Quo vadis, DOK.fest? |
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Daniel Sagers Eröffnungsfilm Hinter den Schlagzeilen (DOK.international) | ||
(Foto: 36. DOK.fest@home) |
Von Sedat Aslan
In den ihnen verbleibenden sieben Wochen gelang dem Team der wahnwitzige Kraftakt, das komplette Festival von off- auf online zu schalten: dazu musste nicht nur die Unterstützung der Träger und Sponsoren sowie die Zustimmung jedes einzelnen Rechteinhabers eingeholt, sondern auch eine digitale Infrastruktur inklusive Ticketing aufgebaut werden, und das ohne Erfahrungswerte in dieser Größenordnung im deutschsprachigen Raum. Am Ende stand mit 75.000 ein wohlverdienter neuer Besucherrekord.
Auch heuer hat die unsichere Krisenlage für zusätzliche Spannung bei der Planung gesorgt, denn erst am 30. März stand endgültig fest, dass eine lange ins Auge gefasste hybride Festivalform zwischen Kinosessel und Couch nicht würde stattfinden können. Das 36. DOK.fest München ist also die zweite »@home«-Edition, die ein bundesweites Publikum rein auf der »digitalen Leinwand« anspricht.
Was die nackten Zahlen angeht, ist man auf einem leicht höheren Niveau als im Vorjahr, vom 5. bis 23. Mai laufen 131 Filme aus 43 Ländern, verliehen werden ganze 16 Preise mit einem Gesamtwert von 64.000 Euro. Auch der Ticketpreis ist um ein Drittel auf 6 Euro gestiegen (Festivalpass 70 Euro), wobei die letztjährige Preisgestaltung, der ungewissen Lage geschuldet, als »vorsichtig« zu bezeichnen ist.
Als Ausgleich lässt sich über einen einmal gestarteten Titel mit 48 Stunden nun doppelt so lange verfügen. Letztlich partizipieren die Filmemacher an den Einnahmen, über einen Solidarbeitrag kann man auch die leer bleibenden Partnerkinos unterstützen. 2020 kam so die stattliche Summe von 15.000 Euro fürs City-Atelier, Rio und Maxim zusammen. Trotz der teureren Tickets lässt es der schon sprichwörtliche sportliche Ehrgeiz Daniel Sponsels nicht anders zu, als mit 80.000 Besuchern den nächsten Meilenstein ins Visier zu nehmen.
Die in der Überschrift gestellte Frage kann für dieses Jahr folgerichtig und im Sinne Oliver Kahns mit »weiter, immer weiter« beantwortet werden; viel spannender ist jedoch, wie es nach Überwindung der Pandemie aussieht. Sponsels neun Thesen zur Zukunft des Kinodokumentarfilms, die er kurz nach der letztjährigen Ausgabe formulierte, scheinen nahezulegen, dass ein hybrides DOK.fest nicht nur Gedankenspiel bleibt – und zwar eben nicht im Sinne der diesjährigen Berlinale mit einem Online-Part für Fachleute und dem »Publikumsevent« im Sommer in den Kinos.
Sponsel schreibt: »Wir müssen davon ausgehen, dass wir als gesamte Gesellschaft nach dieser Krise nicht einfach wieder in den Ausgangsmodus zurückkehren können«, was insbesondere für Großveranstaltungen gelte, und die »zusätzliche ›digitale Leinwand‹ für alle Kinos ist der nächste zwingende Schritt zum Erhalt unserer Filmkultur«. Nach seiner Argumentation ist für den Kinodokumentarfilm die Aufhebung der Sperrfrist, also die Koexistenz von Kino- und Online-Auswertung, alternativlos und würde allen Beteiligten nutzen. Es gibt aber auch Stimmen, die ein Festival als sozialen und sinnlichen Raum bewahren möchten und Schaden fürs Kino als Institution fürchten.
Erfindet sich das DOK.fest ab 2022 also tatsächlich neu als stationäres Festival, an dem man zeitgleich bundesweit im Netz teilnehmen kann? Die Vorteile liegen auf der Hand, und seien sie noch so profan wie ausverkaufte Säle oder eine kurzfristige Verhinderung. Es erscheint nicht so, als wollte man ohne Diskussion auf das (immer noch beachtliche) Zuschauerniveau von 54.000 Besuchern im Jahre 2019 zurückfallen. Welche normative Kraft hätte das für die deutsche Festivallandschaft in der Zeit nach Covid-19?
Der Überprüfung von Sponsels Thesen muss sich der Dokumentarfilm, also jeder, der sich darunter angesprochen fühlt, in aller Breite spätestens dann widmen, sollte sich dieser Ausblick konkretisieren, und neben einer ästhetischen Debatte muss es dabei ganz klar auch um Zahlen gehen, wenn man die Thematisierung der prekären Arbeitsrealität von Filmemacher*innen, wie es in der Debatte um Lovemobil geschehen ist, ernstnehmen und dies nicht nur als zweckgemäßes politisches Manöver gegen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verstanden wissen will.
