Toni Erdmann |
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Nicht nur der Film erzählt Welt, seine Rezeption tut es ebenso. |
Von Jutta Brückner
Dieser bemerkenswerte Film ist nicht zu haben ohne seine bemerkenswerte Rezeption. Nicht nur der Film erzählt Welt, seine Rezeption tut es ebenso. Wie jeder gute Film wird er zum Träger vieler Einsichten und auch Projektionen, die manchmal mehr über unsere Wünsche als über ihn selbst aussagen. Welche Aussagen über die Welt und die Frau in ihr macht Toni Erdmann? Und worüber wird eigentlich gelacht?
Keine der möglichen Lesarten kommt vorbei an dem fabelhaften Spiel von Sandra Hüller. Ich habe noch nie einen Film gesehen, der so genau bis in die kleinsten Details das Bild einer modernen, jungen Frau in ihrer Arbeitswelt zeichnet. Ihre schablonenhafte Businessfreundlichkeit, ihre zielgerichtete Kompetenz, ihre eiserne Disziplin, mit der sie nicht nur ihren Arbeitsstoff, sondern auch ihren Körper beherrscht, weil zur Performance der zugerichtete Geist und der zugerichtete Body gehören. Das so zu zeigen, ist eine große Leistung. Der vom Stiletto malträtierte geschwollene Zeh wird gnadenlos auf der Toilette aufgestochen, bis das Blut auf die blütenweiße Bluse spritzt und ohne jedes Lamento wird das verschmutzte Oberteil gegen die weiße Bluse der jungen rumänischen Assistentin eingetauscht. Das hat eine amerikanische Kritikerin während des Festivals von Cannes zu dem Jubelschrei veranlasst, dass hier die erste wirklich moderne Frau gezeigt sei: self sufficient im Beruf und in der Erotik ohne heimliches Schielen auf das wahre romantische Glück, das ja nach Kinoübereinkunft für eine Frau nur in der Liebe und der Familie liegen kann.
Mich hat dann sehr verblüfft, wie stark in der deutschen Rezeption diese Tochter gesehen wurde als ein Fall von Entfremdung, furchterregender Kompetenz, seelischer Erkaltung, Totalfunktionalisiertheit und Einsamkeit. Diese Rezeption hat sich den Blick des Vaters zu eigen gemacht, dieses Vaters, der von seiner Frau geschieden ist, allein lebt, sich die Zeit mit Clownereien vertreibt und dessen einziger Gefährte, ein alter Hund, stirbt. Dieses Vaters, der jetzt, da er niemanden mehr hat, sich auf den Weg zu seiner Tochter macht, um .... ja was eigentlich? Eines Vaters, der sagt, er habe jetzt eine Frau engagiert, die seine Tochter verkörpert, weil er von der wirklichen lange nichts mehr gehört habe. Auf die Frage, welcher Kuchen denn besser schmecke, antwortet er, der der engagierten Tochter. Das ist zwar ein Witz, führt auch zu Heiterkeit, aber sein Geburtstagsgeschenk an Ines ist eine Käsereibe. Wir wissen ja, dass in der Komik der unbewältigte Rest lauert. Warum ist der deutschen Rezeption eine solche Tochter, die sich entschieden hat, dass ihr Leben ihr Beruf ist und sie auf Kuchenbacken und Käsereiben verzichten kann, noch immer unheimlich? Warum wird einer solchen Frau attestiert, der Kapitalismus habe sie bis in die letzten Fasern sich selbst entfremdet? Wer ist hier wirklich einsam und wer soll eigentlich wen retten?
