Herr Haberlander schweift ab – Heute: Die Last der Schutzgesetze |
||
Lieber keinen Newsletter mehr verschicken. Und alle Websites schließen. |
Hin und wieder wird öffentlich die Frage gestellt, ob es hier und heute noch Tabus gibt. Diese (rhetorische) Frage wird eigentlich nur gestellt, um sie mit ja zu beantworten und davon ausgehend über eines der bestehenden Tabus zu reden, wobei man feststellen kann, dass über einige Tabus erstaunlich viel geredet wird, was mich immer zu der Überlegung bringt, ob ein Tabu nicht in dem Moment, in dem man darüber spricht, aufhört eines zu sein (das gilt zugegebenermaßen nur für sprachliche Tabus. Eine Tabu-Handlung verliert ihren Charakter noch lange nicht, nur weil man darüber redet).
So besteht auch hier die Möglichkeit, dass das Thema, das ich im Folgenden behandle, jetzt noch ein Tabu ist, aber am Ende des Textes (durch den Text) enttabuisiert ist. Dass das fragliche Thema ein Tabu ist, erkennt man daran, dass nach meiner Kenntnis keiner darüber spricht, es mit Scham bei den Betroffenen verbunden ist, es gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt und es das Bild von der Eindeutigkeit und Richtigkeit unseres täglichen Lebens in Frage stellt. Das Tabu, das in diesem Fall keiner ausspricht, sind die negativen Seiten von Verordnungen, Gesetzen und Regeln, die verschiedene Personengruppen (oder gleich alle) vor bestimmten Nachteilen und Schäden schützen sollen und die ich vereinfacht als Schutzgesetze bezeichne.
Zu schützen gibt es viele; Arbeitnehmer und Arbeiter, Mieter, Geldanleger, Konsumenten und Verbraucher, mögliche Brand- und Unfallopfer, Internetnutzer, die Inhaber von personenbezogenen Daten, Gesunde, Kranke, Randgruppen jeder Art (darf man heute eigentlich noch Randgruppe sagen? Ist das nicht zu negativ belegt? Sollte man hier nicht einen politisch korrekteren Begriff wie Personen mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen verwenden?). Zu schützen gilt es diese Personen vor Benachteiligung, Schädigung, Betrug, Täuschung und Verlusten.
Schutzgesetze sind in der Politik beliebt. Denn im Gegensatz zu anderen Gesetzen, die alle Bürger irgendwie behelligen und einschränken, scheinen Schutzgesetze tatsächlich nur gegen die bösen Buben gerichtet. Erlässt die Politik ein Schutzgesetz, kann sie zeigen, dass sie aktiv zum Wohl der Bürger beiträgt, einen konkreten Missstand ausräumt und nicht nur in einem politischen Elfenbeinturm unverständlich abstrakte Entscheidungen trifft (ein weiterer, unausgesprochener politischer Vorteil der Schutzgesetze ist, dass sie äußerst diskrete Konjunkturprogramme – oft auf Kosten der Bürger – sind, da z.B. die Einführung einer Legionellen-Prüfung ein Heer von Dienstleistern und Handwerkern in Gang setzt). Das gefällt dem Bürger, weil sein ungewisses Leben dadurch etwas sicherer wird und endlich einmal etwas gegen die Bösen, Mächtigen, Ausbeuter und Betrüger gemacht wird, denn nur die scheinen hier negativ betroffen.
Klar ist, dass diese Schutzgesetze (unterschiedlich) viel Gutes, Wichtiges und Hilfreiches leisten, das will ich so wenig in Abrede stellen, wie die hilfreiche, heilende Wirkung von Medikamenten. Klar ist aber auch, dass kaum ein Medikament ohne Nebenwirkungen auskommt, manchmal die Nebenwirkungen sogar schlimmer sind als das eigentliche Leiden und man auf manche Medikamente (bei einer vernünftigen Lebensweise) gut verzichten könnte. All das gilt für Schutzgesetze auch.
Schutzgesetze betreffen eben nicht nur die Bösen, sondern immer auch viele Redliche und da sind es oft die Kleinen, die darunter leiden. Während große Firmen und Institutionen die Mittel und Möglichkeiten haben, die immer noch extremeren Schutzauflagen (die die wirklich Bösen weiterhin umgehen) zu erfüllen, scheitern viele kleine (grundehrliche) Geschäfte, Lokale, Produzenten, Arbeitgeber und Vermieter daran.
