Die Dualität der Dinge |
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Die Geinfluencten: Girl Gang von Susanne Meures dokumentiert neues Fantum | ||
(Foto: Susanne Regina Meures · Rise And Shine Cinema) |
Von Sedat Aslan
Die im letzten Jahr an dieser Stelle aufgeworfene Frage nach dem weiteren Weg des DOK.fests wurde vor einigen Wochen von der Festivalleitung Daniel Sponsel und Adele Kohout also tatsächlich so beantwortet wie damals angenommen – die im digitalen Raum erreichten höheren Zuschauerzahlen sind wie der Honig, von dem man einmal gekostet hat und fortan nicht mehr die Finger lassen kann.
Dabei hat Daniel Sponsel – der Festivalchef, der mit dem Rennrad von Kino zu Kino fährt, um selbst zu kontrollieren, ob sein ganzes Material ausliegt – spätestens seit Beginn der Corona-Krise nie einen Hehl aus seinem Standpunkt gemacht. Man nimmt ihm ab, dass er in den digitalen Verwertungswegen nicht nur eine riesengroße Chance für den Dokumentarfilm, sondern sie geradezu als existenzielle Notwendigkeit sieht.
Das soll nicht verklären, dass es natürlich um Zahlen geht. Das DOK.fest ist keine Benefizveranstaltung, und über Zahlen lässt sich an Träger, Partner und das Publikum der Erfolg am besten vermitteln. Traditionell gibt es einen Konkurrenzkampf unter den Festivals, freundliche Rivalitäten um Filme, Aufmerksamkeit, aber auch um Sponsoren und den eigenen Status. Sponsel selbst hat mit der Einführung neuer Reihen und Preise seit seinem Amtsantritt kontinuierlich einen Wachstumskurs gefahren, bei dem er stellenweise DOK Leipzig überholt hat – ein noch vor einem Jahrzehnt kaum denkbares Szenario (das DOK.fest hatte 2012 16.500 Besucher). Nach dem Stalemate der letzten beiden Jahre haben sich die Münchner mit jeweils über 70.000 Zuschauern eine überragende Position erarbeitet, die ihnen Rückenwind für den nächsten Schritt gibt.
Wenn es nun aber doch um Zahlen geht, wüsste man nach dem Festival gerne genaueres – nach welchem System werden Zuschauer gezählt, wie ist die Verteilung Live/Online, werden Online-Abbrüche erfasst, und was sind am Ende die Top-Ten-Filme? Lassen die Zahlen einen Aufschluss darüber zu, ob Zuschauer zu der bequemeren Lösung der Online-Sichtung greifen, obwohl das Kino leicht zu erreichen wäre, oder wäre das gegenüber einer hohen Zahl an auswärtigen bzw. nicht mobilen Filminteressierten zu vernachlässigen? In diesem Sinne ist es eine weise Entscheidung, den Online-Preis dem guten alten (analogen) Kinoticket anzupassen, um nicht noch mehr Anreize für die heimische Couch in Konkurrenz zum Kinosessel zu bieten.
Je mehr man drüber sinniert, desto eher kommt man zu dem Gedanken: Ein digitales Festival ist kein Festival, Punkt. Sonst wäre Mubi auch ein Festival. Festival ist, nicht nur dem Wortsinn nach, wenn Leute sich versammeln, um Kunst zu feiern. Die physische Zusammenkunft wird immer der Backbone eines erfolgreichen Festivals sein, bei Musik oder dem Theater ist das ja augenscheinlich, warum sollte dann fürs Kino etwas anderes gelten? Als Add-On ist die digitale Welt eine chancenreiche, zum Beispiel, um neue Zuschauerschaften zu erschließen, da kann man Sponsel nur zustimmen. Auch ich habe meine Filmleidenschaft dem linearen Fernsehen und VHS-Kassetten zu verdanken, bevor das Kino überhaupt ins Spiel kam, gerade in Deutschland, wo du auf dem Land die nächste Leinwand lange suchen musst.