Alle Sympathien fließen dem Vater zu, der als Dauerstalker in seinen Verkleidungen der Tochter so hartnäckig folgt, als müsse die Lücke, die der Tod des Hundes gerissen hat, nun mit der Tochter gefüllt werden. Er besucht sie nicht, er sucht sie heim, er will etwas von ihr. Nicht einfach ihre Zuneigung. Es ist wohl jedem Vater in der Welt klar, dass man die Zuneigung der Tochter nicht bekommt, wenn man sie mit Handschellen an sich fesselt, die erst ein rumänischer Schlosser wieder sprengen kann. Das ist ja ein starkes Symbol. Er stalkt sie, buchstäblich. Und dieses Stalking wird vom Zuschauer genossen: „Recht geschieht ihr.“ Warum treibt sie sich auch in dieser Welt herum? Die Tochter in ihren Arbeitszusammenhängen zu stören, sie zu seiner Sekretärin zu degradieren, all dies sind verspätete Zwangs- und Erziehungsmaßnahmen, die wir gern genießen, denn die Welt der globalisierten Finanzökonomie ist eine, die uns allen total unbehaglich bis widerwärtig ist. Hier ist nichts ‘wesentlich‘. Aber diese englisch globalisierten Businessformeln in und um die Arbeit herum, in denen es entweder um finanzielle Optimierung geht oder um Shopping, in dem diese Optimierung wieder verschwendet wird, sind der kleinste gemeinsame Nenner für Menschen unterschiedlicher Kulturen. In ihrer schablonisierten Freundlichkeit steckt immerhin das Bemühen um einen gewaltfreien Umgang von Menschen, die außer ihrer Arbeit nicht durch gemeinsame Erinnerungen oder Kultur miteinander verbunden sind. Das ist nicht wenig, denn die andere globalisierte Sprache ist die der Gewalt.
Wenn man schon diese Welt nicht mehr erziehen kann, dann wenigstens die Tochter. Der Film wirft einen scharfen Blick auf die Tochter und ihre Umgebung und verlockt dazu, Ines als eine vom Kapitalismus sich selbst entfremdete Karrierefrau zu sehen. So können wir unseren politischen Widerwillen an den Zumutungen der neoliberalen Gegenwart moralisch auf ihr abladen. Die Effizienz einer Abhängigen in einem falschen System wird so zur Eiseskälte. Es ist ungewöhnlich und neu, dass der Turbokapitalismus am Bild einer Frau gezeigt wird. Das bereitet doppeltes Unbehagen, hat aber gleichzeitig auch eine Entlastungsfunktion. Denn sollten Frauen nicht doch stärker immun sein gegen die Zumutungen einer solchen Welt? Sind sie nicht nach wie vor Trägerinnen des Gefühls und der besseren Moral? Ist diese Tochter nicht deswegen ‚seelisch erkaltet’, weil wir unbewusst von ihr erwarten, dass sie zur Heldin wider das System wird und damit auch die unausgesprochene Delegation des Vaters annimmt? Söhne sind kleine Gordon Gekkos, schwarze Helden des Bösen, die man mit dem wohligen Gefühl des Grusels, aber auch fasziniert betrachten kann. Hätte man Gordon Gekko in Wallstreet vorgeworfen, dass er seinen Vater nicht anruft?
Wenn dieser Vater seinen Sohn derart gestalkt hätte, hätten wir so viel schneller gemerkt, dass er ein hilfloser Terrorist ist, wie die Szene auf dem Ölfeld sehr genau zeigt. Seine Zwangsbespaßung kann zwar Ines stören und uns erheitern, aber das bleibt eine momentane Peinlichkeit. Der anarchische Ausnahmezustand ändert weder unsere gesellschaftliche Situation noch ihr Leben. Am Ende des Films arbeitet sie nicht mehr in Rumänien, sondern in Singapur, wo ein solches Leben wie ihres der normale Alltag ist. Und dieser kindliche Spaßterrorismus, der hier zur privaten Waffe wird, ist in anderen öffentlichen Formen ebenso Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, weil er die andere Seite des Funktionalen ist und auf Events und Festivals lustvoll zelebriert wird.
Aber es geht da noch um etwas anderes, was unser aller Herz schmelzen lässt, besonders wenn wir im Kino sitzen: die Frage nach dem Glück. Subtil verbindet der Film eine Frage des Vaters an seine Tochter mit ihrer Antwort: mal ins Kino gehen. Denn der einzige Ort, wo uns ständig das Glück versprochen wird, ist, außer der Werbung, eben dieses Mainstream-Kino, wenn es von Frauen erzählt. Ines gehört zur Generation der ernüchterten Frauen, die dieses Glücksversprechen nicht mehr glauben. Da ist sie offensichtlich erwachsener als ihr Vater. Und langsam enthüllt sich auch sein Rettungsunternehmen als der hartnäckige Versuch, nicht wahrzuhaben, wie erwachsen diese Tochter ist.
