Kinos in München – Thomas Kuchenreuther
»Um die Kinos habe ich überhaupt keine Angst« |
||
Sollte im Dezember im Kino laufen: David Finchers Mank aus dem Netflix-Angebot | ||
(Foto: Netflix) |
Das Gespräch führte Dunja Bialas
Der Kinobetreiber Thomas Kuchenreuther hat sich in München aus mehreren Gründen den Beinamen »Monsieur Cinéma« redlich verdient. Er stammt aus einer der traditionsreichsten Kinofamilien Bayerns. Sein Vater leitete schon zu Stummfilmzeiten in Erlangen die Lamm-Lichtspiele, weiter ging es 1936 mit der Schauburg in Erlangen, erbaut von Michael Kuchenreuther, betrieben mit Mutter. Zwanzig Jahre später, 1956, folgte dann das zweite Kino in Erlangen, das Atrium, Bauherr war wieder Michael Kuchenreuther. Thomas Kuchenreuther begann dort mit dem Programmmachen. Als sich die Gelegenheit bot, gingen er und sein 2013 verstorbener Bruder Steffen Kuchenreuther (bis 2012 Präsident der SPIO, der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft) nach München. 1965 gründeten sie die Leopold Kinos, zwei Jahre später übernahmen sie das Kino ABC, das seit Beginn des letzten Jahrhunderts besteht. 1971 richteten die Kuchenreuthers das mittlerweile geschlossene Eldorado im Stil der Kinos von Cannes ein. 1972 kam vorübergehend das Cinema Olympiadorf dazu, 1978 die Kinos Odyssee und Fantasia (die es nicht mehr gibt). Zuletzt schlossen letztes Jahr die Kinos Münchner Freiheit. Und nun bleiben Thomas Kuchenreuther noch die ersten beiden Münchner Kinos, die Leopold Kinos und das ABC, beide im Herzen Schwabings.
Besonders hervorzuheben sind außerdem die Kuchenreuther-Filmproduktionen. Ein Coup war, als die Brüder 1991 Isabelle Huppert für Werner Schroeters Malina gewinnen konnten, der in Cannes im Wettbewerb lief und unzählige Preise gewann, darunter das Filmband in Gold und den Produzentenpreis des Bayerischen Filmpreises (derzeit auf Mubi zu sehen!). Außerdem produzierten sie zwei Filme von Herbert Achternbusch, Ab nach Tibet! (1994) und Hades (1995).
Kuchenreuther erinnert sich an die Geschichte seiner Kinos immer entlang der Filme, die er dort spielte (siehe unser Kinoportrait). Jetzt erlebt das Kino weltweit nicht nur erzwungene Schließungen, sondern auch die zunehmende Konkurrenz mit den Streamingdiensten, die an die Bedrohung der Kinos durch das Fernsehen erinnert. Kuchenreuther aber hat als einer der wenigen deutschen Kinobetreiber keine Berührungsängste mit dem Digitalangebot. Im Gespräch erzählt er uns, warum.
artechock: Herr Kuchenreuther, Sie sind einer der wenigen Kinobetreiber deutschlandweit, die immer wieder Titel von Streamingdiensten spielen. Damit handeln Sie sich regelmäßig Ärger mit Ihren Kinobetreiber-Kollegen ein. Können Sie uns kurz erklären, was da los ist?
Thomas Kuchenreuther: Zuerst ging es nur um Roma. Danach spielte ich noch Martin Scorseses The Irishman und Marriage Story, den Film von Noah Baumbach. Außerdem noch Filme aus dem Angebot von Amazon oder Apple+, zum Beispiel dieses Jahr Sofia Coppolas On the Rocks. Als ich Roma und The Irishman eingesetzt habe, hatte die Branche gerade zum Boykott der Streamingdienste aufgerufen. Da ging es vor allem um Netflix-Filme, weil sich Netflix nicht an die vom Filmförderungsgesetz vorgegebenen Sperrfristen des Kinos hielt. Es gab nur einen Vorlauf von zwei Wochen, in denen Roma ausschließlich im Kino zu sehen war. Im Grunde war das eine Fortsetzung des Boykotts, der schon 2017 in Cannes begonnen hatte. Netflix hatte damals zwei Filme im Wettbewerb, Okja von Bong Joon-ho und The Meyerowitz Stories von Noah Baumbach. Auf Betreiben der internationalen Kinobesitzer wurde in Cannes eine regelrechte Revolution gegen Netflix angezettelt. Es hieß, das seien keine Kinofilme, weil sie nicht für den Kinostart vorgesehen waren. Jurypräsident Almodóvar hat die Filme dann faktisch von der Bewertung für die Goldene Palme ausgeschlossen.
