Stay at home |
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Das ist ein Publikum – und was für eins! |
Von Dunja Bialas
Auch wenn wir jetzt alle wieder zuhause herumsitzen und es sich so gar nicht danach anfühlen will: die Zukunft beginnt jetzt. Die zweite digitale Welle bricht wie ein Tsunami über uns herein, umfasst all unsere Lebensbereiche. Längst haben wir uns daran gewöhnt, Fernsehen nicht mehr linear zu praktizieren und selbst die »Tagesschau« mit einer Verspätung von fünfzehn Minuten mittels der guten alten Kassetten-Rewind-Funktion im Stream abzurufen. Filme, die wir im Kino verpasst haben oder die dort gar nicht zu sehen waren, gucken wir in Mediatheken oder auf Streamingplattformen wie Mubi, Netflix oder Amazon. Das verschafft uns hypermodernen, gestressten Kreaturen entspannte Erleichterung, weil wir jetzt (fast) nichts mehr verpassen, filmtechnisch zumindest. Und jetzt »zoomen« wir auch noch, verlagern unser soziales Leben in die Flatness der angeblichen Begegnungen. Homeoffice, Zoomen, Streamen: Das ist der Dreiklang der sich digitalisierenden Existenz.
Vorbereitet wurde neben der permanenten Verfügbarkeit unserer Arbeitskraft die Verfügbarkeit des Bewegtbilds durch die erste digitale Welle, als die Kinos zu digitalen Abspielstätten umgerüstet wurden. Vorbei war die Faszination des analogen Filmmaterials, vorbei der sagenhafte Ruf eines Lichtspieltheaters, wenn es in den Besitz einer bestimmten Filmkopie gelangen konnte, auch die Diskussion um die Aura des Films – ein Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit und damit nach Walter Benjamin also ohne Aura, oder etwa nicht? – brach einfach ab. Es gab keinen Grund mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. In Anbetracht der immer digitaler und damit auch funktionaler, effizienter und abstrakter werdenden Welt war die Diskussion um Aura obsolet geworden.
Wirkten die Kinobetreiber bei der ersten digitalen Welle noch eifrig mit, indem sie eigenhändig ihre Projektoren auf den Müll warfen, und die Kopien gleich hinterher, kommt jetzt das böse Erwachen angesichts der zweiten digitalen Welle. Jetzt ist plötzlich die Rede von der notwendigen Um- oder Zurüstung der Kinos zu einem virtuellen Kinosaal. In diesen sollen dann die Besucher »gehen«, wenn die Kinos gerade mal wieder geschlossen haben, oder eine Erweiterung des regulären Programms in Empfehlung der Kinobetreiber sein, die dann als Kuratoren wirken. Warum nicht. Den Big Streamern will man jedenfalls nicht die Kulturhoheit überlassen. Das »Kino3« im Filmhaus Nürnberg gibt einen Vorgeschmack auf »Cinemalovers« (eine Initiative des Hauptverbands Cinephilie und des Bundesverbands Kommunale Kinos), beides Projekte, die noch genau zur rechten Zeit den Fuß in die Tür kriegen wollen.
Aber gräbt sich das Kino mit solchen Initiativen nicht zum zweiten Mal das Wasser ab? Auch Jörg van Bebber von Drop-out Cinema bereitet gerade eine digitale Abspielstätte seines Verleihprogramms für »Filme ohne Verleih« vor, wie es auf der Website der Genossenschaft heißt. »Gerade im Zeichen der Digitalisierung steht die Kinokultur vor großen Herausforderungen«, heißt es dort. Gefragt wird: Wie kann man die Vorteile der Digitalisierung für eine spannendere Kinokultur nutzbar machen? Und: Wie können Kulturkinos mehr Publikum an sich binden?
