D/Ö 2016 · 162 min. · FSK: ab 12 Regie: Maren Ade Drehbuch: Maren Ade Kamera: Patrick Orth Darsteller: Peter Simonischek, Sandra Hüller, Michael Wittenborn, Thomas Loibl, Trystan Pütter u.a. |
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Dysfunktionale Familie meets dysfunktionale Wirtschaft |
Über Maren Ades Toni Erdmann ist gerade wegen seiner ebenso fulminanten Rezeption bei der Kritik wie seines aufsehenerregenden Scheiterns vor der Jury in Cannes – auch bei uns auf artechock – viel geschrieben worden. Tatsächlich dürfte Toni Erdmann trotz der dadurch erzeugten Erwartungshaltungen dennoch bestehen, vor denen, die den Film lieben, wie vor denen, die den Rummel darum nicht ganz nachvollziehen können. Denn Ades Kammerspiel um den pensionierten Alt-68er Winfried Conradi (Peter Simonischek) und seine in Bukarest als Unternehmensberatin an ihrer Karriere werkelnden Tochter Ines (Sandra Hüller) ist zum einen wirklich nichts Neues und ist doch ein toller Film: nicht nur eine schauspielerisch fulminant umgesetzte familiäre Tragikkomödie, sondern auch eine bitterkomische Kritik an unserer neoliberal verankerten, wirtschaftlichen Gegenwart.
Thematisch steht Toni Erdmann damit tatsächlich nicht allein auf weiter Flur. Ähnlich wie in der Wissenschaft, wenn oft zeitgleich und völlig unabhängig voneinander innovative Ideen parallel entwickelt werden, ist es auch beim Film. Man denke etwa an die Welle von Filmen, die 2014 nahezu zeitgleich den Tod des Vaters und eine persönliche Lebensrückschau miteinander verflochten. Aber sowohl David Dobkins Der Richter, Shawn Levys This Is Where I Leave You und Zach Braffs Wish I Was Here arbeiteten mit völlig unterschiedlichen erzählerischen Schwerpunkten und ästhetischen Mitteln.
Ähnlich ist es bei Maren Ades Porträt einer dysfunktionalen Vater-Tochter-Beziehung. Läßt sich Ade für ihren thematischen Schwerpunkt fast drei Stunden Zeit, um gestörte Beziehungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten aufzubereiten, benötigt Dany Levy in seiner im Oktober anlaufenden Screwball-Version dieses Themas, Die Welt Der Wunderlichs, mit dem gleichen Hauptdarsteller in der Rolle des grenzüberschreitenden Vaters (Peter Simonischek), nur 100 Minuten. Aber sowohl Ades als auch Levys und dann auch Jason Batemans ebenfalls in diesem Jahr startender Family Fang – und nicht zuletzt Kill Soloways großartige Serie Transparent – ist vor allem eins gemeinsam: die hier alle Grenzen überschreitenden alten Väter lassen sich nicht mehr so einfach in eine bildungsferne Wirklichkeit verdrängen, so wie in der ebenfalls mit dieser Thematik spielenden Serie Shameless. Es sind vielmehr die Väter der bildungsbürgerlichen Mittelschicht, die hier ein letztes Mal vor ihrem Ableben noch einmal aufdrehen, um von ihren im Laufe der Jahre verpulverten Idealen zu retten, was noch zu retten ist und dabei nicht vor grenzwertigen Übergriffen auf die eigenen Kinder zurückzuschrecken.
Vor allem Ade gelingt es dabei, nicht nur die fragile Balance zwischen Vater und Tochter über aufregende, um Wirklichkeit und Authentizität ringende Dialoge transparent zu machen, sondern auch bis zum Ende damit durchzuhalten und zu zeigen, dass dieser Konflikt nicht endlich ist, dass es also kein Happy End, aber wohl immer wieder mal bessere Zeiten geben wird – so lange man nicht aufhört miteinander zu reden, so lange man nicht aufhört sich zu wehren, so lange man nicht aufhört gegen- und miteinander zu kämpfen. Work in progress, bis zum Ende. Und Recht hat dann auch jeder, mit seinem Entwurf von dem, was ein ehrliches, erfülltes Leben ist. Ungewöhnlich und überraschend ist, dass es Ade gelingt, diese Ambiguität nicht nur in großartige Dialoge zu überführen, sondern immer wieder auch ins Groteske und Komische und dann auch noch Momente poetischer, eindringlicher und berührender Schönheit zuzulassen – wie etwa das Duett von Toni Erdmann und Whitney Schnuck.
Mag Toni Erdmann also nur Teil einer filmtherapeutischen Welle zur Lösung von Konflikten zwischen dysfunktionalen Eltern und ihren erwachsenen Kindern sein, so gibt er dieser Welle doch eine ganz besondere Wucht. Nicht nur wegen der gerade ausgeführten Ambiguität und Komplexität, sondern fast mehr noch durch seine »Handschrift«. Denn schien sich Maren Ade letzter Film, Alle Anderen, in seiner apolitischen, mittelmäßigen Beziehungsalltag in den Mittelpunkt stellenden Haltung, noch ganz und gar der Berliner Schule verschrieben zu haben, geht Toni Erdmann einen Schritt weiter, in irgendwie vertrautes – Neuland. Denn hatte die Berliner Schule mit ihren Referenzen auf den Neuen Deutschen Film fast stets dessen Sozialkritik und utopisches Potential ausgeklammert, besinnt sich Ade in Toni Erdmann gerade auf diese Tugenden und nimmt sich einfach das beste aus beiden Welten.
Vielleicht deshalb sieht sich Toni Erdmann mit seiner ruhigen, langsamen Fokussierung auf seine Charaktere, seinem Ringen um Freiheit, Selbstbestimmung, Entfremdung und Traditionsverlust, aber mit der durchaus handfesten Ahnung von einem Neubeginn bei aller Gegenwärtigkeit immer wieder auch wie ein wilder, aus der Vergangenheit in die Gegenwart geschleuderter, wunderbar erweiterter Remix aus dem Geist der Berliner Schule und des Neuen Deutschen Films. So wie ein Flackern aus einer anderen Zeit, ein Flimmern aus Werner Herzogs Stroszek und Wim Wenders Im Lauf der Zeit – und all den anderen.