21.01.2021

Es war einmal in Amerika

Terminator
Vorbild im Verhalten, Gesten und im Körper, so könnte man meinen, ist der von Arnold Schwarzenegger in vier Filmen verkörperte Terminator
(Foto: Filmplakat / Axel Timo Purr)

Wie konnte es nur so weit kommen? Ein erster Rückblick auf Donald Trump, die Medien und das Kino

Von Rüdiger Suchsland

Viel­leicht muss man, wenn jetzt bald wieder etwas mehr Zeit ist und Donald Trump mögli­cher­weise schon in Haft sitzt und wir dann endlich wieder etwas mehr Ruhe haben, um auch innerlich durch­zu­atmen, und nicht mehr täglich über diesen Präsi­denten nach­denken müssen, viel­leicht muss man dann noch mal eine Folge von den Sopranos anschauen, oder besser noch Scarface von Brian de Palma und Good­fellas von Martin Scorsese und Der Pate von Francis Ford Coppola. Viel­leicht verstehen wir dann, wie dieser Mann eigent­lich tickt. Viel­leicht merken wir alle dann, dass wir uns von seinen Twitter-Kaskaden und Pres­se­kon­fe­renzen und den diversen immer absur­deren Nach­richten vor allem haben ablenken lassen. Dass wir nicht verstanden haben, dass dieser Mann eigent­lich genauso funk­tio­niert, wie ein stink­nor­maler Drogen­baron, oder, um ihm nicht allzu viel Ehre anzutun: Wie ein Geld­ein­treiber und Schläger einer irischen Mafia-Bande in der New Yorker Bronx in den 1920er Jahren. Und dass er dazu steht: Politik als Familiy Business.

Wie solche Typen kann Donald Trump einfach nicht verlieren. Und wenn er einmal zu verlieren droht, dann macht er es eben wie ein Mobster: Dann schickt er seine Schläger los, die alles kurz und klein schlagen, und Leute einschüch­tern, bis er hat, was er will. Wenn das dann noch nicht reicht, dann kommen seine Mafia­an­wälte gleich hinterher, die die Gesetze biegen, bis sie passen, oder brechen, und zur Not ruft er selber mal an: »Finde die Stimmen! Du hast 72 Stunden Zeit!«

Viel­leicht ist alles tatsäch­lich genau so einfach, und man muss dann gar nicht von »Putsch« reden und von einer angeb­li­chen »Krise der Demo­kratie«, sondern allen­falls von der Psyche der Menschen, die so einen auch noch toll finden, sich mit ihm ernsthaft beschäf­tigen oder sich von ihm wenigs­tens einschüch­tern lassen. Über die Menschen hat schon Immanuel Kant lange vor Einfüh­rung der Demo­kratie fest­ge­stellt, dass sie »aus krummem Holz geschnitzt« seien. Das ist noch nobel formu­liert.

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Irgend­wann wird es ihn nun geben: Den ersten Spielfilm über Trump. Viel­leicht stammt er ja von Oliver Stone, der schon die Präsi­dent­schaften von John F. Kennedy, Richard Nixon und zuletzt von George W. Bush verfilmt hat – mal als eine Art Shake­speare-Drama, mal als Farce, immer als rasante Polit-Thriller mit einem Hauch von Paranoia.

Wer könnte ihn dann wohl spielen, den 45. Präsi­denten der USA? Erste Wetten werden schon abge­schlossen: Wie wäre es mit Adam Sandler, Komödiant und Experte für exzen­tri­sche Figuren? Auch Arnold Schwar­zen­egger wäre ein möglicher Kandidat.

Hollywood ist mit seinen Präsi­denten immer freund­lich gewesen. Manchmal durften sie sogar die ganze Welt vor den Aliens retten. Und viel­leicht fühlt sich ja auch ausge­rechnet das deutsche »Spiel­bergle« in der US-Traum­fa­brik, Roland Emmerich, berufen, einen Trump-Film zu drehen. Meinet­wegen à la Absolute Power, also mit einem Monster im Weißen Haus, in dem ein US-Präsident zum Mörder wird.

Was für eine Film-Geschichte könnte es da geben? Man muss nicht soweit gehen wie Clint Eastwood. Aber wenn man auf der Erde bleiben will – viel­leicht darf man sich dann an einen leicht verges­senen Film erinnern, in dem die Ähnlich­keit immer noch auf eine gewisse Weise sehr schmei­chel­haft für Donald Trump ist: The Siege, auf Deutsch »Bela­ge­rungs­zu­stand«, heißt er und stammt von Edward Zwick.