Neben politischen und logistischen Erwägungen wird darüber, welcher Cyber-Anteil in Zukunft beibehalten wird, auch entscheiden, ob das DOK.fest @home die hohe Publikumsakzeptanz wird halten können. War diese vor allem der zeitlichen und territorialen Ausweitung des Festivals, dem fairen Ticketpreis und einem solidarischen Gedanken zu Beginn der Pandemie zu verdanken? Was, wenn beispielsweise die Außengastronomie zeitnah wieder öffnen darf und sich Freizeit und Solidargefühl schlagartig dorthin verlagern?
An dem in einem schwierigen Jahr sorgfältig zusammengestellten Programm sollte es jedenfalls nicht liegen. Neben dem internationalen Wettbewerb bilden DOK.deutsch sowie DOK.horizonte die drei Hauptreihen, in denen die Vielfalt des modernen Dokumentarfilms zur Schau steht. Weitere Sektionen mit dem Fokus auf studentische Filme, den thematischen Schwerpunkten Musik oder Empowerment, eine DEFA-Retrospektive sowie eine Hommage an die tschechische Filmemacherin Helena Třeštíková komplettieren das Angebot. Die im letzten Jahr entfallene Reihe ums Gastland Kanada wird dieses Jahr nachgeholt.
Auf der Website kann man über Hashtags wie #Empört Euch!, #Natur im Rückzug, #Flucht ohne Ende oder #Held.innenreise die Filme inhaltlich gruppieren, was einen guten Überblick über die weit verzweigten thematischen Komplexe gibt. Es lässt sich beim besten Willen nicht künstlich ein roter Faden konstruieren, der sich auch nur durch eine der Hauptreihen zieht, die Filme sind divers, fordernd, erkenntnisreich, unterhaltend. Die »@home«-Ausgabe bietet zudem in der schönen neuen Online-Festival-Welt mittlerweile etablierte Veranstaltungen wie Q&A’s (täglich um 20:00 Uhr) und überträgt neben den diversen Preisverleihungen auch die Eröffnungsfeier mit Daniel Sagers Film Hinter den Schlagzeilen (DOK.international).
Der Regisseur beobachtet darin zwei investigative Journalisten der »Süddeutschen Zeitung«, die schon an der Aufdeckung der »Panama Papers« beteiligt waren, und denen plötzlich das berüchtigte »Ibiza«-Video zugespielt wird. Mit Anklängen an Spielfilme wie All the President’s Men und Spotlight wird der Prozess eines journalistischen »Scoops« begleitet, der Einblicke darin gibt, wie in einer hochpolitischen Causa, die eine Regierung zum Sturz bringen könnte, Abwägungen, Bedenken und Entscheidungen ablaufen können. Gerade in Zeiten von Schmährufen wie »Lügenpresse« ist es erhellend zu sehen, wie gewissenhaft Journalisten zu arbeiten verpflichtet sind, sich eben nicht im rechtsfreien Raum bewegen. Filmisch und erzählerisch beschreitet der Film zwar keine neuen Wege, ist aber vielleicht gerade deswegen eine gute Wahl für einen Eröffnungsfilm, da er im besten Sinne niedrigschwellig ist, ohne anspruchslos zu sein, und ein Statement setzt.
Land von Timo Großpietsch (DOK.international), nebenbei bemerkt, verantwortlicher Redakteur von Lovemobil, ist eine ganz andere Kategorie, ein assoziativer Dokumentarfilm, der wie die Filme von Ron Fricke ganz der Kraft der Bilder und des Schnittes vertraut, also praktisch ohne Sprache auskommt, es gibt weder Protagonisten noch Erzähler. Der Film ist formal durchkomponiert, die furiose Kamera verbindet immer wieder elegische Fahrten, Diagonalen, Vogelperspektiven zu einem Abbild des Dreiecks aus Mensch, Maschine und Natur – und die Bewirtschaftung letzterer durch die erstgenannten beiden. Die sich durch den Film ziehende effektvolle Assoziationsmontage gipfelt in der Kontrastierung der rotierenden Bewegungen eines Volksfesttanzes mit einer Kreissäge, die abgeholzte Baumstämme durchteilt, und einem Tanz um abgetrennte Schweinehälften in einer Kühlhalle. Land ist wie Klärlösung, mit der man Augen und Hirn durchspülen kann.
