdurchflutetes Drama geschaffen, das mit jeder Pore nach außen drängt |
Von Natascha Gerold
Ein klagewütiger Staatspräsident, der sich im Besitz der Deutungshoheit über Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit allerorten wähnt, Partner in einem menschenrechtlich mehr als fragwürdigen Flüchtlingsabkommen, Terroranschläge, unterdrückte Minderheiten, … noch nie waren unsere Schlagzeilen so besetzt vom Land am Bosporus wie in den vergangenen Monaten. Angesichts einer solchen Dauerpräsenz in tagesaktuellen Informationsformaten ist die Arbeit für Veranstalter von internationalen Filmreihen mit Sicherheit herausfordernder denn je: Wie wird man der Flut von Themen gerecht? Welche Linie soll erkennbar sein, wo es so viele brennende Schauplätze im und um das Schwerpunktland gibt?
Angesichts dieser thematischen Gemengelage hat der Münchner Verein Sinematürk, der alljährlich die örtlichen Türkischen Filmtage zusammen mit der Münchner Stadtbibliothek, dem Verein Filmstadt München sowie dem Münchner Kulturreferat veranstaltet, einen klugen, und den besten gangbaren Weg bei der Filmauswahl für die 27. Türkischen Filmtage gefunden: Das Thema »Grenzen der Freiheit« – sowohl des Einzelnen als auch die der Gesellschaft – ist die Klammer, die die Zusammenstellung der insgesamt 14 Werke türkischer Filmemacherinnen und Filmemacher begründet. Damit geben die Macher der Reihe ein klares Bekenntnis ab: Gerade jetzt kann es nicht sein, dass die Bedeutung der geopolitischen Lage einer Nation höher gehalten wird als das, was innerhalb ihrer Grenzen geschieht. Deshalb wird es Zeit für einen Blick nicht auf, sondern in die Türkei.
»Die Politik ist immer da, im Hintergrund. Es geht nicht darum, sie zu zeigen, sondern, wie sie das Leben der Menschen beeinflusst«, hat der israelische Regisseur Eran Riklis einst über seine Komödie Mein Herz tanzt über das Erwachsenwerden als Palästinenser in Israel gesagt. Eine Haltung, die sich auch im Eröffnungsfilm der Türkischen Filmtage bemerkbar macht: Die Filmemacherin Deniz
Gamze Ergüven erzählt in ihrem oscarnominierten Coming-of-Age-Drama Mustang (Do. 21.04., 19:00 Uhr) die Geschichte von fünf Schwestern, die nach dem Tod ihrer Eltern bei Onkel und Oma in der türkischen Provinz am Schwarzen Meer leben. Nach einem Zwischenfall bestimmen Zucht, Häuslichkeit und arrangierte Hochzeiten statt Entdeckerfreude das Leben. Doch der Drang der Mädchen nach
Emanzipation in der übersexualisierten Familienhysterie ist so unbezähmbar wie ihre langen Mähnen, die im Wind folgen. Während es Ergüven vorrangig um den Geschlechterkonflikt mit klar definierten Positionen geht und die Frage, welche Rolle Frauen jetzt und künftig in der türkischen Gesellschaft einnehmen werden, verlagert Senem Tüsün in ihrem Spielfilm Motherland (Fr. 22.04. und So.
24.04., 18:00 Uhr) den Generationenkonflikt ins jeweils Innere ihrer weiblichen Figuren: Nesrin, frisch geschiedene Großstädterin, kehrt ihrem alten Leben Rücken und zieht sich ins Haus ihrer verstorbenen Großmutter aufs Land zurück, wo sie ihren Roman fertigschreiben will. Daran hindert sie die Mutter, die unangemeldet auftaucht. Beide müssen sich ihren düsteren Innenwelten stellen, was unter anderem durch die Absenz von künstlichem Licht und der Darstellung
klaustrophobisch-enger Räume verbildlicht wird. Mutter und Tochter sähen sich selbst jeweils in unterschiedlichen Frequenzen, so Tüsün, sie seien Trägerinnen eines Wertestreits, der mit der oktroyierten Säkularisierung in der Türkei begann und mit jeder Generation immer gravierender wurde.