Die deutschen Kinobesitzer haben dann später das Angebot, Roma zu spielen, abgelehnt, weil Netflix sich nicht an die Regeln hält. Als mir der Film angeboten wurde, hat mich das aber überhaupt nicht gekümmert. Mir geht es um ein möglichst gutes Programm, und ich wollte meinen Kinogängern den Film von Alfonso Cuarón nicht vorenthalten. Alles andere wäre wie eine Zensur gewesen. Ähnliches ist ein Jahr später mit The Irishman passiert. Die Kinobesitzer haben den Film wieder boykottiert, auch in Cannes konnte der Film nicht mehr laufen. Der Präsident von Cannes, Pierre Lescure, hat aber gefordert, die »Kinofenster« neu zu verhandeln. In Deutschland ist das ein halbes Jahr. Ein kürzeres Kinofenster aber wäre völlig ausreichend.
artechock: Sind die Auswertungsfenster allein schon deshalb überholt, weil sich der Rhythmus der Filmstarts in den letzten Jahren immens beschleunigt hat?
Kuchenreuther: Das hat sich vollkommen aufgelöst. Das Kinofenster ist aber Bestandteil des Filmförderungsgesetzes (FFG). Durch Corona ist das Gesetz endgültig obsolet geworden. Es ist hinfällig und nicht mehr praktikabel. Es hat sich selbst überholt! Das ist ein Gesetz von 1967! Dass das Kinofenster sich jetzt schon aufgelöst hat, sieht man, wenn man nur die Situation beobachtet. Mit dem ersten Lockdown ist Die Känguru-Chroniken sofort ins Streaming gegangen. Dann wurden die großen Blockbuster verschoben. Mulan kam sofort ins Internet, und wie Disney hat auch Warner einige Filme gar nicht mehr für die Kinos vorgesehen.
artechock: Wonder Woman 1984 soll, sofern die Kinos dann wieder offen haben, gleichzeitig in den Kinos und im Streaming starten…
Kuchenreuther: Keiner will sich mehr an die Gesetzmäßigkeiten der deutschen Filmförderung halten. Die Sperrfristen sind nicht mehr einzuhalten. Wenn die Kinos wieder aufmachen, müssen sie versuchen, das Beste vom Filmangebot zu bekommen, egal, ob mit oder ohne Sperrfristen. Gegen die großen Veränderungen kann sich das Kino gar nicht wehren. Es muss andere Möglichkeiten für sein Programm ausschöpfen.
artechock: Wie könnte das aussehen?
Kuchenreuther: Mir ist aufgefallen, dass hervorragende Filme, wie der mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Shoplifters, bei uns oft nur von wenigen Leute im Kino gesehen werden, weil sich die Auswertung auf die Großstädte beschränkt. Und nach vier Wochen ist der Film schon wieder ganz aus dem Programm. Viele Zuschauer, die den Film gerne gesehen hätten, verpassen ihn wegen diesem eng begrenzten Einsatz. Ein Film wie Shoplifters bekommt aber in den Medien eine große Berichterstattung, die Millionen von Menschen erreicht. Wenn das Fenster zur Auswertung in den Kinos kürzer wäre und der Film zeitnah im Fernsehen oder im Streaming gezeigt würde, könnte man einen synergetischen Effekt erzielen. Dadurch könnte auch eine viel größere Begeisterung fürs Kino insgesamt entstehen.
artechock: Bei Roma hat das geklappt, da gab es unter anderem auch deshalb einen Hype, weil der Film nur kurz im Kino zu sehen war.
Kuchenreuther: Ja, aber das war auch eines der großen Missverständnisse. Es hieß, der Film läuft nur zwei Wochen im Kino. Aber er lief weiter! Nur eben parallel auf Netflix. Dazu kommt noch, dass Netflix den Kinos den Film nur in der Originalfassung zur Verfügung gestellt hat. Wenn wir dagegen einen Film aus dem Verleihprogramm im Kino starten, ist er meist nur in der deutschen Synchronisation zu sehen. Und nur ab und zu in wenigen Vorstellungen im Original, das für eine eigene Intensität sorgt.
artechock: Warum sind nicht alle aufgeschlossen, hier etwas zu verändern?