Mir kam direkt nach dem Film der US-Animationsfilm Alles steht Kopf in den Sinn. Die 11-jährige Riley ist tief unglücklich nach dem Umzug in eine fremde Stadt und der hilflose Vater versucht es mit den alten Mitteln: Quatschmachen, den Affen spielen, grunzen und mit den Ohren wackeln. Der Blick der Tochter ist pure Verachtung. Der Umzug und die Entfernung von ihren alten Freunden hat mit einem Schlag ihre Kindheit beendet, und damit ist auch die „Quatschmachinsel“ untergegangen. Die Spiele von Ines Vater sind die, die man von Kindergeburtstagen kennt. Dass das auch für sie vorbei ist, teilt Ines ihm mit in der herausgeschrienen Travestie des Liedes »Greatest love of all«. Sie will in niemandes Schatten leben und keine Delegation erfüllen. Die Käsereibe ist kein Gegenentwurf gegen das Leben, das sie führt.
Als der Vater sich gegen Ende in ein Zottelmonster verwandelt, läuft die Tochter ihm im Bademantel und barfuss in den Park nach. Es ist das einzige Mal, dass sie dem Vater in die Arme fällt. Der Preis dieser Versöhnung ist die Regression zum Kind. Michael André hat in getidan von einer trügerischen Versöhnung geschrieben. Aber es geht hier nicht um eine Versöhnung, denn es hat ja keinen Streit gegeben, dazu hätte es der Worte und der Standpunkte bedurft. Die Umarmung ist der Versuch, eine Entfremdung aufzuheben. Doch die ‘entlaufene Tochter’ liegt in den Armen eines Kuscheltiers ohne Gesicht. Und auch sie hat kein Gesicht, wie das Filmplakat noch einmal betont. Hier umarmt eine Frau noch nicht mal wirklich ihren Vater, sondern ihre Kindheit. Ohne ein weiteres Wort trennen sich Tochter und Vater, sie haben sich eigentlich nichts zu sagen. Hier haben sich nicht zwei Erwachsene umarmt, die sich entfremdet haben und nun versuchen, diese Entfremdung aufzuheben. Dazu wäre das Miteinanderreden nötig, hier oder später. Entfremdung ist unausweichlich, wenn Kinder erwachsen werden und eine Beziehung kann erst wieder hergestellt werden darüber, dass Eltern und Kinder sich auf Augenhöhe begegnen und sich so neu kennenlernen, die alten Gefühle aufgehoben sind in einem neuen Interesse füreinander.
Der Film wirft einen scharfen Blick auf die Tochter und ihre Umgebung und er wirft einen kindlichen Blick auf das, was wir unter Familie verstehen. Es ist ein Bild von Familie, in dem die Kinder ewig Kinder bleiben müssen, weil der Sinn von Familie sonst verloren geht. Kinder werden erwachsen und Plüsch- und Zotteltiere helfen da nicht mehr, sie verfestigen nur die Infantilisierung von Gefühlen. Wenn man darin eine Dysfunktionalität von Familie sieht, dann hofft man weiterhin und gegen alle Erfahrungen auf sie als Rettungsinstanz vor den Zumutungen der neoliberalen, internationalen Businesswelt, in die Ines sich aufgemacht hat, weil das ein Bereich ist, in dem sie ihre Fähigkeiten jenseits von Käsereiben einsetzen kann. Wenn die Familie eine Zuflucht werden soll vor dem Absolutheitsanspruch kapitalistischer Verwertungsmechanismen und kommunikativer Nützlichkeitserwägungen, dann muss in ihr geredet werden. Auch über Gefühle. Aber es gibt im deutschen Film, wie auch in einem großen Teil der deutschen Kultur, das Missverständnis, dass Gefühle nur dann tief sind, wenn sie nicht ausgesprochen werden. Intellektualität ist in Deutschland noch immer als Zersetzung von Gefühlen gefürchtet, sie stört das schummerige Dunkel, in dem es sich gut munkeln lässt. Eine Auseinandersetzung über das, was die Tochter da macht, würde im französischen Film stattfinden, dessen Figuren ja immer viel erwachsener waren.
