03.12.2020
Kinos in München – Thomas Kuchenreuther

»Um die Kinos habe ich überhaupt keine Angst«

Mank
Sollte im Dezember im Kino laufen: David Finchers Mank aus dem Netflix-Angebot
(Foto: Netflix)

Der Münchner Kinobetreiber Thomas Kuchenreuther verrät, warum er keine Berührungsängste mit Streaming-Diensten hat und weshalb das Filmförderungsgesetz dringend überholt werden muss

Das Gespräch führte Dunja Bialas

Der Kino­be­treiber Thomas Kuchen­reu­ther hat sich in München aus mehreren Gründen den Beinamen »Monsieur Cinéma« redlich verdient. Er stammt aus einer der tradi­ti­ons­reichsten Kino­fa­mi­lien Bayerns. Sein Vater leitete schon zu Stumm­film­zeiten in Erlangen die Lamm-Licht­spiele, weiter ging es 1936 mit der Schauburg in Erlangen, erbaut von Michael Kuchen­reu­ther, betrieben mit Mutter. Zwanzig Jahre später, 1956, folgte dann das zweite Kino in Erlangen, das Atrium, Bauherr war wieder Michael Kuchen­reu­ther. Thomas Kuchen­reu­ther begann dort mit dem Programm­ma­chen. Als sich die Gele­gen­heit bot, gingen er und sein 2013 verstor­bener Bruder Steffen Kuchen­reu­ther (bis 2012 Präsident der SPIO, der Spit­zen­or­ga­ni­sa­tion der Film­wirt­schaft) nach München. 1965 gründeten sie die Leopold Kinos, zwei Jahre später über­nahmen sie das Kino ABC, das seit Beginn des letzten Jahr­hun­derts besteht. 1971 richteten die Kuchen­reu­thers das mitt­ler­weile geschlos­sene Eldorado im Stil der Kinos von Cannes ein. 1972 kam vorü­ber­ge­hend das Cinema Olym­pia­dorf dazu, 1978 die Kinos Odyssee und Fantasia (die es nicht mehr gibt). Zuletzt schlossen letztes Jahr die Kinos Münchner Freiheit. Und nun bleiben Thomas Kuchen­reu­ther noch die ersten beiden Münchner Kinos, die Leopold Kinos und das ABC, beide im Herzen Schwa­bings.

Besonders hervor­zu­heben sind außerdem die Kuchen­reu­ther-Film­pro­duk­tionen. Ein Coup war, als die Brüder 1991 Isabelle Huppert für Werner Schroe­ters Malina gewinnen konnten, der in Cannes im Wett­be­werb lief und unzählige Preise gewann, darunter das Filmband in Gold und den Produ­zen­ten­preis des Baye­ri­schen Film­preises (derzeit auf Mubi zu sehen!). Außerdem produ­zierten sie zwei Filme von Herbert Achtern­busch, Ab nach Tibet! (1994) und Hades (1995).

Kuchen­reu­ther erinnert sich an die Geschichte seiner Kinos immer entlang der Filme, die er dort spielte (siehe unser Kino­por­trait). Jetzt erlebt das Kino weltweit nicht nur erzwun­gene Schließungen, sondern auch die zuneh­mende Konkur­renz mit den Strea­ming­diensten, die an die Bedrohung der Kinos durch das Fernsehen erinnert. Kuchen­reu­ther aber hat als einer der wenigen deutschen Kino­be­treiber keine Berüh­rungs­ängste mit dem Digi­tal­an­gebot. Im Gespräch erzählt er uns, warum.

artechock: Herr Kuchen­reu­ther, Sie sind einer der wenigen Kino­be­treiber deutsch­land­weit, die immer wieder Titel von Strea­ming­diensten spielen. Damit handeln Sie sich regel­mäßig Ärger mit Ihren Kino­be­treiber-Kollegen ein. Können Sie uns kurz erklären, was da los ist?

Thomas Kuchen­reu­ther: Zuerst ging es nur um Roma. Danach spielte ich noch Martin Scorseses The Irishman und Marriage Story, den Film von Noah Baumbach. Außerdem noch Filme aus dem Angebot von Amazon oder Apple+, zum Beispiel dieses Jahr Sofia Coppolas On the Rocks. Als ich Roma und The Irishman einge­setzt habe, hatte die Branche gerade zum Boykott der Strea­ming­dienste aufge­rufen. Da ging es vor allem um Netflix-Filme, weil sich Netflix nicht an die vom Film­för­de­rungs­ge­setz vorge­ge­benen Sperr­fristen des Kinos hielt. Es gab nur einen Vorlauf von zwei Wochen, in denen Roma ausschließ­lich im Kino zu sehen war. Im Grunde war das eine Fort­set­zung des Boykotts, der schon 2017 in Cannes begonnen hatte. Netflix hatte damals zwei Filme im Wett­be­werb, Okja von Bong Joon-ho und The Meye­ro­witz Stories von Noah Baumbach. Auf Betreiben der inter­na­tio­nalen Kino­be­sitzer wurde in Cannes eine regel­rechte Revo­lu­tion gegen Netflix ange­zet­telt. Es hieß, das seien keine Kinofilme, weil sie nicht für den Kinostart vorge­sehen waren. Jury­prä­si­dent Almodóvar hat die Filme dann faktisch von der Bewertung für die Goldene Palme ausge­schlossen.

