35. DOK.fest München 2020
Schmerz und Kunst, Verzweiflung und Hoffnung |
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Die Hungerkünstlerin | ||
(Foto: Margreth Olin, Katja Hogset, Espen Wallin) |
Es tut wirklich weh, sich The Self Portrait anzusehen. Die Biografie der norwegischen Foto-Künstlerin Lene Marie Fossen ist kein Film, der einen nach Ablaufen der Credits wieder verlässt. Das ist natürlich kein Ausschlusskriterium, aber man sollte es sich bewusst machen, bevor man auf den Play-Button drückt. Das Leiden im Gesicht Fossens wird sich nach diesen 77 Minuten genauso einbrennen, wie ihre tiefdunklen Fotografien. Was aber auch hängen bleibt, ist die Erkenntnis, dass großer Schmerz große Kunst gebären kann. Und das wird selten so eindringlich gezeigt, wie in The Self Potrait.
Als Kind wollte Fossen am liebsten die Zeit anhalten, nicht erwachsen werden, die Geborgenheit nicht gegen die Welt da draußen eintauschen. Mit zehn Jahren übernahm dann die Anorexie die Kontrolle über ihren Körper. Sie magerte dermaßen ab, dass sie mehr als einmal in Lebensgefahr schwebte. Jahrelange Krankenhausbesuche und sinnlose Therapieansätze sorgten nur für weitere seelische Narben. Als sich das Regie-Trio Margreth Olin, Katja Hogset und Espen Wallin mit ihr trifft, um The Self Portrait zu drehen, lebt sie wieder bei ihren Eltern und ist in der Lage zu arbeiten. Die Spuren ihrer Krankheit sind jedoch unübersehbar. Sie hat aber inzwischen ihren eigenen Weg gefunden, die Zeit anzuhalten – mit den Mitteln der Fotografie. Am Anfang sieht man sie ältere Frauen in einem griechischen Dorf porträtieren, später arbeitet sie mit Flüchtlingskindern zusammen. Es sind mitunter die »leichtesten« Momente des Films, in denen man den ganzen Enthusiasmus erlebt, der Fossen vorantreibt. Auch wenn ihr Äußeres noch so sehr jeder Lebensfreude widerspricht. Die Szenen, die sich dann wirklich einbrennen, sind die, in denen sie sich selbst zum Motiv macht. In den Ruinen einer alten Lepra-Klinik setzt sie sich der Unbarmherzigkeit ihres Objektives aus. Die Bilder, die entstehen, sind natürlich nicht im konventionellen Sinne schön. Die Fotos des geschundenen Körpers in den heruntergekommenen Räumen erzeugen eine tief erschütternde Unbehaglichkeit. Und trotzdem haben sie etwas so Anziehendes, dass man den Blick nicht abwenden will. Das hat rein gar nichts mit dem Autounfall zu tun, bei dem man nicht wegschauen kann. Der Kunst von Lene Marie Fossen ist reine Blicklust fremd. Sie zeigt, wie sie es selbst ausdrückt, die Schönheit, die im Schmerz liegen kann. Und wirklich offenbart sich auf jedem Bild ihr Talent, sich selbst und ihre Umgebung wirkungsvoll in einer Atmosphäre der Verlorenheit zu inszenieren. Doch das Ausschlaggebende ist letztendlich das Gefühl, etwas Echtes zu sehen, so unangenehm es auch ist. Es ist der Mut dieser Frau, die einen solch tiefen Blick in ihre aufgeschürfte Seele gewährt. Es geht letztendlich um mehr als Anorexie, sondern um das Leiden an sich, und wie man ihm seine destruktive Kraft in etwas Schöpferisches transformiert. Dabei selbst immer wieder klar, dass sie als Künstlerin im Vordergrund steht und nicht ihre Krankheit.
So ist es auch die richtige Umsetzung, dass Olin, Hogset und Wallin keinen Dokumentarfilm über Anorexie, sondern in erster Linie über die Künstlerin selbst gemacht haben. So werden ihre Qualen sogar noch deutlicher spür- und nachvollziehbar. Sie spricht vom »Nazi-Regime« in ihrem Körper, vom »Gefühl, in einem brennenden Gebäude festzusitzen, aus dem man nicht fliehen kann«. Als sie schließlich eine eigene Ausstellung in der Osloer Willas contemporary Galerie bekommt, überträgt sich ihre ganze Freude auf die Filmzuschauer. Zu schnell jedoch wird klar, dass sie den Klauen der Krankheit nicht entkommen ist. Der tiefe Fall, der in der zweiten Hälfte folgt, schmerzt doppelt, wenn man vorher gesehen hat, dass Fossen erfolgreich die ersten Schritte in eine stabile Existenz machen konnte. Die Kamera bleibt dabei so nahe an ihr und ihren Angehörigen, dass es fast unerträglich wird, das Geschehen zu verfolgen. Aber es sind genau diese Momente, in denen man hinsehen muss. Selten sieht man in einem Dokumentarfilm so direkt und ungeschönt, was es heißt, unter einer psychischen Krankheit zu leiden. So ist The Self Portrait eine intensive Biografie, ein Weckruf und ein Film über die Macht der Kunst gleichermaßen. Und leider auch ein Nachruf. Lene Marie Fossen verstarb am 22. Oktober 2019 mit nur 33 Jahren und konnte diesen Film nicht mehr selbst sehen. Bei seinem ungeschminkten Realismus, der sowohl die Hoffnung als auch die Verzweiflung nicht auslässt, hätte er ihr jedoch gefallen.