arteshorts zum 37. DOK.fest München |
Von Redaktion
Nawalny (USA 2021, R: Daniel Roher) (DOK.Eröffnung)
Zwischen TikTok-Trend und Freiheitskampf. Russlands Giftanschlag auf den politischen Aktivisten Alexei Nawalny wird aufgedeckt. Schnell wird klar – für das russische Volk ist Nawalny das Symbol für Meinungsfreiheit und ein Hoffnungsschimmer für ein Ende der Korruption. In Daniel Rohers Porträt stellt man sich jedoch wiederholt die Frage: Kämpft er für sein Volk oder die eigene Publicity?
Trotz des True-Crime-Insiderfeelings, das durch Exklusivmaterial
gekonnt inszeniert wird, bleibt eine Leerstelle. Wirklich näher fühlt man sich der Medienfigur Nawalny dadurch nicht. Auch ein kurzer Schwenk auf seine Annäherung zu den russsichen Nationalisten erleichtert dies nicht, wird das Thema doch lediglich angerissen und das Publikum im Zwiespalt zurückgelassen. Diesen faden Beigeschmack kann selbst seine Familie beim Eselfüttern im idyllischen Schwarzwald-Exil nicht beseitigen. (Maria Feckl, LMU München)
Ein engagierter Anwalt bietet einem der mächtigsten Männer der Welt die Stirn: Daniel Rohers Film ist sowohl ein spannender und ergreifender Politthriller als auch ein verstörender Blick hinter die Kulissen eines Regimes der Unterdrückung. Mithilfe von Bildmaterial aus der ganzen Welt und einem kleinen Team rekonstruieren Nawalny und Roher die Ereignisse, die zur Vergiftung des Oppositionellen und später zu seiner Inhaftierung führten. Ihr Ziel: der Welt eine skrupellose russische Regierung vor Augen zu führen, die keinerlei Kritik zulässt. Nawalny ist gelungen und verblüffend zugleich. (Louisa Hoth, LMU München)
Daughters (Dänemark, Schweden 2022, R: Jennifer Malmquist) (DOK.panorama)
Mit unseren Geschwistern teilen wir im Ideal auf intimste Weise unser Leben. Unsere Eltern beeinflussen unser gemeinsames Aufwachsen unmittelbar und unausweichlich. Wir erwarten, dass sie uns auffangen, wenn wir fallen und uns ihre Anerkennung für unsere Erfolge zeigen. Was geschieht, wenn dieser Traum mit dem Suizid der Mutter wie ein großer, bunter Luftballon in der Hitze der Sonne zerplatzt? Wie erinnern wir uns und wie wollen wir uns erinnern? Wie teilen wir die Erinnerungen und wann? Welche Erinnerung bleibt? Und wo ist die Kamera, wenn sie uns von diesen drei Schwestern kurz nach dem Ereignis und vielleicht 15 Jahre später erzählt: extrem nah, mit harten Schnitten und gleichzeitig fließenden Wechseln in Zeit und Raum. (Tilla Harms, LMU München)
Dear Memories – Eine Reise mit dem Magnum Fotografen Thomas Hoepker (Deutschland, Schweiz 2021, R: Nahuel Lopez) (DOK.deutsch)
»Thomas, schau mal da!«, dieser Ausruf der resoluten Ehefrau nervt. Beim angesprochenen Thomas Hoepker, gefeierter Magnum-Fotograf, Jahrgang 1936, wurde vor einigen Jahren Alzheimer diagnostiziert. An Kollegen und viele Aspekte seines Lebens kann er sich nicht mehr erinnern, doch seine Leica gibt ihm immer noch Halt. Nahuel Lopez begleitet ihn und seine zweite Frau Christine auf einem Roadtrip quer durch die USA. Die oft unfreiwillige Komik der Krankheit schrammt haarscharf am Peinlichen vorbei. Doch was den Film rettet, sind die eingesprochenen Zitate aus Essays von Hoepker zur Fotografie, die vor seiner Erkrankung entstanden. Gemeinsam mit seinen idiografischen Fotos, etwa von Muhammad Ali, 9/11, New York oder Asien, porträtiert DEAR MEMORIES einen Künstler und Menschen, der mit seiner Kamera das Wesen der Dinge präzise erfassen konnte, ohne die Fotografierten bloßzustellen.