Entscheidend ist das Bekenntnis zum Kino. Das Kino, diese prekäre Kulturstätte, die manche gerne ihrer Musealisierung übergeben würden, wird von den Initiativen wie »Cinemalovers« und »Drop-out Cinema« an erste Stelle gesetzt. Die digitale Umrüstung ist anders als bei den großen Streamern kein Angriff des Digitalen auf die analoge Wirklichkeit, die möglichst ausgeschaltet sein will, damit mehr Leute zuhause auf dem Sofa sitzen bleiben und glotzen können. Bei Netflix beispielsweise, dem Marktführer in Deutschland, wachsen die Abonnentenzahlen weltweit in dreistellige Millionenhöhe, allein für Deutschland prognositiziert Digital TV Research für Ende des Jahres über 11 Millionen Abonnenten. Der Gewinn liegt jetzt weltweit bei 789 Millionen US-Dollar, meldet netflixinvestor.com im Oktober 2020. Vorbei also die Zeiten, als Netflix an der schwarzen Null vorbeischrammte, weil der Gewinn zur Gänze in neue Projekte gesteckt wurde.
Streaming und Kinobesuch müssen jedoch einander nicht ausschließen, das haben Studien aus der Zeit vor Corona deutlich gemacht. Es können sich gute Synergien entwickeln, betont auch Kinobetreiber Thomas Kuchenreuther im artechock-Interview. Und angesichts des teilweise doch sehr mittelprächtigen Filmangebots könnten (und sollten) die Kinobetreiber und Verleiher von der im Netz angebotenen Vielfalt sogar noch lernen.
Das alles sind gute und richtige Entwicklungen, auch hier bei »artechock« werden wir davon erfasst – auch wenn es uns Cineasten, die am liebsten im Kino in der dritten Reihe sitzen, in der Seele weh tut. Aber auch wir sehen gute Gründe für einen notwendigen Neustart des Kinos, der nach ganz anderen Modellen verlangt.
Welche Modelle die richtigen sind, können wir nur ausprobieren, und mit ihnen werden wir uns in der nächsten Zeit zumindest in Gedanken befassen. Auf jeden Fall sollten wir weder den großen Konzernen die Marktmacht überlassen, noch können wir den Gang und den Wandel der Zeit aufhalten. Eine vollständige Rückkehr in die Kinos wird es wohl nicht mehr geben, dafür haben die Ereignisse 2020 zu sehr als Katalysator gewirkt: In diesem verflixten Corona-Jahr sind die Kinos jetzt fünf lange Monate geschlossen gewesen und immer noch auf unabsehbare Zeit zu.
Aber selbst wenn das Kino auf lange Sicht eine andere Rolle in unserem soziokulturellen Dasein führen wird, worauf sich das ganze kulturelle System einstellen werden muss, bleibt eines gewiss: Das Publikum eines Films ist mehr als der einsame Streamer auf der Couch. Publikum bedeutet wörtlich Öffentlichkeit, Gemeinschaft von einander unbekannten Menschen. Auch wenn es eine viel geäußerte Platitüde sein sollte, es stimmt: Im Kino werden gemeinsam Emotionen durchlebt, gemeinsam Geschichten durchlitten, gemeinsam dem Unbekannten und Fremden begegnet (wahlweise nach Sigmund Freud und C.G. Jung). Das Kino ist gleichermaßen Ort und Höhle von Horror und Science-Fiction, von Romance und Gangsterfilm. »Loving the Alien«, der Titel eines Filmkongresses, der 1997 in Berlin stattfand, war treffsicher xenophil und philanthrop.
Der gesellschaftsbildende Stellenwert der Kultur wird in unserem kulturfeindlichen Land jedoch kaum wertgeschätzt, »höchstens mit dem Mund«, wie man so schön sagt, wenn Floskeln und Leerformeln fallen, um den Wert der Kultur zu benennen. In Frankreich hätte man hingegen in diesen Tagen fast die Kinos und Theater wieder aufgemacht, obwohl immer noch Ausgangssperre herrscht. Der Besuch einer Vorstellung hätte als triftiger Grund gegolten, das Haus zu verlassen.
Das stelle man sich mal für Deutschland vor. Jetzt aber hat sich auch in Frankreich die Corona-Chart wieder sehr ungünstig entwickelt, die Kinos und Theater bleiben nun doch zu.
Das Motto für alle lautet daher weiterhin: Stay at home.
Und so lange wir zuhause bleiben müssen, denken wir eben weiter über den Sinn von allem nach. Über den Sinn von Arbeit, Liebe, Kino. Und auch über den Sinn von Homeoffice, Zoomen, Streamen.