71. Berlinale 2021
Schrödingers Berlinale |
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»Alma lebt mit einem humanoiden Roboter zusammen, der sich dank künstlicher Intelligenz in den perfekten Lebenspartner verwandeln soll.« Maria Schraders Ich bin dein Mensch ist der Film der Stunde |
Von Dunja Bialas
Findet sie nun statt oder nicht? Wie Schrödingers Katze liegt das Programm der Berlinale vor uns, gleichzeitig tot und lebendig. Ab kommenden Montag können Branche und Presse fünf Tage anhand des Programms der Berlinale prüfen, wie es um die Vitalität von Deutschlands wichtigstem A-Festival steht. Das Publikum muss leider draußen bleiben – vorläufig zumindest. Erst im Juni werden die Filme der Berlinale der Öffentlichkeit gezeigt, in den Kinos, die dann, so Corona will, wieder offen haben. Die Berlinale wird dann als Kooperation mit den Kinos stattfinden, alle Einnahmen gehen an die Kinos, ohne zentralen Ticketverkauf, mit eingeschränktem Presse-Kontingent und ohne Branche, dafür mit rotem Teppich. Berlinale goes Kiez – Kosslicks Traum vom Publikumsfestival wird sich jetzt endlich erfüllt haben. Und das ausgerechnet unter seinen Nachfolgern Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, von denen man einiges erwartet hatte, wie zum Beispiel die Verschlankung des Programms oder eine ernsthaftere Haltung gegenüber dem Film als Kunst, nicht als Marktwert. Aber jetzt hat die Berlinale ein Klassenproblem. Publikum und Branche bleiben streng getrennt, die Presse darf jetzt netterweise bei der Branche mitgucken, muss sich aber deren Gepflogenheiten beugen. Das Publikum bleibt jetzt erst einmal draußen, kommt dann aber im Sommer dran. Ohne Branchen- und mit nur wenigen Presseschnösels. Die Berlinale geht in den Wechselunterricht.
Zweiteilung kann aber auch funktionieren. Eine zweigeteilte Festivalausgabe macht dieses Jahr auch das Internationale Filmfestival Rotterdam. Im Januar gab es bereits die Online-Ausgabe im Stream zu sehen, im Sommer gibt es dann Filme im Kino. Dazwischen gibt es »Tiger on the loose«, auch in Anspielung auf den von Virologen verbrieften Corona-»Tanz mit dem Tiger« (siehe auch Christian Drosten), der hoffentlich langsam vorübergeht. Der Tiger muss wieder von der Leine.
In Berlin aber tanzt noch nicht einmal der Bär. Man hat sich dort gegen eine Online-Ausgabe entschieden. Natürlich ist zu vermuten, dass dies aus Rücksicht auf die Rechteinhaber geschah, aber nicht nur. Denn gestreamt wird durchaus, eben nur für die Profis. Auch Rotterdam hat seine Weltpremieren gestreamt, das waren Nachwuchs-Filme, kann man hier einschränkend nachsetzen. Aber auch die Berlinale hat mit dem Panorama oder dem Forum und Forum Expanded Sektionen parat, die Filme für den Stream bieten. Man hätte in dieser geschrumpften Online-Berlinale mehr Aufmerksamkeit für die Sektionen schaffen können, die sonst im Schatten des internationalen Wettbewerbs stehen.
Jetzt aber steht die Presse erst einmal im Dienst der Branche, wie Mark Peranson, Berlinale-Chefprogrammer, in einem Interview mit der »NZZ« ausführt: »Die Presse braucht es jetzt im März für den Filmmarkt, denn für die Filmeinkäufer sind die Rezensionen enorm wichtig. Filmfestivals sind Teil eines grösseren filmwirtschaftlichen Ökosystems.« Filmkritik als Aufmerksamkeitsgenerator für die Filmwirtschaft – warum nicht. Zu diesen Konditionen – schwer verständlich. Die Redaktionen werden jetzt so tun, als wäre dies ein Festival wie Cannes oder Venedig, das die Berliner ja auch nicht besuchen können, wie Peranson anmerkt. Die lokalen Tageszeitungen werden dann im Juni wohl noch einmal die Eventberichterstattung hochfahren.