Der hat 1998, lange vor dem 11. September und vor George W. Bushs »Krieg gegen den Terror«, aber nach dem verhee­renden Attentat von Oklahoma und mit diesem als unver­hoh­lenem Vorbild von ein paar FBI-Leuten erzählt, die verhin­dern, dass aus einem Ausnah­me­zu­stand gegen eine terro­ris­ti­sche Bedrohung ein Dauer­zu­stand wird, und aus rechten Militärs Dikta­toren, die sich berufen fühlen, für Amerika besser zu wissen, was für Amerika gut ist, als Amerika selbst – den charis­ma­ti­schen reak­ti­onären Möch­te­gern­dik­tator spielt da Bruce Willis, und er sagt Sätze, wie man sie heute von Trump kennt.

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Es wird noch viel Zeit zum Nach­denken über solche Fragen sein, ohne Twitter-Kaskaden und surreale Pres­se­kon­fe­renzen. Höchste Zeit, also, noch ein letztes Mal auf diesen einma­ligen Präsi­denten zu blicken, mit dem wir uns alle so merk­würdig-intensiv, so abge­stoßen-faszi­niert beschäf­tigt haben.

Woran hat sich dieser Mann eigent­lich in seinen Gesten und seiner Bild­sprache orien­tiert? Nach welchem Bild hat Donald Trump seine Präsi­dent­schaft designed und geformt?

Bei seinem Vorgänger Barak Obama war John F. Kennedy das Vorbild, auch der Bürger­rechtler Martin Luther King. Bei seinem Nach­folger Joe Biden scheinen ebenfalls zwei Vorbilder klar: Neben Obama, dessen Vize­prä­si­dent er war, gibt es immer wieder Anleihen bei Franklin D. Roosevelt, der die USA in den 30er Jahren nicht ohne Mühen aus einer schweren Krise heraus­führte.

Aber Donald Trump?

Man könnte es sich jetzt einfach machen, und sagen: Trump habe keine Vorbilder, außer sich selbst. Schließ­lich war Trump über 13 Jahre lang Show­master seiner eigenen Fernseh-Show.

Man könnte auch schlechte Witze machen, und gewisse Ähnlich­keiten, bis in den Bewe­gungs­ab­lauf und das zerstö­re­ri­sche Potential, zum Riesen­affen King Kong bemerken, oder zur Riesen­echse Godzilla – beide sind vor allem massiger Körper.

Aber das wäre – wie gesagt – alles zu einfach.

Eher schon ein Vorbild im Verhalten, in Gesten und im Körper ist, so könnte man meinen, der von Arnold Schwar­zen­egger in vier Filmen verkör­perte Termi­nator. Ein Maschi­nen­mensch aus der Zukunft, steif aber wuchtig.
Die Termi­nator-Filme sprechen auch ein ähnliches Publikum an, wie der Politiker Trump. Sie haben die gleiche Weltsicht, nach der Stärke, Gewalt und Über­le­gen­heit am Ende die Lösung der aller­meisten Probleme sind. Nach der man mit Verhal­tens­kon­ven­tionen brechen muss, um »zu gewinnen«.

Viel­leicht lag es auch daran, an dieser unter­grün­digen Ähnlich­keit, dass Arnold Schwar­zen­egger vor ein paar Wochen darauf geachtet hat, in einer öffent­li­chen Video­bot­schaft sehr deutlich zu machen, dass er mit diesem Präsi­denten nichts zu tun hat.

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Warum aber hat man ihm das alles vier Jahre lang durch­gehen lassen? Zum einen, weil er eben der Chef einer durchaus zur Wort-, Geld- und Waffen­ge­walt bereiten Horde ist, stink­reich und ein Narzisst – eine schlechte Kombi­na­tion.
Den Narzissmus haben viele Fach- und Hobby-Psycho­logen in den vergan­genen Jahren ausgiebig analy­siert. Der Narzissmus ist ein regres­sives, also zurück­ge­blie­benes Bewusst­seins­sta­dium – das spiegelt sich in einer nicht zuletzt medial infan­ti­li­sierten Gesell­schaft, die zugleich ängstlich ist. Noch eine weitere schlechte Kombi­na­tion. Sie ist dominiert von einer Bereit­schaft, über­wäl­tigt zu werden, der Bereit­schaft einen Starken oder sich stark Gebenden zu finden, der sie zum Objekt macht. Und Trump hat seine Chance genutzt: »grab her by the pussy« – das ist ungefähr das, was er mit seinem Land gemacht hat.

