Das Sonnengeflecht Europas |
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Einer der rasantesten Filme des Jahres: 11 Minutes des polnischen Regiemeisters Jerzy Skolimowski |
Von Dunja Bialas
Die Mitte: Das ist ein wunderbarer Film des Polen Stanislaw Mucha, der sich 2004 mit seinem Team auf die Suche nach der geographischen Mitte Europas macht. Ein Dutzend Orte im Umkreis von 2000 Kilometern, zwischen Teutoburger Wald und der Ukraine, erheben den Anspruch, eine heitere Bestandsaufnahme eines Phänomens voller Widersprüche.
Die Mitte Europas in den Blick nimmt auch das neue Münchner Festival »Mittel Punkt Europa«, die weg wollen von der im allgemeinen auf Westeuropa gerichteten Zentralperspektive und all die Länder in den Fokus rücken, die Europas Sonnengeflecht bilden: Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei. Ein grenzüberschreitendes und das Blickfeld erweiterndes Unterfangen, das das seit ein paar Jahren in München existierende polnische Filmfestival Cinepol ergänzt.
Dabei geht es stets auch um den Dialog, um das Über- oder Transnationale, was sehr wohltuend anmutet, angesichts des beunruhigenden Rechtsrucks, der in Ländern wie Polen und Ungarn passiert. Die ausgewählten Filme geben Auskunft über Mentalitäten, nehmen die eigene Nationalidentität aufs Korn oder zeigen schwierige Wege bei der Identitätsfindung, was in den nur partiell offenen Gesellschaften der Länder auch problematisch werden kann. Eine Diskussion über die Sichtbarkeit osteuropäischer Filme in den deutschen Kinos greift ein dringendes Thema auf, das weitreichender ist als bloße Cinephilie. Denn wenn wir von den Kulturen im Osten nur noch die Nachrichten mitbekommen, vergessen wir die Menschen mit ihren Problemen, ihrem Humor, ihrem Charisma. Abseits vom Festival Cottbus, dem Neiße-Festival im Dreiländereck Tschechien-Polen-Deutschland und dem vom Deutschen Filminstitut etablierten goEast-Festival im westlichen Wiesbaden gibt es in Deutschland kaum Gelegenheit einen umfassenden Einblick in das osteuropäische Filmschaffen zu erhalten. Warum das so ist, darüber machen sich am Sonntag die ungarische Regisseurin Krisztina Goda, der tschechische Filmkritker Radovan Holub und Volker Petzold vom Cottbusser Filmfestival Gedanken (27.11., 16:30 Uhr).
The Snake Brothers (25.11., 19:00 Uhr). Der Publikumsliebling und zum Besten Film des Jahres 2015 gekürte Beitrag des Tschechen Jan Prusinovksy erzählt heiter-lakonisch von dem Bruderpaar Viper und Cobra. Der eine ist sozial benachteiligt (ohne Job und Freundin), der andere ein Junkie, der sein Leben nicht in den Griff bekommt. Zu sehen ist die Generation der upcoming Stars, die mit viel Wucht und ohne Depression die grandiosen trouble maker abgeben.
All These Sleepless Nights (25.11., 21:00 Uhr). Inszenierter Dokumentarfilm über zwei Kunststudenten, die nachts um die Häuser Warschaus ziehen. Eine Ode an die Stadt an der Weichsel und an das Leben der Schlaflosen. Der Film des jungen Michel Marczak gewann den Preis für die Beste Dokumentation in Sundance und war Publikumsliebling in Breslau.
Home Guards (26.11., 21:00 Uhr, die Regisseurin ist zu Gast). Zwei Brüder, diesmal in Ungarn, die wie im tschechischen Zwillingsfilm The Snake Brothers ohne Perspektive sind. Sie schließen sich einer paramilitärischen Organisation an, die erschreckend deutlich macht, wie Manipulation funktioniert. Ein hochaktuell und brisanter Thriller von Krisztina Goda.
11 Minutes (27.11., 19:00 Uhr). Der atemberaubendste und aufregendste Film des Jahres über die schicksalhaftesten elf Minuten aller Zeiten. Der polnische Regiemeister Jerzy Skolimowski erzählt aus verschiedenen Perspektiven, wie es zu einem fatalen Ereignis kommen konnte – das sich innerhalb von elf Minuten entwickelt, tragisch und unausweichlich wie dieser Film. Jerzy Skolimowski erhielt dieses Jahr bei den Filmfestspielen von Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Wir hoffen auf eine baldige Retrospektive im Münchner Filmmuseum.
It’s Not the Time of My Life (29.11. 19:00 Uhr). Beim Festival Karlovy Vary werden jedes Jahr die Kandidaten für den europäischen LUX verkündet, und es ist unbestreitbar eines der wichtigsten, weil weichenstellenden Filmfestivals Europas. Der Film des Ungarn Szabolcs Hajdu war 2016 der Siegerfilm und stellt die aktuelle Frage, wie es weitergehen kann, wenn es mit der Auswanderung nicht geklappt hat. Ein Kammerspiel, in dem sich eine Familie verbal zerfleischt. Eindringlich und mit großer Kunst gedreht.
Mittel Punkt Europa Filmfest – aktuelle Filme aus den Visegrad-Ländern Polen, Teschechien, Ungarn, Slowakei. 23.-29.11.2016, Monopol Kino München. Mehr Informationen unter www.mittelpunkteuropa.eu
Eine Veranstaltung von Ahoj Nachbarn, der Münchener Volkshochschule und dem Tschechischen Zentrum. Gefördert von Visegrad Fund un dem
Kulturreferat der LH München.