Die deutschen Kino­be­sitzer haben dann später das Angebot, Roma zu spielen, abgelehnt, weil Netflix sich nicht an die Regeln hält. Als mir der Film angeboten wurde, hat mich das aber überhaupt nicht gekümmert. Mir geht es um ein möglichst gutes Programm, und ich wollte meinen Kino­gän­gern den Film von Alfonso Cuarón nicht vorent­halten. Alles andere wäre wie eine Zensur gewesen. Ähnliches ist ein Jahr später mit The Irishman passiert. Die Kino­be­sitzer haben den Film wieder boykot­tiert, auch in Cannes konnte der Film nicht mehr laufen. Der Präsident von Cannes, Pierre Lescure, hat aber gefordert, die »Kino­fenster« neu zu verhan­deln. In Deutsch­land ist das ein halbes Jahr. Ein kürzeres Kino­fenster aber wäre völlig ausrei­chend.

artechock: Sind die Auswer­tungs­fenster allein schon deshalb überholt, weil sich der Rhythmus der Film­starts in den letzten Jahren immens beschleu­nigt hat?

Kuchen­reu­ther: Das hat sich voll­kommen aufgelöst. Das Kino­fenster ist aber Bestand­teil des Film­för­de­rungs­ge­setzes (FFG). Durch Corona ist das Gesetz endgültig obsolet geworden. Es ist hinfällig und nicht mehr prak­ti­kabel. Es hat sich selbst überholt! Das ist ein Gesetz von 1967! Dass das Kino­fenster sich jetzt schon aufgelöst hat, sieht man, wenn man nur die Situation beob­achtet. Mit dem ersten Lockdown ist Die Känguru-Chroniken sofort ins Streaming gegangen. Dann wurden die großen Block­buster verschoben. Mulan kam sofort ins Internet, und wie Disney hat auch Warner einige Filme gar nicht mehr für die Kinos vorge­sehen.

artechock: Wonder Woman 1984 soll, sofern die Kinos dann wieder offen haben, gleich­zeitig in den Kinos und im Streaming starten…

Kuchen­reu­ther: Keiner will sich mehr an die Gesetz­mäßig­keiten der deutschen Film­för­de­rung halten. Die Sperr­fristen sind nicht mehr einzu­halten. Wenn die Kinos wieder aufmachen, müssen sie versuchen, das Beste vom Film­an­gebot zu bekommen, egal, ob mit oder ohne Sperr­fristen. Gegen die großen Verän­de­rungen kann sich das Kino gar nicht wehren. Es muss andere Möglich­keiten für sein Programm ausschöpfen.

artechock: Wie könnte das aussehen?

Kuchen­reu­ther: Mir ist aufge­fallen, dass hervor­ra­gende Filme, wie der mit der Goldenen Palme ausge­zeich­nete Shop­lif­ters, bei uns oft nur von wenigen Leute im Kino gesehen werden, weil sich die Auswer­tung auf die Großs­tädte beschränkt. Und nach vier Wochen ist der Film schon wieder ganz aus dem Programm. Viele Zuschauer, die den Film gerne gesehen hätten, verpassen ihn wegen diesem eng begrenzten Einsatz. Ein Film wie Shop­lif­ters bekommt aber in den Medien eine große Bericht­erstat­tung, die Millionen von Menschen erreicht. Wenn das Fenster zur Auswer­tung in den Kinos kürzer wäre und der Film zeitnah im Fernsehen oder im Streaming gezeigt würde, könnte man einen syner­ge­ti­schen Effekt erzielen. Dadurch könnte auch eine viel größere Begeis­te­rung fürs Kino insgesamt entstehen.

artechock: Bei Roma hat das geklappt, da gab es unter anderem auch deshalb einen Hype, weil der Film nur kurz im Kino zu sehen war.

Kuchen­reu­ther: Ja, aber das war auch eines der großen Miss­ver­s­tänd­nisse. Es hieß, der Film läuft nur zwei Wochen im Kino. Aber er lief weiter! Nur eben parallel auf Netflix. Dazu kommt noch, dass Netflix den Kinos den Film nur in der Origi­nal­fas­sung zur Verfügung gestellt hat. Wenn wir dagegen einen Film aus dem Verleih­pro­gramm im Kino starten, ist er meist nur in der deutschen Synchro­ni­sa­tion zu sehen. Und nur ab und zu in wenigen Vorstel­lungen im Original, das für eine eigene Inten­sität sorgt.

artechock: Warum sind nicht alle aufge­schlossen, hier etwas zu verändern?