Vor allem aber existiert diese Gesell­schaft kaum noch, sondern ist tatsäch­lich zersplit­tert (zerschlagen? aufgelöst? atomi­siert?) in lauter kleine Einzel­teile. Das Bild der »Spaltung« der US-Gesell­schaft, das jetzt oft bemüht wird, trifft eigent­lich nicht zu: Da sind nicht zwei Lager, sondern lauter Häufchen, Gruppen und Grüppchen, Filter­blasen und Schwärm­chen. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht treffend von einer »Gesell­schaft der Singu­la­ri­täten«. Wo jeder indi­vi­duell und etwas Beson­deres sein will, soll, muss, da verein­zeln alle.
Egoismus und Selbst­sucht sind die Folge dieser fort­schrei­tenden Singu­la­ri­sie­rung der Menschen.

Donald Trump verkör­pert diese Eigen­schaften sämtlich und perfekt; er spiegelt den Haufen der Ichlinge, und deren niedere Gesin­nungen, bewusste schlechte Eigen­schaften und unbe­wusste Triebe – sogar die seiner Gegner. Ein Autor, Rick Reilly, auf den wir später noch ausführ­li­cher kommen, schreibt sehr ehrlich: »I liked Trump the way I liked Batman. He was what eight-year-old me thought a gazil­lion­aire should be like, his name in 10-foot-high letters on skys­cra­pers and on giant jets, hot and cold running blondes hanging on each arm, $1,000 bills sticking out of his socks.«

Trump steigert diese Gesin­nungen, Eigen­schaften und Triebe allen­falls noch ins Egozen­tri­sche zur Rück­sichts­lo­sig­keit und Hybris. So ist Trump keines­wegs außer­ge­wöhn­lich, sondern eher durch­schnitt­lich, aber gerade in seiner Durch­schnitt­lich­keit komplett ein Kind dieser Zeit – außer­ge­wöhn­lich sind nur seine durch Geld und Macht geschaf­fenen Möglich­keiten und die Aufmerk­sam­keit, die ihm durch sein Tun und seine Position sicher ist. Die neuen, zusätz­li­chen Techniken der digitalen Medien bereiten ihm eine weltweite Bühne, stärken damit seinen Narzissmus ins Uner­mess­liche – diese Bühne ist tatsäch­lich neu.

Donald Trump ist nicht nur ein Selbst­dar­steller. Sondern er ist zugleich der erste Zuschauer seiner eigenen Selbst­dar­stel­lung, und damit aber auch sehr Twitter-gerecht ein scharfer Beob­achter und Kommen­tator des mit dieser eigenen Selbst­dar­stel­lung erzielten Feedbacks. Sein Denken kreist rastlos um nichts anderes als das höchst­per­sön­liche Ego.

Donald Trump ist das zum Präsi­denten gewordene Selfie. »America first« heißt tatsäch­lich »Trump first«. Und in dieser Selbst­er­mäch­ti­gung spiegelt Trump wiederum nur den Wunsch seiner Wähler. Sie lassen ihm das alles durch­gehen, weil sie selber so sein möchten, weil sie eigent­lich selber so sind.

In dieser Menta­lität ist eine Nieder­lage eine Kränkung, eine Kränkung ein Skandal, Unter­le­gen­heit etwas, das nicht wahr sein kann, weil es nicht wahr sein darf, und eine Wahl­nie­der­lage kein demo­kra­ti­scher Normal­fall, sondern eine Kata­strophe, eine Belei­di­gung des Eigen­sinns.
Darum muss ein solch unmö­g­li­ches Ereignis in einen Sieg verwan­delt werden.