Dida (Schweiz 2021, R: Nikola Ilić) (Best of Fests)
Immer wenn ihr Sohn sie wieder verlässt, muss Dida weinen und hört auch nicht mehr damit auf. Und das sagt sie ihm auch. Dida gibt ihre gesamte Pension für glitzernde Plastikfiguren, Deko-Blumen und süße Hundekalender aus, und wenn die Zeugen Jehovas regelmäßig an ihrer Tür klingeln, lädt die alte Frau sie interessiert zum Kaffee herein. Humorvoll und leicht porträtieren Regisseur Nikola Ilic und seine Frau Corina Schwingruber seine Mutter, die plötzlich alleine leben muss, ihre Verlorenheit im Alter, und die Einsamkeit in ihrer völlig chaotischen Wohnung in Belgrad. Der Film ist der liebevoll betrachtende Blick eines Sohnes auf seine Mutter, der uns – ganz ohne dabei zu werten – auch in seinen Zwiespalt führt; seine Mutter alleine verkümmern lassen oder das eigene Leben in der Schweiz und seine Unabhängigkeit aufgeben. Ein herzliches und witziges Porträt, das Didas wunderlichem Charakter den Raum gibt, den er braucht und es so für uns unmöglich macht, sie nicht ehrlich ins Herz zu schließen. (Cecilia Ratibor, LMU München)
Children of the Mist (Vietnam 2021, R: Ha Le Diem) (DOK.Panorama)
Smartphones, Social Media, erste unschuldige Verliebtheiten und Online-Flirts – Auf den ersten Blick scheint die Jugend der 12-jährigen Di in einem kleinen Bergdorf in Vietnam gar nicht so fernab der uns bekannten Welt. Doch schnell wird uns, unter den bedrohlich schönen Bildern der undurchsichtigen Nebelschwaden klar, dass dieser Schein trügt. Gefangen in den Traditionen ihrer patriarchalen Heimatkultur leben die Töchter, während ihre Eltern sich hauptsächlich betrinken, mit der ständigen Gefahr, »entführt« zu werden und damit traditionell dem entführenden Mann zur Heirat verpflichtet zu sein. Die Regisseurin begleitet die Junge Di in ihre Familie, kommt ihr sehr nah und lässt so in ihrem Film schmerzhaft deutlich werden, wie nah solche gewaltvollen Realitäten uns doch sind. Children of the Mist zeigt die Verzweiflung und Zerrissenheit eines jungen selbstbewussten Mädchens, die der ständigen Bedrohung ausgesetzt ist, ihrer Kindheit und Freiheit beraubt zu werden. (Cecilia Ratibor, LMU München)
Young Plato (Belgien, Frankreich, Irland 2021, R: Neasa Ní Chianáin) (DOK.horizonte)
„If someone hits you, you must always hit them back“ – mit dieser Faustregel und dem damit einhergehenden Männlichkeitsbild, wachsen die Jungen in Belfast auf. In einem Viertel, gezeichnet von Gewalt und den brutalen Konflikten der Vergangenheit macht ein Lehrer der Jungenschule es sich zur Aufgabe, der neuen Generation zu vermitteln, wie sie mit Meinungsverschiedenheiten und vor allem mit ihren eigenen Gefühlen umgehen können – und zwar, indem er ihnen Philosophie unterrichtet. Der Film zeigt uns eine Schule und deren Pädagog*innen als eine rettende Insel in einem groben Umfeld, in denen den Jungen Härte abverlangt wird. Wir beobachten den Kampf der Jungen mit sich selbst und erleben die Kraft des Dialoges, des Zuhörens und Ernst-genommen-Werdens. Ein Film, der uns zeigt, was für eine immense Kraft in Pädagogik und der Lehre des Infrage-Stellens steckt. (Cecilia Ratibor, LMU München)
Escape to the Silver Globe (Polen 2021, R: Kuba Mikurda) (Best of Fests)