Kuchen­reu­ther: Diese Verän­de­rungen und die Tatsache, sich auf etwas Neues einzu­stellen, fallen furchtbar schwer. Der Großteil der Film­branche versucht noch, die alten Gesetze aufrecht­zu­er­halten, was aber gar nicht mehr geht. Im Film­för­de­rungs­ge­setz heißt es zum Beispiel: der Film soll gefördert werden durch die Abgaben, die die Kinos in die Film­för­de­rung einzahlen. Wir zahlen drei Prozent von jedem Ticket­ver­kauf an die Film­för­de­rungs­an­stalt (FFA). Dieses Geld gibt es dieses Jahr nicht. Somit ist der ganzen Film­fi­nan­zie­rungs­grund­lage der FFA der Boden entzogen. Es ist schade, dass noch nicht bewusst ist, dass wir das Kino ganz neu gestalten müssen. Wir stehen praktisch an einem Neuanfang, wenn die Kinos wieder öffnen. Die alten Gesetze gelten nicht mehr.

artechock: Sie haben keine Befürch­tung, dass die Entwick­lung zu Lasten der Kinos gehen könnte?

Kuchen­reu­ther: Im Gegenteil. Natürlich muss klar sein, dass es die Kinos wie bisher in der Größen­ord­nung nicht weiter geben wird. Es wird ein regel­rechter Neuanfang sein. Die FFA sagt aber, dass fünfzehn Prozent der Kinos schon vor Corona in Exis­tenz­schwie­rig­keiten waren. Wir befinden uns insgesamt in einer Zeiten­wende, wie Tobias Kniebe in der »Süddeut­schen Zeitung« geschrieben hat. Das gilt übrigens auch für die Kritiker, die die Filme jetzt nur noch im Stream zu sehen bekommen. Da geht viel von der Film­in­ten­sität und den Emotionen verloren. Dazu kommt das Durch­ein­ander in der Bericht­erstat­tung, weil die Filme keinen richtigen Start mehr haben. Das wird leicht unüber­sicht­lich.

artechock: Bei Mulan wurde auch klar, dass die Strea­ming­dienste nicht ohne das Kino auskommen können. Es wurden nicht die erhofften Einnahmen erzielt, selbst nicht durch über­teu­erte Strea­ming­ge­bühren.

Kuchen­reu­ther: Die ausschließ­liche Auswer­tung auf den Strea­ming­diensten wird auch deshalb so nicht bleiben. Wenn die Kinos wieder offen sind, werden die großen Firmen ihre Filme wieder in die Kinos bringen. Viel­leicht auch gleich­zeitig zum Stream, das ist noch nicht abzusehen. Sie werden aber nicht auf den Kinomarkt verzichten. Um die Kinos habe ich also überhaupt keine Angst. Es ist nur die Frage, wie es sich regelt.

artechock: Wie könnte es denn geregelt sein?

Kuchen­reu­ther: Es muss sich eine ganz andere Förderung finden. Das Problem der Film­för­de­rung ist, dass sie zwei­gleisig läuft: Sie muss die Kultur fördern, aber auch die Unter­hal­tungs­in­dus­trie. Da sitzt die Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters zwischen den Stühlen. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob Kaiser­schmarrn­drama jetzt unbedingt ein Arthouse-Film ist.

artechock: Müssten die Verleiher ange­sichts der Strea­ming­an­ge­bote nicht auch überlegen, etwas zu ändern?

Kuchen­reu­ther: Die Verleiher »begeben sich in die Situation«. Was den Verlei­hern von den USA vorge­geben wird, wird erfüllt, während die Deutschen noch krampf­haft versuchen, sich aus den Vorgaben des Film­för­de­rungs­ge­setzes heraus­zu­winden. Es werden Anträge gestellt, die Sperr­fristen zu verkürzen. Zum Beispiel Marco Belloc­chios Il Traditore, der jetzt noch vor Weih­nachten online gehen soll.

artechock: Kaiser­schmarrn­drama ist dagegen wieder auf unbe­kannte Zeit verschoben. Wie wäre es denn bei Ihnen weiter­ge­gangen, wären die Kinos jetzt nicht wieder zu?

Kuchen­reu­ther: Da muss ich einschieben: Ich schließe mich überhaupt nicht den Protesten an, dass die Kinos jetzt offen sein sollten. Es wäre sehr schwer, die Leute zum Besuch zu bewegen, das wäre alles nur traurig.

Aber in der Tat hatte ich das Programm für den Herbst schon gemacht. Da hatte ich Kaiser­schmarrn­drama und Contra, den Sönke-Wortmann-Film, alles recht okay, aber keine Filme, auf die ich mich als Cineast gefreut hätte. Von Netflix bekam ich dann vier Filme angeboten: Ron Howards Hillbilly Elegy mit Glenn Close und Amy Adams, David Finchers Mank, The Prom, ein Musical mit Meryl Streep, und George Clooneys The Midnight Sky für Weih­nachten. Ich habe mir gedacht: Jetzt sind meine Besucher gerettet, mein Umsatz ist gerettet! Das sind Filme, auf die wir uns freuen und die wir uns gut anschauen können.
Mir geht es immer um den Film. Das ist das Entschei­dende, nicht irgend­welche Auswer­tungs­fenster oder über­holten Gesetze.