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»Commander in Cheat« heißt das Buch des Sport­jour­na­listen Rick Reilly im Original – also »Komman­deur des Betrugs«, was zugleich eine kalau­ernde Anspie­lung auf den offi­zi­ellen Titel des Präsi­denten als »Commander in Chief« ist. Darin konzen­triert sich Reilly auf Trumps Rolle als Besitzer eines Imperiums aus sünd­teuren Golf-Resorts – neue Mitglieder müssen Hundert­tau­sende Dollar Aufnah­me­ge­bühr zahlen – und auf Trumps eigene Golf-Karriere. Trump nimmt nämlich seit vielen Jahren auch regel­mäßig an allen möglichen Golf-Wett­be­werben und -Turnieren teil. Oder eben auch nicht: Denn Reillys Buch, das auf Deutsch den Titel trägt »Der Mann, der nicht verlieren kann«, belegt, dass Trump auf einigen seiner Golf­plätze sogar Klub­meis­ter­schaften gewonnen hat, an denen er gar nicht teil­ge­nommen hat.
Das Buch ist auch deshalb sehr vergnü­g­lich zu lesen, weil es voller Anekdoten steckt, die so absurd sind, wie eine durch­schnitt­liche Trump-Pres­se­kon­fe­renz, und wahn­sinnig lustig wären, würden sie nicht leider stimmen.
Denn Donald Trump hält sich selbst offenbar tatsäch­lich auch im Golfspiel für exzellent und »einfach genial« (»A Very Stable Genius«). Das hält ihn aber nicht davon ab, bei jeder Gele­gen­heit zu schummeln – sogar der Golfstar Tiger Woods wurde von Trump beim Spiel betrogen. Offenbar ist dieses Verhalten unter Golf­spie­lern allgemein bekannt – auch weil der Präsident sich gar nicht darum kümmert, sein schlechtes Benehmen irgendwie zu verbergen. Trump platziere zum Beispiel gern heimlich einen Ersatz­ball, den er dann seinem Gegner wie aus dem Nichts trium­phie­rend präsen­tiere. Bälle in schlechter Lage würden häufig in seiner Hosen­ta­sche verschwinden, berichtet Reilly. »Na und?«, könnte man jetzt sagen, es geht doch nur um ein Spiel. Reilly aber zitiert Psycho­logen, die argu­men­tieren, dass das Verhalten im Spiel den wahren Charakter eines Menschen enthüllt. In Wahrheit verrät Trumps schlechtes Benehmen auf dem Grün also viel darüber, wie er charak­ter­lich gebaut ist. Weniger lustig sind daher auch andere Geschichten, etwa die, dass Trump auf dem Gelände seines Golfklubs in Bedminster eine Herde Ziegen hält, um den Golfpark damit gegen Steu­er­ver­güns­ti­gungen als Weideland zu dekla­rieren.

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Aus alter­na­tiven Golf­ergeb­nissen folgen alter­na­tive Fakten. Trumps zeitlose Leistung besteht darin, dass er das, was Jahr­zehnte philo­so­phi­scher Konstruk­ti­vismus, Jahr­hun­derte erkennt­nis­theo­re­ti­scher Rela­ti­vismus, was weder Nietzsche, noch Berkeley noch die Sophisten vermocht haben, in ein paar kühnen, von präsi­dialer Autorität umkränzten Twitter-Stammlern geschafft hat: Die Einebnung von Wahrheit und Lüge, Sein und Schein, Realität und Irrsinn. Zwar war das nur möglich, weil dem Tullius Dest­ruc­tivus im Weißen Haus keiner wider­sprach. Aber warum eigent­lich tat das niemand?

Dieser Fehler war der Kardi­nal­fehler, moral­theo­lo­gisch gespro­chen die Erbsünde der demo­kra­ti­schen Staaten: Sie ließen es ihm durch­gehen. So billig es war, Trumps Social-Media-Accounts wenige Tage vor Ende seiner Präsi­dent­schaft zu sperren, so teuer wäre es gewesen, das von Anfang an zu tun. Dass Facebook-Boss Mark Zucker­berg in Trump am Ende einen ihm Ähnlichen erkennt, mag man noch verstehen. Aber warum wollte Angela Merkel von ihm einen Handshake – den er verwei­gerte. Warum wollte Macron ein Photo mit ihm? Hätte man ihn doch ignoriert!

Am meisten profi­tierten aber die Medien von Trump. Mit seiner Wahl schossen Abozahlen und TV-Quoten in die Höhe. Es wird bald eine Menge Sucht­kli­niken zur Behand­lung aller Trump-Entzugs­sym­ptome unter Medi­en­nut­zern auf beiden Seiten des Atlantiks geben.

Statt noch weitere vier Jahre erschreckt auf die neueste New-York-Times-Schlag­zeile zu starren, oder surreale Twitter-Botschaften zu deco­dieren, können wir alle jetzt anfangen, nach­zu­denken, was da eigent­lich passiert ist in den letzten fünfein­halb Jahren.