Für viele Beobachter kennzeichnet ein mangelndes Interesse an einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte die Ära Erdoğan und seiner islam-konservativen AKP. Diese
Selbstkonfrontation scheinen stattdessen die Kulturschaffenden, vor allem auch die Filmemacher zu übernehmen, wie man an den gezeigten Arbeiten merkt. Dabei ist der Mikrokosmos Familie nicht nur Objektträger gesellschaftlicher Debatten, hier werden die komplexen und individuellen Folgen von Terror, Gewalt und Folter besonders deutlich. Das Drama Eksik (Mi., 27.04., 20:30 Uhr, in
Anwesenheit des Regisseurs) von Barış Atay Mengüllü basiert auf einer wahren Begebenheit und zeigt, wie eine linksoppositionelle Frau und ihr kleiner Sohn unmittelbar nach dem Militärputsch von 1980 auseinandergerissen werden. Als er, mittlerweile erwachsen, die Mutter und den schwer behinderten Bruder aufsucht, scheinen die Gräben unüberbrückbar, die Schmerz und Schuldzuweisungen geschaffen haben. Jener dritte Putsch des Militärs ist der Hintergrund für zwei
weitere Beiträge bei den diesjährigen Türkischen Filmtagen: In Snow Pirates (So. 24.04., 20:30 Uhr / Do. 28.04., 18:00 Uhr, beide Male in Anwesenheit des Regisseurs), lassen sich drei Buben im Osten des Landes weder von der unerbittlichen Kälte des Winters 1981, noch von der bitteren Armut oder dem Massenaufgebot an Soldaten allerorten ihre Abenteuerlust und Überlebenswillen
nehmen.
Ein besonderes Ereignis dürfte die Vorführung des Dokumentarfilms We Hit The Road von Deniz Yeşil (So. 24.04., 16:00 Uhr, in Anwesenheit des Regisseurs) werden: Das Porträt über den großen Protestmarsch Filmschaffender nach Ankara 1977, mit dem sie für Werkverträge und gegen eine immer absurder werdende Zensur kämpften, sollte im vergangenen Jahr beim Istanbul Film Festival im Wettbewerb laufen. Doch als der Dokumentarfilm Bakur (North) von Çayan Demirel und Ertugrul Mavioglu über geheime Trainingscamps der verbotenen PKK mit einer fadenscheinig wirkenden Ausrede vom Festival ausgeschlossen wurde, folgte ein Boykott, bei dem sich Dokumentar- und Spielfilmemacher sowie die diversen Jurymitglieder geschlossen gegen Zensur auflehnten. Die Filmszene gemeinsam für Kunst- und Meinungsfreiheit – auf fast schon groteske Weise wiederholt sich Geschichte selbst.
Nur scheinbar noch weiter zurück in die Vergangenheit geht der Spielfilm Memories of the Wind von Özcan Alper (Di. 26.04., 20:30 Uhr, in Anwesenheit des Regisseurs / Fr. 29.04., 20:30 Uhr). In ihm will der armenische Dissidenten Aram aus der Türkei fliehen, die mit Nazideutschland kooperiert. Noch kann er sein Ziel Georgien nicht erreichen, doch ein Ehepaar versteckt ihn bei sich.
Während des Wartens überwältigen Aram die Erinnerungen an das Schicksal seiner Familie im Ersten Weltkrieg immer mehr. Der zurückhaltende Ton des Films wird umso kraftvoller durch seine Bilder, die Vorrang vor dem Wort haben. Auch Memories of the Wind findet durch Tagesaktualität in seiner Brisanz Bestätigung, wenn man sich vor Augen führt, mit welcher Vehemenz sich die türkische
Regierung weigert, den Genozid an den Armeniern von 1915 anzuerkennen – EU-Appelle hin, Mahner und ermordete Intellektuelle wie der Armenische Journalist Hrant Dink her.
