Mit voller Pracht voraus |
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Spitzbögen, Lüster an der Decke und trotzdem: Vorhang auf! Sich jetzt bloß nicht ablenken lassen – schon gar nicht von der Politik. Puh! |
Von Dunja Bialas
Großflächige, goldumrahmte Spiegel im Kinosaal, roter Brokat an den Wänden, eine Galerie, schwungvolle Spitzbögen und ein prachtvoller Lüster: So präsentiert sich das »Uránia Nemzeti Filmszínház«, das Nationale Filmtheater Uránia in Budapest. Hier, in dem Gebäude des 19. Jahrhunderts, befindet sich auch die ungarische Theater- und Filmuniversität.
Orbán Viktor habe das Kino für Milliarden von Euro saniert und so ein Prestigeobjekt geschaffen, wird am Abend Gábor schimpfen, den wir in einer »einfachen Kneipe« (Google Maps) im angesagten jüdischen Viertel von Budapest kennenlernen. Bloß nicht den Namen der Kneipe verraten, hat uns Gábor eingeschärft, sie ist der letzte Ort in dem Viertel, der von der Gentrifizierung verschont geblieben ist. Wie wir die Kneipe gefunden haben? Intuitiv, sagen wir ihm. Nein, sie steht in keinem Reiseführer, beruhigen wir ihn.
Anders als die angesagten »Ruinenkneipen«. Sie profitieren vom morbiden Charme der einstigen k.u.k.-Metropole, die Wien um einiges übertrifft. Und anders als das »Uránia Nemzeti Filmszínház«, das wir auf der Suche nach einem ungarischen Kinoerlebnis ansteuern. Die in den Reiseführern angepriesene Sphäre von 1001 Nacht verdankt sich der Detailverliebtheit des Hamburger Architekten Henrik Schmahl. Er baute das Gebäude zur Zeit der Erfindung des Kinematographen, Mitte der 1890er Jahre, im Stil der damals angesagten Venetianischen Gotik, die er mit maurischen Elementen vermischte (ein anderer Bau von ihm ist das Párisi Udvar, heute eine Luxus-Mall). Als Tanz-, Musik- und Cabarethalle »Oroszi Caprice« war das Gebäude zunächst für das Volksvergnügen zuständig. Das änderte sich, als die wissenschaftliche Akademie im Zuge des Wissenschaftsbooms um 1900 nach einem Aufführungsort für die neuen Bewegtbilder suchte, um Vorträge zu illustrieren. 1899 zeigte die Akademie dann zum ersten Mal Filme, und aus dem »Oroszi Caprice« wurde die »Uránia Tudományos Társaság«, die Wissenschaftliche Gesellschaft Urania.
Wie die Wiener Urania, die 1898 als volksbildende Maßnahme eröffnet wurde, ist die Budapester Institution benannt nach der Muse der Astronomie. Hier manifestiert sich, dass das Kino in seinen Anfängen nicht nur Jahrmarktsattraktion oder illusionäre Kunstform war, sondern dass auch die Wissenschaft in der neuen Kunst einen Zweck erkannte. Erst zum Ende des Ersten Weltkriegs und mit der Auflösung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie wurde die Uránia zum Kino im heutigen Sinne und zeigte regelmäßig Spielfilme. 1930 wurde es von der UFA übernommen, ab 1945 war es ein Kino für die Filme von »Szovexport«.
Die Website des Kinos, von der all diese rudimentären Informationen stammen, und die natürlich im Kinosaal selbst nicht ersichtlich sind, schweigt sich über den Zeitraum der Schließung des Kinos (von?) bis 1999 aus. Danach wurde aufwendig restauriert, das Lichtspieltheater avancierte zum Vorzeigeprojekt des Budapester Denkmalschutzes und erhielt 2006 den Preis der Europäischen Union. Das Uránia firmiert in der renommierten Liste der Europa Cinemas, die den Schwerpunkt auf europäische Filme legen. Jährlich stellt das Ministerium für Nationales Kulturerbe 100 Millionen HUF (ca. 300.000 Euro) für den Betrieb der Uránia bereit. Das muss Gábor, einen Ungarisch-Lehrer, der Mitte der Neunzigerjahre einige Zeit in Deutschland war, aufgebracht haben.
