Argentinien schläft nicht |
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Grandioses Kammerspiel: Pablo Agüeros Eva no duerme |
Die argentinische Filmproduktion war neben der mexikanischen immer schon eine der größten und bedeutendsten in ganz Lateinamerika, und zwar sowohl in wirtschaftlicher wie kreativer Hinsicht. Auch die große künstlerische Erneuerung des lateinamerikanischen Kinos um die Jahrtausendwende ging vor allem von diesen beiden Ländern aus. In Argentinien waren es Regisseure und Regisseurinnen wie Raúl Perrone, Lisandro Alonso, Pablo Trapero oder Lucrecia Martel, die mit
ihrer Rückbesinnung auf genuin filmische Ausdrucksmittel nicht nur auf den einschlägigen internationalen Festivals weltweite cineastische Aufmerksamkeit und Bewunderung erlangen konnten.
Ganz im Sinne dieser Leitfunktion richten die Lateinamerikanischen Filmtage München dieses Jahr den Blick exklusiv auf das Filmland Argentinien und können unter Beweis stellen, dass Argentinien auch heute noch über eine reiche Vielfalt an filmischen Stimmen und Positionen
verfügt.
Stellvertretend für die Anfänge des »Nuevo cine argentino« (des neuen argentinischen Kinos, vgl. zu dem Phänomen die grundlegenden Publikationen der Filmhistoriker Gonzalo Aguilar: Otros mundos 2006 und Jens Andermann: New Argentine Cinema 2012) und als Signal steht bei den lateinamerikanischen Filmtagen La Ciénaga – Morast von Lucrecia Martel aus dem Jahr 2001 im Programm. Wer Martels ersten langen Spielfilm noch nicht kennt, sollte die Gelegenheit nicht versäumen, diese meisterliche filmpoetische Darstellung einer zwischen Stagnation und Regression sich zersetzenden Familie in der Provinz Salta im Norden des Landes auf der Kinoleinwand zu erleben. (La Ciénaga – Morast, 24.11., 22:00 Uhr, 26.11., 20:00 Uhr, Werkstattkino)
Den diesjährigen Eröffnungsfilm, Adiós entusiasmo von Vladimir Durán, kann man als thematisch verwandtes Seitenstück zu Martels Debüt verstehen. Auch hier wird eine Familie (diesmal in Buenos Aires) zum geschlossenen Mikrokosmos, an dem sich die Symptome einer krisenhaften Entwicklung in der Gesellschaft ablesen lassen. Es ist befremdlich und beklemmend, wie in diesem Film mit einer abnormen Situation als alltäglicher Normalität umgegangen wird: die Mutter der Familie ist innerhalb der Wohnung in einem Zimmer eingesperrt. Die erwachsenen Töchter und der kleine Alex kommunizieren mit ihr nur durch die verschlossene Tür und über eine schmale Durchreiche vom Badezimmer aus, über die sie die Mutter mit Kleidung, Decken und Essen versorgen. Als wieder einmal der Geburtstag der Mutter bevorsteht, kommt es zu komplizierten Verwicklungen, an deren Ende potentielle Liebhaber der Töchter und andere Gäste (Verwandte und Freunde) in einer gleichermaßen improvisierten und ritualisierten Feier zusammenkommen.
Man sucht ständig nach einer schlüssigen Deutungsmöglichkeit für die Situation: Warum etwa beginnen die Vornamen der Töchter und des Sohns alle mit dem Buchstaben A? Ist das ein Verweis auf die Nation Argentinien? Der Film bezieht aber seine starke Wirkung gerade daraus, dass man das dargebotene Szenario einfach so hinzunehmen hat, wie es ist: Familie als absurdes Theater psychischer Deformationen, in das unter anderem soziale Faktoren hineinwirken, ohne dass ein eindeutiger Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu konstruieren wäre. (Adiós entusiasmo, 23.11. 18:45 und 21:15 Uhr, Wdh. 25.11., 22:30 Uhr, Werkstattkino)
Eine andere Spielart des großstädtischen Beziehungskosmos in Buenos Aires bietet Matías Piñeiro in La Princesa de Francia mit amourösen Tändeleien um Víctor, der es mit fünf Frauen zu tun hat, seiner Ex, seiner aktuellen Freundin, einer womöglich zukünftigen Freundin oder Geliebten oder wie auch immer. Die titelgebende Prinzessin aus Frankreich jedenfalls stammt aus dem Shakespeare-Stück »Love’s Labour’s Lost«, das Víctor für eine Radiofassung adaptiert und nun mit den ihn umgebenden Frauen und Freundinnen einspielt. Es entwickelt sich ein Reigen, der wegen seiner wortreichen Verwirrungen mit Eric Rohmer und wegen seiner Theaterbezüge mit Jacques Rivette vergleichbar ist. Die durchchoreographierte Struktur von wiederholt variierten Situationen in unterschiedlicher Besetzung lässt auch an den Südkoreaner Hong Sang-soo und dessen verzweifelt-komische Beziehungsdesaster denken.