Vor allem dieje­nigen Medien, die einst – wie die New York Times, die Washington Post, das Time-Magazine, wie CNN und ihre euro­päi­schen Pendants –, zu recht Leit­me­dien genannt wurden, müssen mit sich ins Gericht gehen.

Denn selbst wo sie Erfolge in Form von Auflagen-, Quoten- und Zugriffs­stei­ge­rungen verbuchen können, haben sie diese teuer erkauft: Sie haben sie damit bezahlt, sich vom Zirkus­clown Trump am Gängel­band durch die Medi­en­arena führen zu lassen. Einst waren Leit­me­dien deshalb so genannt und zur »Vierten Gewalt« geadelt, weil sie die Agenda-Setter der öffent­li­chen Ange­le­gen­heiten waren.

Diese Rolle als Agenda-Setter haben sie derzeit und bis in die letzten Tage, bis nach dem 6. Januar, völlig verloren.
Was immer man von Donald Trump halten möchte: Er hat es wie keiner seiner Vorgänger mindes­tens seit Franklin D. Roosevelt, viel­leicht überhaupt im modernen Massen­zeit­alter, verstanden, mit der öffent­li­chen Meinung zu spielen, sie zu beein­flussen und oft zu lenken. Trump hat die Themen gesetzt, und oft genug den Rahmen, in dem sie disku­tiert wurden. Das ist Trumps zweite zeitlose Leistung.
Er war, wie Sascha Lobo im Spiegel schreibt, »der erste Große eines neuen Herrscher-Typus, des Social Media Leaders.«

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Nachdem Donald Trump vor über vier Jahren zum US-Präsi­denten gewählt wurde, hat George Orwells »1984« Rekord­auf­lagen erzielt; man hat die Studien vor Hitler geflo­hener deutscher Emigranten für die damalige, viel bessere US-Regierung über den »Auto­ri­tären Charakter« wieder aufgelegt, und sogar einen noch nie veröf­fent­lichten Vortrag des Philo­so­phen Theodor W. Adorno über »Aspekte des neuen Rechts­ra­di­ka­lismus«.

Vor allem aber sind unfassbar viele neue Bücher erschienen, die das Phänomen Trump erklären wollen: Über 1200! Also fast ein Buch pro Tag seiner Amtszeit!! Über Trumps Vorgänger Obama erschienen während dessen Amtszeit nur rund 500 Bücher. Auch das war schon eine Menge. Offenbar haben aber alle diese Bücher das Rätsel noch nicht gelöst, dann es erscheinen immer weitere.

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»Die Trump-Ära hat so viele Bücher über die düsteren Gefahren hervor­ge­bracht, denen der Staat ausge­setzt sei, dass ihre Titel klingen, als redeten sie mitein­ander, eine gespro­chene Poesie des poli­ti­schen Zusam­men­bruchs.« – ein ganz beson­deres Buch­pro­jekt ist das des »Washington Post«-Redak­teurs Carlos Lozada: »What Were We Thinking« – also im Doppel­sinn: »Was wir uns gedacht haben«, aber auch »Was haben wir uns bloß gedacht!«. 150 Buchtitel hat sich Lozada näher ange­schaut, um eine »kurze Geis­tes­ge­schichte der Trump-Ära« zu schreiben. Auch dieses Buch ist auf bizarre Weise sehr lustig, denn ohne Frage ist das Lachen eine sehr geeignete Form, sich den Schrecken vom Leib zu halten.

Um seinen Gegen­stand zu ordnen, hat ihn Lozada nach Themen in zehn Rubriken unter­teilt, unter denen er jeweils mehrere Bücher bespricht: »The Chaos-Chro­ni­cles« handelt vom hane­büchenen Alltag im Weißen Haus unter Trump, »Him Too« dreht sich um Bücher zum Sujet »Trump und die Frauen«. Es geht um Trumps Wahlkampf, um »Post-Wahrheit« und »alter­na­tive Fakten«, und um die Betro­genen: »Die weiße Arbei­ter­klasse«.

Das eigent­liche Ergebnis seines Buches geht aber weit über diese einzelnen Schneisen in den Trump-Dschungel hinaus. Denn genau genommen handelt Lozadas Buch gar nicht primär von Trump. Sondern es ist eine Analyse von dessen Beob­ach­tern.

