17.11.2016

Die Hinwen­dung zur Welt oder: Adorno hat es gut gemeint

Ik ben Alice
So in etwa sollte man sich den Weltschmerz-Verdrängungskonsum vorstellen. Noch Fragen? Dann bitte What Happens In Your Brain If You See a German Word Like… ansehen.

Dokumentarfilme auf dem 36. Filmschoolfest Munich

Von Dunja Bialas

Über den filmische Nachwuchs wird oft gejammert. Mit der Verschu­lung ihrer Ausbil­dung hätten sie kaum Gele­gen­heit, die Welt kennen­zu­lernen. Gerade im Doku­men­tar­film­be­reich wird bisweilen die Welt­fremd­heit spürbar, wenn keine Zeit mehr für Recherche-Reisen bleibt und Exposés auf der Basis von Google-Earth und Zeitungs­ar­chiven entstehen. Wie also lässt sich von der Welt erzählen, wenn die Ausbil­dung drängt? Die Doku­men­tar­filme des 36. Inter­na­tio­nalen Festivals der Film­hoch­schulen, kurz Film­school­fest Munich, beweisen, wie sich Span­nendes direkt vor der Haustür und über die eigene Lebens­welt finden lassen. Leute, es muss nicht immer Süda­me­rika oder Indien sein!

Das Unsicht­bare unserer Lebens­welt zu zeigen ist die große Kunst des Filme­ma­chens und sollte ein grund­le­gender Antrieb sein, Doku­men­tar­filme zu machen. Davon berichten die Werke, die noch bis Samstag auf dem Festival der Nach­wuchs­filmer im Münchner Film­mu­seum zu sehen sind. Besonders stark sind die beiden Portraits My Silicone Love und Julian. Beide wenden sich irgendwie verschro­benen Personen zu, die in einer Art Paral­lel­welt leben, mit recht skurillen Hobbys. Sophie Dros von der Nieder­län­di­schen Film­aka­demie in Amsterdam hat den, im realen Leben vermut­lich locker mal als »pervers« einge­stuften Evedard in England mit ihrer Kamera begleitet, der eine sehr unheim­liche und nekrophil anmutende Liebe zu lebens­großen Puppen pflegt. Damit ist er nicht allein, ein Treffen mit Gleich­ge­sinnten – einem Biker-Treffen nicht unähnlich – zeigt, wie hier Puppen aufgetunt werden, die dann im Spei­se­saal mit am Tisch sitzen. Mit anderen ist man eigent­lich gar nicht so gerne zusammen, am liebsten schweigt man sich mit der Ange­be­teten an. Das ist erhellend, entlar­vend und erzählt still­schwei­gend von einer funda­men­talen Sehnsucht nach dem Bei-sich-Sein in unserer modernen Gesell­schaft. Sophie Dros hat darüber hinaus zu einer sehr stil­si­cheren Film­sprache gefunden und balan­ciert Distanz und Nähe zu ihrem Prot­ago­nisten, den sie als distin­gu­ierten und respek­ta­blen Menschen zeigt. (Zu sehen am Freitag, 18.11., Programm 7, 14:30 Uhr, Film­mu­seum München)

So etwas wie Everards Gegen­spieler ist der Exil-Kanadier Julian. Er lebt in Zürich auf einem brach­lie­genden Zwischen­nut­zungs-Areal in einer Werkstatt lebt, in der er in Hand­ar­beit Cembalos baut. Julian ist ein Über­le­bens­künstler, ein drahtiger Kerl, der sich einen Dreck um Konven­tionen und das gesell­schaft­liche Leben schert, und lebt in völliger Zufrie­den­heit in der Werkstatt zwischen Sägespäne und Werk­zeug­bergen. Die Räumung des Areals aber steht bevor, und Julian wird nach Kanada zurück­gehen. Julia Furer (Hoch­schule Luzern) hat ein sehr fein­sin­niges Portrait geschaffen, das subkutan von der Tragik unserer normierten Lebens­welt erzählt: für Menschen wie Julian, ohnehin schon am Rand der Gesell­schaft, ist in unserer modernen Perfor­mance-Welt immer weniger Platz. Sie werden sie im Zuge von Gentri­fi­zie­rung und Opti­mie­rung, die Freiräume und die terrains vagues offener Lebens­ent­würfe nicht duldet, ausge­spült. (Freitag, 18.11., Programm 8, 17:00 Uhr, Film­mu­seum München)

