Der andere Blick |
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Aku, Kau & Kua aus der Sektion »Relax it’s just religion« | ||
(Foto: Madani Film Festival) |
Von Axel Timo Purr
Dass die Zukunft vielleicht gar nicht mehr in Europa, sondern in Asien stattfinden wird, dafür gab es erst Mitte November wieder deutliche Anzeichen, als zehn ASEAN und fünf weiteren Staaten der Region Asien-Pazifik die Verträge zur größten Freihandelszone der Welt, der RCEP, unterschrieben. Was die weltwirtschaftliche Rollenverteilung in naher Zukunft nachhaltig verändern dürfte, hat im kulturellen Bereich schon einige Zeit vor dieser Vertragsunterzeichnung begonnen. Man denke nur an die Einladung an das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa, die Documenta15 zu kuratieren oder die zunehmende Bedeutung Chinas für Hollywood in den letzten Jahren, die sich an Großproduktionen wie Smallfoot oder Everest – Ein Yeti will hoch hinaus fast schon furchteinflößend gut ablesen lässt.
Furchteinflößend in diesem Kontext ist für viele Beobachter aus dem Westen aber nicht nur die nationalistische, die ganze Welt unterjochen wollende Parteidiktatur Chinas, sondern auch der »wild« grassierende, sich scheinbar zunehmend radikalisierende Islam in europäischen Ballungszentren und einigen afro-asiatischen Regionen. Wie limitiert diese Sichtweise ist bzw. wie komplex ein religiöser Kulturraum wie der des Islam sein kann, zeigen nicht nur literarische Veröffentlichungen wie Leila Aboulelas gerade ins Deutsche übersetzter Roman »Minarett«, die so unermüdliche wie lebensgefährliche Arbeit des somalischen Filmemachers Abdisalam Aato, sondern auch ein so ungewöhnliches Filmfestival wie das Madani Film Festival, das dieses Jahr zum dritten Mal ausgetragen wird.
Fand das Madani die letzten beiden Jahre hauptsächlich in Kinos, Kulturzentren und Universitätsräumen Jakartas statt, bewegt sich die seit dem 20. November und noch bis zum 4. Dezember laufende dritte Ausgabe Corona-bedingt im virtuellen Raum. Und bietet damit erstmals auch westlichen Betrachtern die Möglichkeit, sich auf einen so beunruhigend wie faszinierenden anderen Blick einzulassen, ohne gleich die Megacity Jakarta anfliegen zu müssen, die Ridley Scotts dystopischer Version einer Großstadt in Blade Runner fast schon klonartig ähnelt.
Bei der Sichtung der einzelnen Sektionen sollte dann auch weniger überraschen, was das kreative Team aus Festivalleitung und Programmern zusammengetragen hat, denn Indonesien ist natürlich weit mehr als das, was Joshua Oppenheimer in seinem The Act of Killing und einem Genozid nach Filmvorlage erzählt hat, sondern eine politisch und religiös gleichermaßen zerrissene »Filmnation«, wie es der indonesische Regisseur Slamet Rahardjo im artechock-Interview 2018 formulierte.
Faszinierend ist am Madani vor allem, wie hier Sektionen aufbereitet werden. So, wie etwa das eigene Filmkulturerbe in neue religiöse Kontextualitäten eingebettet wird. Ein gutes Beispiel dafür ist die Retrospektive von Filmen mit Rhoma Irama, dem König des Dangdut, des bekanntesten Musikstils Indonesiens, dessen legendäre Filme hier plötzlich nicht mehr nur wichtiger musikalischer Tribut sind, sondern auch als Katharsis einer unter der Autokratie Suhartos einsetzenden islamischen Missionierungswelle verstanden werden können.
Diese Stellungnahme ist umso wichtiger, als sie auch ein mutiger, politischer Standpunkt sind, denn so wie es zwar weltweit einen überwiegend moderaten Islam gibt, ist auch die größte islamische Demokratie immer wieder durch »trumpistische« Demagogen und religiöse Hardliner gefährdet, so wie erst kürzlich durch die Rückkehr des radikalen Geistlichen Habib Rizieq Shihab, der Mitte November sein fast vierjähriges, selbstauferlegtes Exil in Saudi Arabien beendete und in Jakarta von einer begeistert tobenden Menschenmenge empfangen wurde.
Über diese laute Radikalisierung den Blick auf die stille, so viel modernere Mehrheit nicht zu verlieren und einem weltweit so disparaten Islam, dessen Brüche bis auf die Familienebene reichen, einen filmischen Spiegel zu bieten, darum kümmern sich die Macher des Festivals auch in anderen Sektionen, und zeigen neben neuen Filmen aus dem Iran auch Wiederentdeckungen wie den nigerianischen Hausa-Klassiker Shaihu Umar aus dem Jahr 1976 oder das Thai-Drama Buttefly and Flowers, eine buddhistisch-muslimische Liebesgeschichte im muslimisch dominierten Süden Thailands. Und sie werfen in der Sektion Da'waa auch einen Blick auf den klassisch islamischen Film und zeigen faszinierende Werke wie 99 Cahaya di Langit Eropa: The Final Edition (2014), der – anders als in den Rhoma Irama-Filmen, in denen es hauptsächlich um die persönliche (muslimische) Moral geht – vom großen Traum handelt, Europa zu islamisieren, obgleich von der Eroberung Europas am Ende nur der eigene Haushalt bleibt, in dem sich die Frau für das Tragen des Hijab entscheidet.
Wem das schon zu viel des »Guten« sein sollte, dem sei unbedingt die Sektion »Relax it’s just religion« empfohlen, die nicht nur »Sektion«, sondern auch »Bewegung« ist, die sich seit ihrer Gründung 2017 durch die Autorin Feby Indirani (die auch eine der Programmerinnen des Festivals ist) und ihren Erzählungsband »Bukan Perawan Maria« über Kunstaktionen, Diskussionsforen und Trainingseinheiten in Jakarta, Bandung, Lombok und Berlin die Unterstützung durch die Ford Foundation und Wikimedias Cipta Media Expression gesichert hat und dafür eintritt, einen nicht nur kritischen, sondern auch selbstkritischen Islam zu fördern. Und damit in einem zweiten »Bildungsauftrag« auch den Westen »erzieht«, indem auf subtile Weise der eurozentrische Blick auf den Islam unterwandert wird. Dementsprechend ist auch die Sektion kuratiert und zeigt Filme, in denen Religion und in diesem Fall der Islam nur ein Teil des Lebens ist und nie ein Ganzes, ein nichtsdestotrotz wichtiges Element, das Gesellschaften horizontal strukturiert, aber niemals dazu missbraucht wird, um Brandstifter für eine identitäre Politik zu sein.
Weitere Informationen über die Website des Festivals. Alle Filme lassen sich noch bis zum 4. Dezember 2020 über kwikku.com für den einmaligen Betrag von 10.000 IDR (umgerechnet 0,60 Euro) streamen.