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Zual­ler­erst von ihren Täuschungen, die jenen der Steig­bü­gel­halter der deutschen Diktatur nicht nach­stehen. Lozada konsta­tiert kühl: »Während Trumps Wahlkampf 2016 und sogar zu Beginn seiner Präsi­dent­schaft phan­ta­sierten einige konser­va­tive Kommen­ta­toren und Intel­lek­tu­elle, dass Trump sich ändern würde, dass die Schwer­kraft des Amtes ihn in etwas anderes verwan­deln würde als das, was er war. Aber es gab keine Kehrt­wende; sowohl als Kandidat als auch als Präsident blieb Trump Trump treu. Der einzige wahr­nehm­bare Wende kam von den Konser­va­tiven selbst.«

Lozada zeigt, wie wir alle auch immer wieder in die Fallen gehen, die nicht so sehr von Trump selbst gestellt werden – der ist viel­leicht naiver und trieb­ge­steu­erter, als wir alle es uns vorstellen können –, sondern die in den blinden Flecken und dem faszi­niert-abge­stoßenen Tunnel­blick seiner Begleiter, Kommen­ta­toren und Gegner angelegt sind. Ein Beispiel hierfür ist das frühe Best­seller-Buch von Michael Wolff: »Fire and Fury« liefert laut Lozada weniger erschüt­ternde Einblicke in Trumps Arbeits­weise, mit denen man nicht sowieso gerechnet hätte, als »eine Blaupause« für einen einseitig-verengten Blick aufs Weiße Haus, der in diesem nur ein Chaoszen­trum sehen will, und nicht etwa einen Präsi­denten, der von einem Apparat umgeben ist, der sehr wohl weiß, was er tut, und der dafür sorgt, dass der Elefant im Porzel­lan­laden nicht allzu viel Unheil anrichten kann. Das Ergebnis vieler Bücher, so Lozada, sei vor allem eine Abstump­fung des Publikums. Man nehme Dinge hin und halte sie für möglich, wenn nicht sogar für normal, die noch vor ein paar Jahren unvor­stellbar gewesen wären. Und es gibt keinen Wider­stand mehr dagegen, nur Erschöp­fung.

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»Trump mag die Muse des Tod-der-Demo­kratie-Büche­rei­ab­schnitts sein, aber er trägt dieses Prädikat nicht allein. Degra­dierte Normen und entrech­tete Wähler, ... prin­zi­pi­en­lose poli­ti­sche Parteien und ungleiche Recht­spre­chung – das sind nur einige der vielen Krank­heiten der Demo­kratie in unserem Zeitalter.« schreibt Lozada.

Der tiefste Abgrund der Gegenwart liegt nicht in der Person Trump. Er liegt auch nicht in alldem, was nicht stimmt mit der Demo­kratie. Sondern er liegt in ihren Bürgern, in uns, die wir uns unsere wahre Lage und unsere Schwächen nicht einge­stehen wollen, trotz aller dunkler Ahnungen.

Trump ist ein Symptom dafür. Ein trotz allem sehr unter­halt­sames und noch besser ablen­kendes Symptom. Denn es laufen ein paar Dinge falsch, wenn wir Europäer uns dauerhaft mehr mit Trump beschäf­tigen, als mit Orban, Erdogan, LePen, der PiS-Partei, als mit AFD und Pegida und Schell­roda und Konsorten.
Oder wenn uns der Tod von George Floyd näher geht, als die Terror-Morde von Hanau. Kennen wir nur einen der Namen der dortigen Opfer? In alpha­be­ti­scher Reihen­folge: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov. Es waren unsere Lands­leute. Jedes Leben zählt gleich. Ihres auch.

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Noch ist Lozadas Buch, das im Oktober erschien, nicht übersetzt. Aber das kann nicht mehr lange dauern. Bis dahin helfen uns bei der anste­henden Trump-Entzie­hungskur die genannten Mafia-Filme. Oder wir schauen einfach mal in der Fußgän­ger­zone vorbei und betrachten die Hütchen­spieler.

Buch­hin­weise:
Carlos Lozada: »What Were We Thinking. A Brief Intel­lec­tual History of the Trump Era« Verlag Simon & Schuster; New York 2020; 260 Seiten, 24 Euro.

Rick Reilly: »Der Mann, der nicht verlieren kann.«; Hoffmann & Campe, Hamburg 2020; 288 Seiten, 18 Euro.