Das nationale Vorzeigeprojekt Uránia war bereits in der ersten Regierungsphase Orbáns (1998-2002) auf den Weg gebracht worden. Von der Fidesz-Partei vereinnahmt wurde es dann ziemlich genau vor einem Jahr, als am 31. August 2020 die Leitung der Filmhochschule geschlossen zurücktrat, weil ihr die ungarische Regierung ein Kontrollgremium voranstellte. Angestrebt werde ein Kulturwandel hin zu konservativen Werten auch in den Künsten, war in der Berichterstattung zu lesen. Es bleibt jetzt abzuwarten, wie es mit der prestigeträchtigen Institution weitergeht, die Absolventen wie Tarr Béla, Jancsó Miklós, Nagy Dénes (Természetes fény (Natural Light), Silberner Bär 2021) oder Enyedi Ildikó (Teströl és lélekröl (Körper und Seele), Goldener Bär 2017) hervorgebracht hat. Für eine Reise nach Budapest war es höchste Zeit.
Noch gibt es einen Filmclub, der die 53 besten ungarischen Filme aus 60 Jahren zeigt – eine Liste, die Sára Sándor, Regisseur der ungarischen Neuen Welle, erstellt hat. Und natürlich gibt es in dem prächtigen Kino auch die derzeit global laufenden Filme zu sehen. Wie Nomadland, den wir jetzt endlich in der Uránia nachholen. Der Film läuft mit ungarischen Untertiteln, was uns einen zweistündigen Crashkurs in Alltagsungarisch beschert – »szia« wird verwendet wie das italienische »Ciao«, »köszönöm« heißt »danke« – und andere nützliche Wörter mehr, die einen an diesem aufschlussreichen Wochenende noch begleiten werden.
»Mozi« zumindest heißt Kino, ein Sachmodernismus und Lehnwort, in dem »mouvement«, »Bewegung«, steckt. Gábor sagt uns, das Kino sei tot. Zuletzt habe er von Némes Laszlo Saul fia (Son of Saul) gesehen. Im prachtvollen Uránia sind wir tatsächlich nur zu viert in einem Saal mit 470 Sitzplätzen. Allerdings ist Nomadland auch nicht mehr ganz taufrisch, und heute ist noch dazu ungarischer Nationalfeiertag, »Szent István nap«, wo sich alle für das große Feuerwerk an der Donau bereithalten. Gábor vertraut lieber auf das Kino des Alltags. Er wohnt im sich selbst überlassenen Bezirk Józsefváros, in dem sich auch die Uránia befindet, einem sozialen Brennpunkt abseits der Touristenhotspots, in dem das subversive Budapest einen neuen Ort gefunden hat. Dort grassiert die Armut in einem Ausmaß, wie es sie – laut Gábor – vor der zehnjährigen Regierungszeit Orbáns nicht gegeben hat.
Budapest will lieber ein neuer Place to be für die Hipster sein. Es gibt unzählige Craft-Beer-Lokale in der Stadt und instagramtaugliche Locations mit veganem Food. Ob das Orbán gefällt? Besser findet er vermutlich die Investoren, die aus der typischen Sozialwohnungsbebauung Luxus-Höfe oder Hotspots des Nachtlebens machen, wie es im Reiseführer-Innenhof »Gozsdu udvar« der Fall ist.
Wenn man vom angesagten Bezirk Erzsébetváros, dem jüdischen Viertel, über die Rákoszi utca zurück zum Ostbahnhof geht, kommt man unweigerlich ein letztes Mal an der Uránia vorbei. Auf dem Rückweg ist es regnerisch, ungemütlich, die Stadt hat mit einemmal ihren Glanz verloren. Vor dem Kino steht eine Frau. Sie trägt nur ein Hemdchen, das sie lüftet. Immer wieder, hoch, runter, weg, da, gibt sie in kindlichem Spaß ihren aufgedunsenen Unterleib preis. Die vergnügte Bettlerin kann nur eine Wiedergängerin aus Buñuels Viridiana sein. Ja, nur das kann sie sein.