Die virtuelle Berlinale wird auf Leitungsebene auch »internes Preview-Festival« genannt. Teilweise wurde die Anzahl der Filme reduziert, was sich vor allem im diesjährigen Programm des Forum empfindlich niederschlägt, das mit nur siebzehn Filmen aufwartet. Cristina Nord hat sich wegen des Platzmangels entschieden, den großen Fokus auf die jüngeren, noch nicht etablierten Filmemacher*innen zu legen. Filme, die jetzt nicht im Programm sind, sind aber natürlich auf den Filmmärkten (nicht nur dem Berliner EFM) zu finden. Das ist dann natürlich eher für die Programmer der Festivals gedacht, die sich dafür einen Zugang leisten, weniger für die Filmkritik oder das normale Publikum. Aber auch im diesjährigen Programm liest man mit Anocha Suwichakornpong, Stefan Kolbe, Chris Wright und Avi Mograbi bekannte Namen.
Von Montag an werden dann die Filme der Berlinale für die akkreditierte Presse gestreamt. Die Berlinale stellt sich das wie folgt vor: Jeden Tag werden Filme aus allen Berlinale-Sektionen gezeigt, also Filme der Competition, von Encounters, des Berlinale Specials, des Panorama, des Forum, des Forum Expanded, von Generation, den Berlinale Shorts und schließlich noch Perspektive Deutsches Kino. Macht also insgesamt neun Sektionen. Jeder Film ist jeweils nur an einem einzigen Tag, sprich: für 24 Stunden im Stream abrufbar und danach nicht mehr zugänglich. Für den Montag macht das 22 Filme, die man rein theoretisch gucken könnte. Auf meiner persönlichen Vorauswahlsliste stehen am Montag sieben Filme, am Dienstag sechs, am Mittwoch wieder sieben. Reichlich frustriert habe ich abgebrochen, denn: Das werde ich niemals schaffen.
Must See des Wettbewerbs: Introduction von Hong Sang-soo, Ich bin dein Mensch von Maria Schrader, Albatros von Xavier Beauvois, Bad L Bad Luck Banging or Loony Porn von Radu Jude, eventuell Dominik Grafs Fabian (aber den kann man bestimmt noch woanders sehen), Memory Box der libanesischen Künstler Joana Hadjithomas und Khalil Joreige (sie hatten 2016 eine Ausstellung im Münchner Haus der Kunst: Two Suns in a Sunset), Petite maman von Céline Sciamma, Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? von Alexandre Koberidze, Nebenan von Daniel Brühl, A Cop Movie von Alonso Ruizpalacios, Forest – I See You Everywhere von Bence Fliegauf.
Must See von Encounters: Blutsauger von Julian Radlmaier, Hygiène sociale von Denis Côté, Das Mädchen und die Spinne von Ramon und Silvan Zürcher, Nous von Alice Diop.
Must See im Berlinale Special: Por Lucio von Pietro Marcello, Wer wir waren von Marc Bauder.
Must See im Panorama: Genderation von Monika Treut, Die Welt wird eine andere sein von Anne Zohra Berrached.
Must See im Forum: A Pas Aveugles von Christophe Cognet, Anmassung von Chris Wright und Stefan Kolbe, Esquí von Manque la Banca, Juste un mouvement von Vincent Meessen, Nó taxi do Jack von Susana Nobre, La veduta luminosa von Fabrizio Ferraro, The First 54 Years von Avi Mograbi, What Will Summer Bring von Ignacio Ceroi.
Und so weiter. Das sind jetzt schon 27 Langfilme, verteilt auf fünf Tage, macht, sofern sie sich günstig verteilen, mehr als fünf Filme pro Tag. Und auf den ganzen Rest, auf den man auch neugierig gewesen wäre, verzichtet man eben.
Die Berlinale zeigt auf kongeniale Weise als erstes Festival der Corona-Zeit, was das eigentlich heißt: ein virtuelles Festival zu sein. Andere Festivals haben ihre Filme zwar nur online gezeigt, aber sie haben immerhin stattgefunden, für die Öffentlichkeit, die Presse, die Branche, in vernünftigen Zeitfenstern. Bei der Berlinale ist man sich da nicht so sicher: Sie findet statt, ohne stattzufinden, denn sie zeigt Filme, die man beim besten Willen nicht sehen kann.
Das ist schade für die Filme, schade für die Arbeit der Kuratoren und auch schade für die Berlinale. Und das ist auch auf einmal das Gegenteil von dem, wofür ich hier immer eintrete, wenn ich das Kino gegen den Stream verteidige. Denn Filme jetzt allein dem Kino vorzubehalten, heißt auch, nur Wenigen den Zutritt zu den Filmen zu gewähren, nur den Locals, und auch da wieder nur Wenigen, aufgrund der erwartbaren Corona-Restriktionen, wie schon jetzt den Stufenplänen für die Wiedereröffnung zu entnehmen ist.
Die Berlinale 2021 ist das Festival der unsichtbaren Filme.