Immer wieder Istanbul – diesmal zeigen die Türkischen Filmtage die Metropole zum einen als schicksalsträchtigen Schauplatz wie in den herzerwärmenden Köpek – Geschichten aus Istanbul von Esen
Işık (Sa. 23.04., 18:00 Uhr in Anwesenheit von Regisseurin und Hauptdarstellerin / Do. 28.04., 20:30 Uhr), wo drei Menschen unterschiedlichen Alters an unterschiedlichen Punkten ihres Lebens all ihren Mut zusammennehmen und nicht weniger als alles für ihre Liebe riskieren oder in dem Kurzfilm Treue von İlker Çatak (Sa. 23.04., 16:00 Uhr) über eine Frau, deren
Hilfsbereitschaft für einen Gezi-Park-Aktivisten weitreichende Folgen für sie und ihre Familie hat. Die deutsch-türkische Koproduktion gewann im vergangenen Jahr den Studenten-Oskar. Zum anderen erscheint Istanbul als Ort real existierender sozialer Ungleichheit, die der bissige Dokumentarfilm Hey Nachbar von Bingöl Elmas (Mi. 27.04., 18:00 Uhr) belegt. Mit ihm schlägt die diesjährige Filmreihe eine traurige Brücke zu Ecümenopolis von Imre Azem, der ebenfalls die städtischen Fehlplanungen der Machthaber entlarvte und vor zwei Jahren bei den Türkischen Filmtagen gezeigt wurde.
Ein schöner Kontrapunkt zur Rolle der Frau in der Gesellschaft wird mit drei Spielfilmen gesetzt, die sich im weitesten Sinne mit »Manns-Bildern« beschäftigen. Der charaktergetriebene Thriller Ivy von Tolga
Karaçelik (Sa. 23.04., 20:30 Uhr / Di. 26.04., 18:00 Uhr), der einen bei Setting und Figurenbesetzung an das expressionistische Drama »Die Seeschlacht« von Reinhard Goering denken lässt, zeigt die Rumpfbesetzung eines Frachters vor der ägyptischen Küste mit Lagerkoller, der durch eine Art magischen Realismus immer deutlicher zutage tritt. Das heitere Roadmovie Limonata von Ali Atay (Fr.
22.04 20:30 Uhr / Mo. 25.04., 18:00 Uhr) lebt ebenfalls von den Gegensätzen seiner Helden: Der naiv-gutmütige Sakip fährt von Mazedonien nach Istanbul, um seinen gerissenen Halbbruder Selim, von dem er bis vor Kurzem nichts wusste, mit ans Sterbebett des Vaters zu holen. »Was ist ein Mann und ab wann man einer?« könnte die Leitfrage des Spielfilms Sivas von Kaan Mujdeci (Mo. 25.04., 20:30 Uhr /
Fr. 29.04., 18:00 Uhr, in Anwesenheit des Regisseurs) lauten: Der elfjährige Aslan fühlt sich von seiner Umwelt zurückgesetzt. Er entdeckt einen Hund, der bei einem illegalen Kampf achtlos zurückgelassen wurde und kümmert sich um ihn. Diese Freundschaft verändert das Leben des Jungen, erst recht, als die Männergesellschaft im Dorf von dem selbstbewussten Duo Wind bekommt. Ein reifes Buddy-Movie, in dem eindringliche Close-ups und viele Schwenks einer tauenden anatolischen
Landschaft die Niedlichkeit typischer Tier-Kind-Abenteuer auf ihre Plätze verweist – keine einfache, aber doch hoffnungsvolle Perspektive, von der auch die gesamte Auswahl der 27. Türkischen Filmtage getragen ist.
27. Türkische Filmtage München / Türk Film Günleri Münich von 21. bis 29. April 2016 im Gasteig, München.