Was aber Piñeiros Vexierspiel mit Shakespeare (er hat unter anderem noch drei weitere Filme in lockerer Anlehnung an dessen Stücke in seiner Filmographie) zu einem ganz und gar eigenwilligen Vergnügen macht, ist die ironische Bezugnahme auf den bourgeois-schwülstigen Akademismus des französischen Malers William Adolphe Bouguereau. Von dessen Gemälden mit lasziven Nymphenträumen aus dem späten 19. Jahrhundert hängen ein paar in Buenos Aires im Museo de Bellas Artes, in dem dann auch Szenen des Films spielen. Immer wieder diskutieren Víctor und seine ihm zusehends über den Kopf wachsenden Gefährtinnen das von diesen Malereien vermittelte Frauenbild und versuchen, damit ihre eigenen Vorlieben abzugleichen. (La Princesa de Francia, 24.11., 18:15, Wdh. 29.11., 20:00 Uhr, Werkstattkino)
Neben solch feinsinniger Beziehungschoreographie bieten die Lateinamerikanischen Filmtage dieses Mal auch wieder handfestes und ergreifendes Erzählkino, in dem der Ikonografie typisch argentinischer Regionen eine nicht unbeträchtliche Rolle zukommt.
In El Invierno, dem erstaunlich reifen und sicheren Erstlingsfilm von Emiliano Torres, ist es die in
eindrücklichen Bildern vermittelte raue patagonische Winterlandschaft, vor deren Hintergrund sich mit archaischer Wucht und latenter Gewalt ein Generationenkonflikt um den von einem Jüngeren abgelösten älteren Vorarbeiter auf einer abgelegenen Schafzüchterfarm entspinnt. (25.11., 20:30 Uhr, Werkstattkino)
In La Novia del Desierto, der ersten Arbeit der beiden Regisseurinnen Cecilia Atán und Valeria Pivato, findet Teresa, die sich ihr Leben lang als treue Dienstmagd in Buenos Aires aufgeopfert hat, unverhofft einen Neuanfang fern der Metropole, in der Provinz San Luis im äußersten Westen des Landes. Der Weg dorthin führt durch wüstenhafte Landstriche; in einer einfühlsamen und behutsamen Anpassung des Musters des Roadmovies wird die Fahrt für Teresa zu einer Initiation in einen neuen Lebensabschnitt. Paulina García, die in ihrer Rolle als Gloria (2013) im gleichnamigen chilenischen Film von Sebastián Lelio bereits ein großes Publikum begeistert hat, kann auch hier, in dieser chilenisch-argentinischen Koproduktion, wieder überzeugend nachvollziehbar machen, wie die zunächst verhaltene und zurückgenommene Teresa in wüstenhafter Umgebung gleichwohl aufzublühen vermag. (La Novia del Desierto, 24.11., 20:00 Uhr, Wdh. 28.11., 20:00 Uhr, Werkstattkino)
Dass es eine große Tradition des lateinamerikanischen politischen Kinos der 60er und 70er Jahre gegeben hat, daran können die zwei weiteren Filme der diesjährigen Lateinamerika-Filmtage erinnern. Sie greifen historische und politisch-soziale Belange auf, und zwar in fiktionaler bzw. in dokumentarischer Form.
Die beiden Filmer Diego Gachassin und Matías Scarvaci (Letzterer wird bei den Vorführungen auch persönlich anwesend sein) begleiten in Los cuerpos dóciles den Rechtsanwalt Alfredo García Kalb, der sich der Verteidigung mittelloser Delinquenten im argentinischen Gerichtssystem angenommen hat. Insbesondere Fälle von Eigentumsdelikten interessieren ihn, weil sie den Kern des Selbstverständnisses einer auf Besitz gegründeten bürgerlichen Gesellschaft freizulegen vermögen. Je leidenschaftlicher
sich Kalb persönlich einsetzt, umso stärker rückt er dann auch mit seinem Privatleben in den Fokus des Films. So wird Los cuerpos dóciles (der Titel, dt. »Die gelehrigen Körper«, bezieht sich auf ein Kapitel in Michel Foucaults »Überwachen und Strafen«) nicht nur zu einer kritischen Reflexion auf das Strafsystem, sondern zu einem intensiven persönlichen Porträt. (Los cuerpos dóciles, 25.11. 18:15 Uhr, Werkstattkino, Wdh. 26.11., 19:30 Uhr, Instituto Cervantes)
In Eva no duerme von Pablo Agüero schließlich bilden in einer Folge von Tableaus Stationen der argentinischen Geschichte von Juan Peróns Präsidentschaft (1946-55) bis zu den Regimes der Militärgeneräle den Hintergrund für die aberwitzige Geschichte vom Schicksal der einbalsamierten Leiche der 1952 verstorbenen Eva Perón, der charismatischen Gattin Juan Peróns.
Die
ambivalente Faszination, die der Peronismus bis in die Politik der Gegenwart ausübt, mit seinem Personenkult und den ihm inhärenten populistischen Tendenzen, verleiht dem Film eine thematische Dringlichkeit, die durch zeitgeschichtliches Archivmaterial untermauert wird.
Besonders bestechend sind in Eva no duerme die großartigen Schauspielerperformances von Gael
García Bernal und Denis Lavant, die ihren Rollen als Militärs die schillerndsten Facetten zwischen fiebrigem Autoritätskult und unmittelbarer physischer Präsenz abgewinnen und dabei (gerade in Bezug auf die phantasmatische Obsession von der gleichermaßen gefürchteten und bewunderten Eva Perón) ein abgründiges Bild machistischer Männlichkeit entwerfen. (Eva no duerme, 27.11.,
20:00 Uhr, Werkstattkino)
Die Lateinamerikanischen Filmtage München sind eine Veranstaltung unter dem Dach der Filmstadt München e.V., die das ganzjährig das Angebot der Münchner Kinolandschaft erweitert und ergänzt.