Into the heart of darkness, die Zeit des Kalten Krieges, Willkür, Ost-West, Zensur und zertrümmerte Träume führt ESCAPE TO THE SILVER GLOBE. Andrzej Żuławski, 1940 in Liwiw (damals Polen, heute Ukraine) geboren, in Paris aufgewachsen, war Regisseur, Autor und Europäer. Mit seinem Science-Fiction-Film ON THE SILVER GLOBE wollte er ein Meisterwerk schaffen. Es war eines der teuersten Projekte des polnischen Films, opulente Kostüme, exotische Drehorte, eine große Crew und ein charismatischer Regisseur, der seine Ideen kompromisslos durchsetzte und damit alle an ihre Grenzen brachte. Etwa zur gleichen Zeit begann George Lucas mit den Dreharbeiten von STAR WARS. Welcher der beiden Science-Fiction-Filme wäre erfolgreicher gewesen? Diese Frage bleibt unbeantwortet, denn die polnischen Behörden stoppten kurz vor Ende der Dreharbeiten aus politischen Gründen die Produktion. Neben Originalausschnitten aus dem verbotenen Film kommen Schauspieler, Crew-Mitglieder, sowie Żuławskis ältester Sohn Xawery zu Wort. Jeder erinnert sich an eine andere Person: an den abwesenden Vater, den talentierten Regisseur, den Charmeur, den Kompromisslosen, den Talentierten, den tragischen Helden. Interviewausschnitte mit dem 2016 verstorbenen Andrzej Żuławski ergänzen und widersprechen diesem Bild. Das immer mitschwingende „Was wäre wenn“ entwickelt so einen eigenen Zauber. (Ingrid Weidner)
Dancing Pina (Deutschland 2022, R: Florian Heinzen-Ziob) (DOK.panorama 2022)
Das Erbe von Pina Bausch soll mit Neu-Inszenierungen ihrer Werke lebendig bleiben. Eigentlich sollte Regisseur Florian Heinzen-Ziob nur einen dreiminütigen Werbefilm für die Pina-Bausch-Foundation drehen, doch stattdessen begleitete er jeweils über mehrere Monate das Ballett der Semperoper Dresden bei den Proben zu „Iphigenie auf Tauris“ sowie ein Ensemble der École de Sables in Senegal während ihrer Arbeit am Stück „Das Frühlingsopfer“. Während sich in Dresden klassisch ausgebildete Ballett-Tänzer:innen auf den modernen Tanz einlassen mussten, standen die 38 Tänzer:innen, die aus ganz Afrika an die École de Sables gekommen waren und oft keine professionelle Tanzausbildung mitbrachten, vor ganz anderen Herausforderungen: sie mussten ihre Zweifel beiseite schieben und gegen die eigene Unsicherheit antanzen. Beide Kompagnien nähern sich ganz unterschiedlich der Welt von Pina Bausch. Gemeinsam ist allen, dass sie hart für ihren Erfolg arbeiten mussten. Die strengen Lehrerinnen, ehemalige Tänzerinnen des Ensembles von Pina Bausch, die sie auf diesem Weg begleiteten, gelten als Gralshüterinnen des Werks und können ziemlich streng sein. (Ingrid Weidner)
Stand Up My Beauty (Deutschland, Schweiz 2021, R: Heidi Specogna) Hommage Heidi Specogna 2022
Jeden Abend tritt die Sängerin Nardos Wude Tesfaw in einem Musik-Club in Addis Ababa auf. Sie interpretiert die traditionelle äthiopische Azmari-Musik neu. Doch sie will mehr, nämlich eigene Texte schaffen und in ihr Repertoire aufnehmen. Nardos Ziel ist es, den Frauen in Äthiopien eine Stimme zu geben. Die Regisseurin Heidi Specogna begleitet die Sängerin zu den Proben, ihren Auftritten und bei der Recherche zu den Ursprüngen der Azmari-Musik. In Gesprächen mit Freundinnen, Musikerinnen oder den Frauen in ihrer Familie zeigt sich, wie tief verwurzelt die Strukturen sind, die Frauen benachteiligen, wegsperren und zum Schweigen bringen wollen. Doch die charismatische Sängerin lässt sich auch von persönlichen Rückschlägen nicht von ihrem Ziel abbringen. (Ingrid Weidner)
Ultraviolette and the Blood-Spitters Gang (Frankreich 2021, R: Robin Hunziger) (DOK.international)
Wollen wir Freunde sein? Mit dieser unschuldigen Frage beginnt eine Liebesgeschichte, so zart und gleichzeitig schonungslos, wie sie nur das Leben schreiben kann. Es ist das Jahr 1925. Marcelle und Emma erleben den stürmischen Sommer einer jungen Liebe. Doch der Herbst lässt sich nicht aufhalten – denn die Zukunft soll die beiden Frauen trennen: Emma beginnt ihre akademische Laufbahn, Marcelle bleibt in der Provinz zurück. Sie heißt nun Ultraviolette und muss sich den
schweren Seiten des Lebens stellen. Emma vergisst sie dabei jedoch nie.