Was liegt den digital natives näher, als Filme mit und übers Handy zu machen? Zwei Filme zeigen, wie die Tech­no­logie unser Leben bestimmt. Der finnische Blessings von Lisa Myllymäki (UAS Metro­polia Depart­ment of Media) zeigt das ganz normale Leben einer Sech­zehn­jäh­rigen. Machen wir es kurz: der erste und der letzte Blick gilt dem Handy, der Tag wird getaktet von Whatsup, Snapshot, Selfies & Co. Die zeigt sich als Poesie des Alltags und einem ständigen Kontakt­halten mit den Freun­dinnen. Wie soll man nun eine solch kurz­le­bige Kommu­ni­ka­tion abbilden? Lisa Myllymäki verlegt sich auf Inserts, die im Bild aufpoppen. Irgend­wann verliert man die Orien­tie­rung, wer jetzt alles am Chat beteiligt ist: Der perma­nente Beschuss mit ultra­kurzen Messages zeigt auch das unre­flek­tierte Vertauen aufs Medium, das sich in einen gruse­ligen Overkill hinein­stei­gert.

Von den Jungen müssen die Alten lernen. Und ja, es ist sehr amüsant zuzusehen, wie die digital immi­grants, die man sich als Zeitrei­sende aus der Vergan­gen­heit denken kann, in dem gleich­na­migen Film die Bedienung von Computern und Handys erlernen. Der Senio­ren­sektor hat es ja viel­leicht gar nicht mehr nötig, das mit den E-Mails und den SMS, mit Blick auf Blessings aber wissen wir: Wenn sie Kontakt zu ihren Enkeln halten wollen, ist es dringend geboten, dass sie sich schlau machen. Dennis Stauffer von der Zürcher Hoch­schule für Künste schneidet zwischen die Lern­stunden der Senioren erhel­lendes Archiv­ma­te­rial aus den Anfängen von Computer und, wie die Schweizer sagen, »Nahtel« & Co. (immer wieder toll: Handys in der Größe eines Hunde­kno­chens, Commodore, MS-Dos-Ober­fläche und die ersten Apple-Computer), das zeigt, dass die Alten sich gar nicht so anstellen müssen: Die Zukunft hatte schon in ihrer Jugend begonnen. (Donnerstag, 17.11., Programm 6, 22:00 Uhr, Film­mu­seum München)

Der Film mit dem längsten Titel des Festivals stammt aus der Kelemen-Klasse der dffb Berlin und zeigt mal wieder, dass es keinen Grund gibt, Expe­ri­men­tal­film für den schwer konsu­mier­baren Free-Jazz unter den Film­formen zu halten. Zora Rux' What Happens In Your Brain If You See a German Word Like… wendet sich dem parodierten Begriffs­ge­bäude von Adorno zu, das sie ganz und gar beim Wort nimmt, um daraus ein Ungetüm des zusam­men­ge­setzten Substan­tivs zu visua­li­sieren. Der Film könnte locker als heitere Einfüh­rung in die Philo­so­phie durch­gehen und ist in mehreren Varianten vorstellbar: als Anschau­lich­ma­chen der Abschat­tungen von Husserl, oder auch sprach­kri­tisch als avant­gar­dis­ti­sche Speer­spitzen gegen Denglisch und Neusprech: Immer wieder gerne! (Freitag, 18.11., Programm 7, 14:30 Uhr, Film­mu­seum München)

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36. Film­school­fest Munich, 13.-19.11.2016, Film­mu­seum München
Mehr Infor­ma­tionen gibt es hier: www.film­school­fest-munich.de