Der Film beginnt und endet in der Familie, aus der Ines dann doch wieder verschwindet, dieses Mal nach Singapur. Noch weiter weg. Die Familie ist ehrfürchtig befremdet. Aber dieses Modell an Familie ist nicht mehr unumstritten und das treibt Konservative und Reaktionäre aller Couleur auf die politischen Barrikaden. Die patriarchale Ordnung ist in Gefahr, wenn die Töchter, die früher als Mütter immer wieder von neuem das stabilisierende Herz der Familie waren, inzwischen als Menschen ihre eigenen Wege gehen. Es ist nicht nebensächlich, dass der Mensch, der hier an Ines Tür klopft, ein 68-Vater ist und keine 68-Mutter. Sie wäre vielleicht nicht weniger penetrant gewesen, aber auf eine ganz andere Weise. Sie hätte wohl aus eigenem Erleben verstanden, dass Frauen mit einer Ambivalenz fertig werden müssen, seit es so etwas wie Emanzipation gibt. Von diesem Moment an war die Welt für die Frauen ein kalter Ort. Dass sie in dieser Kälte ihre Kräfte ausprobieren mussten und wollten, diese Ambivalenz hatten sie schon immer ausgehalten. Die humanistischen Ideale des Vaters haben im Jutebeutel Platz, direkt neben den Utensilien der Clownerei.
Neben der großen Nacktszene ist eine Sexszene Schlüsselszene des Films. Hier wird wie in einem Brennglas alles Mögliche gebündelt. Ihr Liebhaber zielt, von ihr aufgefordert, onanierend auf ein Törtchen. Das ist die Verschiebung des kindlichen Jungenspiels, wer am weitesten zielen kann. Dann: Ines isst dann das Törtchen mit dem Sperma, das als ein Objekt der Sexualität etwas Verworfenes ist, die Frau verwertet, was der Mann verspritzt. Das wäre ein Kommentar zur neuen Lage an der Front von Mann und Frau. Weiter: so verweigert Ines sich der Reproduktion und der Käsereibe und vielleicht hat das, unausgesprochen, auch zu dem Urteil über ihre Seelenlosigkeit beigetragen. Und letzten Endes kann man sagen: In dieser Verflechtung von politischer Ökonomie und sexuellem Begehren ist die Perversion des Systems bis in das Privatleben vorgedrungen, das wäre die politische Aussage. Wie auch immer: Da ist der Film schärfer, härter und genauer als alles, was ich bisher gesehen habe. Aber offensichtlich funktioniert die Szene wie ein Schmuggelgut, ich habe keine Rezension gefunden, in der sie eine Rolle gespielt hätte, außer man sieht sie wie Michael André als grotesken Ausdruck einer erkaltenden Beziehung.
Ein solcher Konsens zwischen den nationalen Kritikern, der internationalen Filmkritik und dem Markt ist höchst selten. Ein paar Abweichler hat es aber doch gegeben. Christoph Hochhäusler hat sein Unbehagen an der Motivlinie der Eigentlichkeit formuliert, die er als Gegensatz von Unternehmerwelt und dem primitiven Rumänien sieht. Ich sehe es eher in dem Gegensatz zwischen der Unternehmerwelt und dem biographischen Ort der Kindheit. Lukas Foerster ist die versöhnliche Schlagseite des Films nicht geheuer und Philip Stadelmeier in der SZ hat geschrieben, vor den Zumutungen dieser Welt helfe kein Gefühl und auch kein sanfter, parodistischer Begleiter, es müsste eher ein Vampir mit echten Zähnen sein als ein Scherzkeks à la Horst Schlämmer. Der große Konsens der vielen kommt wahrscheinlich aus Maren Ades Mischung von großer Genauigkeit in der Beschreibung so vieler unserer bedrückenden Erfahrungen und ihrem Willen, sie in Komik und Melancholie aufzulösen. Natürlich wissen wir, wie viel Abgrund im Lachen steckt und was an Unbehagen damit abgeführt wird. Aber fehlt es dem Film dann an letzter wirklich anarchischer Kraft, an Leidenschaft, an Bedeutung, wenn seine komische Seite verpufft ist? Wir sind ja nicht bei Jerry Lewis, dessen Komik nichts mit Psychologie zu tun hat, hier geht es ja um Dinge, in die wir alle verstrickt sind. Klar ist aber, kindliche Gefühle helfen in dieser Lage nicht weiter. In Kuscheltieren, Smileys und Emois sind sie schon längst in den Verwertungszusammenhang eingespeist worden und sei es als infantiles Opium. Es hilft nur ein klarer Kopf und ein messerscharfer Verstand. Vielleicht wäre das der utopische Rest gewesen, wenn der Film das auch noch gezeigt hätte, und sei es in seiner Form.