Der Gang in den digitalen Raum wirft aber auch deutlich kritischer zu sehende Fragen auf, vor allem, was er für die Ästhetik des Dokumentarfilms bedeutet. Seit dem Aufkommen der Streamer und gerade in der jungen Zielgruppe erfolgreichen Formaten wie »Making a Murderer« von 2015 ist eine Netflixisierung des Dokumentarfilms zu beobachten, was in Doku-Gassenhauern wie »Framing Britney Spears« oder »The Tinder Swindler« mündet und sicher auch neue Zuschauer für ein Dokumentarfilmfestival wie das in München generiert hat.
Es ist das letzte Wort nicht gesprochen, wir sind in einer dynamischen Entwicklung. Noch aber geht es bei den Dokumentarformaten im Streamingbereich um Spektakuläres, Spekulatives, Beliebiges – eine Mainstream-Eventisierung, wie sie sehr schön im Eröffnungsfilm Nawalny zu beobachten ist. Was heißt das für den kleinen beobachtenden Dokumentarfilm, was muss er leisten können, um heutzutage Resonanz zu bekommen? Um so wichtiger ist der kundige kuratorische Blick, von öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wie von Filmfestivals, ob nun in Präsenz oder als Hybrid.
Das ist nach wie vor eine der Stärken des DOK.fests, es ist bemerkenswert, von welch hoher Qualität die eingeladenen Filme sind. Wie immer ist es schwer, bei der Zahl von 124 Filmen aus 55 Ländern einen roten Faden auszumachen, wenn man nicht gerade den Kategorien des Festivals folgen möchte, wie etwa dem Themenschwerpunkt »Brave New Work« mit sieben Filmen über die Realität von Arbeit, der Retrospektive über »Francos Schatten« – passend dazu ist Spanien das diesjährige Gastland – oder der Hommage an die große Schweizer Regisseurin Heidi Specogna.
Was die viel schönere Übung ist, als künstlich nach der einen gemeinsamen Linie zu suchen – eigene Querverbindungen zu ziehen, denn ganz im Sinne eines dualen Gesamtkonzeptes lassen sich viele Komplementärpaare aufstellen, filmische Geschwister im Geiste, die miteinander, auch sektionsübergreifend, zu kommunizieren scheinen.
Beeindruckend etwa, wie der fast wortlose Berg (DOK.panorama, Niederlande 2021, Regie: Joke Olthaar) in elegischen Schwarz-Weiß-Bildern wie Kupferstiche dazu verleitet, sich ganz in seinen magischen Bann zu begeben, während der visuell deutlich eklektischere Fire of Love (DOK.international, Kanada/USA 2022, Regie: Sara Dosa) einem tragisch ums Leben gekommenen Vulkanforscherpaar aus deren eigenen Archivmaterial ein Denkmal aus Herz, Feuer und Asche baut.
Oder man nehme Pornfluencer (DOK.focus, Deutschland 2022, Regie: Joscha Bongard) und Girl Gang (DOK.deutsch, Schweiz 2022, Regie: Susanne Regina Meures) – beides Filme, die unsere unerbittlich schöne neue Welt behandeln, die zeigen, wie faszinierend und stumpf der digitale Raum sein und wie destruktiv völlig neue Potenziale wirken können, und gerade deswegen so viel über ihre Protagonist*innen, aber auch unser Leben aussagen, weil sie jeden vordergründigen Kommentar vermeiden. Ähnlich zurückgenommen erzählt der beeindruckende Berlin Bytch Love (DOK.deutsch, Deutschland 2022, Regie: Heiko Aufdermauer, Johannes Girke) die dem direkt entgegengesetzte Welt, in der Geschichte eines auf Berliner Straßen lebenden Teenagerpaares, voller Zärtlichkeit, ohne unnötig zu romantisieren.
Auch für Musik- und Bühnenfans hält das Programm einige Hochkaräter bereit, Dancing Pina (DOK.panorama, Deutschland 2022, Regie: Florian Heinzen-Ziob) nimmt einen mit auf die Bretter, die die Welt bedeuten, und lässt ganz ohne Pathos die Genese der Neuinszenierung von Pina Bauschs Werken miterleben, während LICHT. Stockhausen’s Legacy (Best of Fests, Niederlande 2021, Regie: Oeke Hoogendijk), eine ästhetisch ansprechende Klangreise darbietet, auf den Spuren des großen Karlheinz Stockhausen. Zwei bahnbrechende deutsche KünstlerInnen, rheinländische Zeitgenossen, die relevant geblieben sind.