Ein Highlight der deutschen Reihe ist Wer wir gewesen sein werden von Erec Brehmer und Angelina Zeidler. Vor zwei Jahren verliert der Regisseur seine Freundin Angi bei einem Autounfall. Mit einer Vielzahl an privaten Aufnahmen haben beide ihre Beziehung dokumentiert, wer sie waren, gewesen sein werden. In schonungsloser Manier lässt Erec Brehmer den Zuschauer daran teilhaben, wie er mit dem Verlust umgeht, ihn reflektiert und zu bewältigen versucht. Aus dem Material montiert er eine bittersüß-poetische und schmerzhaft persönliche Collage einer jäh beendeten Liebe. Im Off-Text erzählt Brehmer aus seinem tiefsten Inneren, schafft es trotzdem, seiner verstorbenen Freundin in weiten Teilen die Bühne zu überlassen, so dass man am Ende das Gefühl hat, sie gut gekannt zu haben. Der in Zeitlupe um beide herumschwirrende Schmetterling ist eine vieldeutige Metapher – für die Flüchtigkeit des Augenblicks, für die Fragilität eines Lebens. Der Film ist ehrlich bis auf die Knochen, bisweilen niederschmetternd, und schafft es doch, leisen Trost zu erzeugen – dies völlig kitschbefreit, bleibt doch kein Zweifel daran, dass die Sachen nach einem solchen Ereignis nie mehr so sein werden, wie sie einmal waren.
Auch DOK.horizonte macht es einem nicht leicht, stellvertretend einen Film auszuwählen, doch La Conquista de las Runas von Eduardo Gómez, eine argentinisch-bolivianische Koproduktion, beeindruckt nachhaltig. Mit einer mythisch anmutenden, an Sebastião Salgado erinnernden Scharz-Weiß-Fotografie wird auf essayistische Weise der merkwürdige Zusammenhang von Fossilien, Zement und Totengeistern offengelegt. Auf einem Steinbruch verbinden sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit dem Dies- und Jenseits, und der Alltag im Tagebau mit philosophischen Parolen. Was werden wir dauerhaft hinterlassen, und was werden spätere Zivilisationen von uns ausbuddeln?
Ein persönlicher Tipp für alle anderen Mondsüchtigen ist der hypnotische irische Collagenfilm To The Moon von Tadhg O’Sullivan, der aus Zitaten der Film-, Musik- und Literaturgeschichte sowie neuem Material eine »Lunaskopie« zusammensetzt. Hier gibt es in jedem Bild etwas zu entdecken, man wird fortlaufend überrascht, wie sich all die Fragmente gegenseitig kommentieren und trotz aller Heterogenität aus dem gleichen Urgefühl zu speisen scheinen, das uns seit unseren Anfängen begleitet und eine leise Vorstellung davon geben, wie diese ursprüngliche Faszination mit unserem Satelliten fernab aller Worte ausgesehen haben muss.
Dies soll nur ein kurzer Einblick in das mit Perlen gespickte Programm sein – über die Dauer des Festivals hinweg werden wir auf »artechock« täglich darüber berichten. Dass nach dokumentarischen Formaten gerade bei den Streaminganbietern eine wachsende Nachfrage besteht, zeigt auch die am Dienstag verkündete Gründung des neuen Labels »Constantin Dokumentation«, mit dem der Münchner Mini-Major – u. a. in Kooperation mit der Süddeutschen – bereits zwei Projekte bei Sky gelandet hat. Bei Netflix, Amazon und Co. laufen Dokus hervorragend, was nicht nur Sponsels oben angesprochene Thesen zu stützen scheint, sie verändern auch die Sprache des Dokumentarfilms, die sich weg von der ästhetischen Freiheit des Kinodokumentarfilms hin zu einem einheitlichen Konzept nach amerikanischen Maßstäben entwickelt. Die Frage bleibt offen, ob diese sich immer stärker auseinander entwickelnden Inhalte auf denselben Plattformen gleichberechtigt miteinander konkurrieren können, oder es nicht neue Lösungen braucht.
Interessant zudem, dass das seit jeher größte Problem des Kinodokumentarfilms in Deutschland in keinem der Debattenbeiträge erwähnt wird, weil wohl schon als Normalzustand akzeptiert und zu sehr miteinander in Abhängigkeit verwoben: das frei empfangbare Fernsehen, insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Der Bildungsauftrag macht es möglich, dass man alle möglichen dokumentarischen Formate in hoher Qualität gefühlt kostenlos frei Haus bekommt und der Anreiz, die Couch zu verlassen und extra eine Kinokarte zu lösen, deswegen besonders groß sein muss. Ein ähnliches Dilemma plagt übrigens den deutschen Kinospielfilm, erst recht bei den im TV breitgewalzten Genres wie dem gesamten Crime-Bereich. Ob einem das in der Online-Auswertung auf Dauer nicht noch stärker zu schaffen machen dürfte, als wenn man dem das physische, gemeinschaftliche Event entgegenstellen kann, das auf der Couch nicht reproduzierbar ist? Wir werden drüber reden, spätestens dann, wenn das DOK.fest wieder in die Kinosäle zurückkehren darf und seinen weiteren Weg – ob ein- oder mehrgleisig – bestimmen muss.
DOK.fest München @home: vom 5. bis 23. Mai 2021
Filme mieten: 6 € (7 € mit Soli-Beitrag für die Partnerkinos)
Zeitfenster: 48 Stunden
Festivalflatrate: 70 € (davon gehen 5 € an die Kinos)
Hotline – technische Soforthilfe: 0800 / 000 5620