Ebenfalls die »Kleinen« trifft es bei den Jobs, die als Folge der Schutzgesetze heute nicht mehr korrekt zu erledigen sind. Große Firmen und Institutionen können einzelne Mitarbeiter für bestimmte Schutzgebiete abstellen, was auch dringend erforderlich ist, da viele dieser Themen eine solche Komplexität und Tücke erreicht haben, dass ihre Bearbeitung und Beachtung ein Vollzeitjob ist. Dummerweise gelten die Schutzgesetze, für die Siemens, BMW oder das Finanzministerium eigene Mitarbeiter (oder gar Abteilungen) haben, auch für den Zehn-Mann-Betrieb und die Mini-Behörden, in denen administrative Einzelkämpfer von der Last der Schutzgesetze erdrückt werden und selbst bei bestem Willen ihre Aufgaben nicht mehr korrekt erfüllen können. Dieses quälende Gefühl, seine Arbeit selbst nach bestem Wissen und Gewissen nicht mehr richtig machen zu können, also nahezu zwangsläufig gegen irgendwelche Schutzgesetze zu verstoßen (was naturgemäß immer geahndet werden kann), ist in meinen Augen regelmäßig die Ursache für Störungen wie Burn-out. In der Berichterstattung über solche Themen wird diese Unmöglichkeit einer korrekten (und damit befriedigenden) Arbeit dagegen nie erwähnt, womit wir wieder beim Tabu sind.
Doch nicht nur einzelne »kleine« Berufsgruppen erleben und erleiden die Nebenwirkungen der Schutzgesetze, auch alle anderen, so auch die, die geschützt werden sollen. Das ist immer dann der Fall, wenn vor eigentlich einfachen Abläufen absurd komplizierte »Verfahren« zu erledigen sind, wenn also alles minutiös dokumentiert und protokolliert wird, Erklärungen abzugeben und Zustimmungen zu erklären sind und das, obwohl man das, was man hier (per Mausklick oder Unterschrift) bestätigt, in der Regel nicht einmal im Ansatz versteht (wer liest die 20seitigen Widerspruchs- und Datenschutzerklärungen, wer durchschaut die vor Fachjargon starrenden Beratungsprotokolle der Banken und Versicherungen?).
Früher setzte man voraus, dass der Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist und er die (möglicherweise auch negativen) Konsequenzen daraus trägt. Dann schob man mit Hilfe der Schutzgesetze die Verantwortung an andere Stellen, die dafür Sorge tragen mussten, dass dem handelnden Menschen nichts Schlechtes widerfährt. Die anderen Stellen schieben die Verantwortung nun wieder zurück, indem sie den handelnden Menschen explizit erklären lassen: »Ja, ich will das tun! Ja, ich weiß, was ich tue! Ja, ich trage die Verantwortung für meine Handlung!« Dass man möglicherweise (verwirrt durch das undurchschaubare Prozedere) nicht wirklich weiß, was man hier eigentlich veranlasst, und dass diese Erklärungen nur bedingt freiwillig sind, weil man eine bestimmte Leistung oder ein bestimmtes Produkt einfach nicht bekommt, solange man die entsprechende Erklärung nicht abgegeben hat, krönt das Ganze.
Und so durchzuckt es mich auch jedes Mal schmerzhaft, wenn in den Medien ein neuer Skandal ausgebreitet wird, denn der nun einsetzende Mechanismus besitzt eine tragische Zwangsläufigkeit. Denn natürlich wird nach Schuldigen für den Skandal gesucht, natürlich wird man welche finden, natürlich wird man der (angeblich zu laxen) Politik eine Teilschuld zuschieben, natürlich wird die Politik zur allgemeinen Beruhigung und Genugtuung mit einem Schutzgesetz reagieren, natürlich wird dieses Schutzgesetz dafür sorgen, dass unser Leben noch komplizierter und kontrollierter wird.
Die Abwägung zwischen Nutzen und Nebenwirkung, die jeder Patient bei Medikamenten ganz selbstverständlich vornimmt, ist beim Erlass von Schutzgesetzen vollkommen undenkbar. Der Politiker, der sich mitten in einem Skandal hinstellt und vorrechnet, dass die negativen Auswirkungen eines Schutzgesetzes vermutlich größer sind als seine positiven, kann umgehend seinen Hut nehmen und den Beruf wechseln. Und genau deshalb bleibt die Last der Schutzgesetze auch weiterhin ein Tabu.
+ + +
Zum Abschluss noch ein Filmtipp von Herrn Haberlander:
Democracy – Im Rausch der Daten (2015) von David Bernet gibt den Blick frei auf die EU-Gesetzgebungsprozesse. Wie es sich für einen Big-Data-Kritiker gehört, hat er den Film für alle auf Vimeo zugänglich gemacht. Spread the news!