Kuchenreuther: Diese Veränderungen und die Tatsache, sich auf etwas Neues einzustellen, fallen furchtbar schwer. Der Großteil der Filmbranche versucht noch, die alten Gesetze aufrechtzuerhalten, was aber gar nicht mehr geht. Im Filmförderungsgesetz heißt es zum Beispiel: der Film soll gefördert werden durch die Abgaben, die die Kinos in die Filmförderung einzahlen. Wir zahlen drei Prozent von jedem Ticketverkauf an die Filmförderungsanstalt (FFA). Dieses Geld gibt es dieses Jahr nicht. Somit ist der ganzen Filmfinanzierungsgrundlage der FFA der Boden entzogen. Es ist schade, dass noch nicht bewusst ist, dass wir das Kino ganz neu gestalten müssen. Wir stehen praktisch an einem Neuanfang, wenn die Kinos wieder öffnen. Die alten Gesetze gelten nicht mehr.
artechock: Sie haben keine Befürchtung, dass die Entwicklung zu Lasten der Kinos gehen könnte?
Kuchenreuther: Im Gegenteil. Natürlich muss klar sein, dass es die Kinos wie bisher in der Größenordnung nicht weiter geben wird. Es wird ein regelrechter Neuanfang sein. Die FFA sagt aber, dass fünfzehn Prozent der Kinos schon vor Corona in Existenzschwierigkeiten waren. Wir befinden uns insgesamt in einer Zeitenwende, wie Tobias Kniebe in der »Süddeutschen Zeitung« geschrieben hat. Das gilt übrigens auch für die Kritiker, die die Filme jetzt nur noch im Stream zu sehen bekommen. Da geht viel von der Filmintensität und den Emotionen verloren. Dazu kommt das Durcheinander in der Berichterstattung, weil die Filme keinen richtigen Start mehr haben. Das wird leicht unübersichtlich.
artechock: Bei Mulan wurde auch klar, dass die Streamingdienste nicht ohne das Kino auskommen können. Es wurden nicht die erhofften Einnahmen erzielt, selbst nicht durch überteuerte Streaminggebühren.
Kuchenreuther: Die ausschließliche Auswertung auf den Streamingdiensten wird auch deshalb so nicht bleiben. Wenn die Kinos wieder offen sind, werden die großen Firmen ihre Filme wieder in die Kinos bringen. Vielleicht auch gleichzeitig zum Stream, das ist noch nicht abzusehen. Sie werden aber nicht auf den Kinomarkt verzichten. Um die Kinos habe ich also überhaupt keine Angst. Es ist nur die Frage, wie es sich regelt.
artechock: Wie könnte es denn geregelt sein?
Kuchenreuther: Es muss sich eine ganz andere Förderung finden. Das Problem der Filmförderung ist, dass sie zweigleisig läuft: Sie muss die Kultur fördern, aber auch die Unterhaltungsindustrie. Da sitzt die Kulturstaatsministerin Monika Grütters zwischen den Stühlen. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob Kaiserschmarrndrama jetzt unbedingt ein Arthouse-Film ist.
artechock: Müssten die Verleiher angesichts der Streamingangebote nicht auch überlegen, etwas zu ändern?
Kuchenreuther: Die Verleiher »begeben sich in die Situation«. Was den Verleihern von den USA vorgegeben wird, wird erfüllt, während die Deutschen noch krampfhaft versuchen, sich aus den Vorgaben des Filmförderungsgesetzes herauszuwinden. Es werden Anträge gestellt, die Sperrfristen zu verkürzen. Zum Beispiel Marco Bellocchios Il Traditore, der jetzt noch vor Weihnachten online gehen soll.
artechock: Kaiserschmarrndrama ist dagegen wieder auf unbekannte Zeit verschoben. Wie wäre es denn bei Ihnen weitergegangen, wären die Kinos jetzt nicht wieder zu?
Kuchenreuther: Da muss ich einschieben: Ich schließe mich überhaupt nicht den Protesten an, dass die Kinos jetzt offen sein sollten. Es wäre sehr schwer, die Leute zum Besuch zu bewegen, das wäre alles nur traurig.
Aber in der Tat hatte ich das Programm für den Herbst schon gemacht. Da hatte ich Kaiserschmarrndrama und Contra, den Sönke-Wortmann-Film, alles recht okay, aber keine Filme, auf die ich mich als Cineast gefreut hätte. Von Netflix bekam ich dann vier Filme angeboten: Ron Howards Hillbilly Elegy mit Glenn Close und Amy Adams, David Finchers Mank, The Prom, ein Musical mit Meryl Streep, und George Clooneys The Midnight Sky für Weihnachten. Ich habe mir gedacht: Jetzt sind meine Besucher gerettet, mein Umsatz ist gerettet! Das sind Filme, auf die wir
uns freuen und die wir uns gut anschauen können.
Mir geht es immer um den Film. Das ist das Entscheidende, nicht irgendwelche Auswertungsfenster oder überholten Gesetze.