Das Thema des Ukrainekrieges wird vom DOK.fest nicht nur in Form der russischen Opposition aufgegriffen, sondern findet sich in einigen hautnahen Beiträgen wieder. Trenches (DOK.international, Frankreich 2021, Regie: Loup Bureau) beschreibt in grauen Bildern den tristen Alltag im Donbass, einer Region im Dauerausnahmezustand, auf der Suche nach Normalität – wenige Monate bevor sich der Konflikt verschärfen sollte. Wo Loup Bureau die verhärtete Seele des Kollektivs interessiert, fokussiert sich Soldat Ahmet (DOK.international, Österreich 2021, Regie: Jannis Lenz) auf einen im Mittelpunkt stehenden Protagonisten – den österreichischen Soldaten Ahmet, der die Seele öffnen möchte, um seinen Traum der Schauspielerei verwirklichen zu können und uns dabei zeigt, dass der erste Eindruck sprichwörtlich entscheidend ist, nämlich entscheidend täuschen kann.
Als weiteres Double Feature ungeahnter Binnenperspektiven lassen sich Volksvertreter (DOK.deutsch, Deutschland 2021, Regie: Andreas Wilcke) und Zusammenleben (DOK.deutsch, Österreich 2022, Regie: Thomas Fürhapter) bündeln: ersterer beobachtet in nüchterner Zurückhaltung, gleichwohl demaskierend, wie die nicht ganz so normale deutsche Partei AfD politische Arbeit betreibt; letzterer belichtet in einem formal ganz anderen Ansatz gewissermaßen die andere Seite, nämlich die verpflichtenden Integrationskurse in Wien, wo jede Einstellung zu einem Porträt eines Menschen wird, der anders aussieht als die Mehrheit. Im Spannungsbereich dieser beiden Filme spielt sich tatsächlich die Frage ab, wie wir unser Zusammenleben definieren wollen, und wenn man sehen möchte, wie es schlechterdings laufen kann, sollte man den verstörenden No Place for You in Our Town (DOK.panorama, Bulgarien 2022, Regie: Nikolay Stefanov) mit in diese Runde nehmen, der einen intimen Einblick in die Lebenswelt bulgarischer Skinheads bietet.
Gegen all diese Kleinode muss Nawalny fast zwangsläufig abstinken, und selbst wenn er der brennenden Aktualität und des Starfaktors seines Protagonisten wegen wie der perfekte Eröffnungsfilm erscheint (die Zugkraft! die Öffentlichkeitswirkung!), bietet er doch nichts Neues. Der Inhalt ist jedem auch nur rudimentär politisch Interessiertem wohlbekannt – der Plot erstreckt sich von der Vergiftung Nawalnys bis zur Inhaftierung nach seiner Rückkehr nach Russland. Der spannendste Teil des Footages ging dabei schon vor knapp eineinhalb Jahren auf seinem eigenen YouTube-Kanal viral. Wir erleben einen von seiner Überzeugung getriebenen Menschen, und dennoch ist der von CNN Films und HBO Max für die eigenen Dienste produzierte Streifen weniger ein Porträt denn ein dokumentarischer Thriller, für ein Porträt fehlt eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Person, nur kurz wird seine pragmatische Nähe zu der russischen Rechte angerissen, seine fragwürdige Haltung zu Homosexuellen komplett ausgespart. Ebensowenig wird die Wahl seiner Kampfmittel, vornehmlich der sozialen Medien, problematisiert, mit denen er auf seine Weise nicht weniger manipuliert als die russische Staatspropaganda. Hier weicht die Dualität der Dinge einer plumpen Eindeutigkeit. Nawalny hat keinen Erkenntnisgewinn oder sonstigen Mehrwert, suggeriert aber gute und spannende Unterhaltung – insofern ist er die perfekte Streamingdoku, mit all den oben angesprochenen Fallstricken, weder exklusiv noch mit neuen Ausblicken für den Dokumentarfilm, sondern maximal gemainstreamt und dabei stramm rückwärtsgewandt.