Nach Emmas Tod stößt deren Familie auf Marcelles Briefe und fügt die Puzzleteile dieser geheimen Beziehung für das Publikum zusammen. Ein einfühlsames Porträt, das zeigt, wie nah Leidenschaft und Zerbrechlichkeit beieinander liegen. (Maria Feckl, LMU München)
Kalle Kosmonaut (Deutschland 2022, Regie: Tine Kugler, Günther Kurth) (Best of Fests)
Die Langzeitdokumentation des Autoren-Duos über Pascal, genannt Kalle, einen Jungen aus der Plattenbausiedlung in der Nähe der Allee der Kosmonauten in Berlin-Hellersdorf, beeindruckt durch die respektvolle Begleitung über ein Jahrzehnt. Kalle, Sohn einer allein erziehenden Mutter, ist um einen ehrlichen Weg bemüht, reflektiert seine prekäre Umgebung und formuliert genauso klar seine Vorstellungen von einer unbeschwerten Zukunft. Aber die Verhältnisse, die sind nicht so. Kalle, der kein „Ghettokind“ sein will, rutscht immer wieder ab – schließlich Drogen, schwere Körperverletzung. Der Sechzehnjährige muss vors Gericht, bereut die Tat, aber kann sein Befinden nicht in Worte fassen und wird zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Nach der Entlassung, nach der Einsamkeit in der Zelle ist der Weg zurück ins Leben steinig und es gibt leere Tage, da ist er zu nichts fähig. Doch Kalle gibt nicht auf: »Mein Leben soll nach oben gehen«. Ein Film, der nachwirkt. (Christel Strobel) -> Langkritik
Why We Fight? (Belgien 2021, R: Alain Platel, Miriam Devriendt) (Dok.panorama)
Die Regisseure Alain Platel und Mirjam Devriendt werfen die Zuschauer mitten in Tanzaufführungen eines belgischen Ensembles hinein. Zusammen mit den TänzerInnen begibt sich der Film auf eine Reise, die individuelle Bedeutung von Gewalt für die einzelnen DarstellerInnen und die Ursachen für Brutalität zu entdecken. Durch die geheimnisvolle, stürmische Musik von Gustav Mahler und die Nahaufnahmen der TänzerInnen während der eindrucksvollen Bühnenkämpfe fühlt man sich in die Szenen hineingezogen und erlebt die intensiven Emotionen mit. In intimen Interviews legen die DarstellerInnen dar, wie sie die Musik Mahlers inspiriert hat, reflektieren über ihre Motivation sowie ihr persönliches Verhältnis zu Gewalt. Währenddessen zeigt der Film schwarzweiße Archivdokumente aus der instabilen Welt des Ersten Weltkrieges sowie anderer Gewalterlebnisse. Die Schere zwischen Bild und Ton vereinfacht es, den Gefühlen und Überlegungen der Mitglieder des Ensembles zu folgen. Zum Schluss bleibt als Frage stehen: Ist es besser, das Glas immer halb leer zu sehen, um Veränderungen zu bewirken, und ist Gewalt notwendig? (Anna-Luisa Schiller, LMU München)
Woid (D 2022, R: Verena Wagner) (Student Awards, im Programm »Shorts 1«)
Enter the Woid! 40 Minuten im Wald – doch eigentlich nimmt man bald dessen Perspektive an und ist der Wald. Ist dann halb genervt von diesen Menschlein, die da ab und zu mal am Rand und in der Ferne reinkommen und rumg'schafteln. Andererseits weiß man auch, dass man schon ein paar Tausend Jahre da ist, wohl noch ein paar Tausend Jahre da sein wird – und sich das mit den Menschlein aussortiert. Meist scheinbar fast statische Bilder – und eine Tonspur, auf der es wuselt und west. Eine Art James Benning’s 5000 Trees, aber mit Gespür anstatt strengen Konzepts. (Thomas Willmann)
Hoamweh Lung (D 2021, R: Felix Klee) (Student Awards, im Programm »Shorts 1«)
Ein Pferd mit Heustaublunge, am Tag vor der Einschläferung. Ein Familienbauernhof, gut 350 Jahre im Gemäuer, zwei Wochen vor dem Verkauf. Letzte Aufnahmen in Schwarzweiß. So weit, so bodenständig. Aber den Rest der Trauerarbeit leistet Klee digital, mit Google Maps und in selbstbeigebrachter, selbstgebastelter 3D-Computergrafik. Die Vektor-Konturen des Hof-Grundrisses mit dem Mauszeiger nachzufahren, kann sein wie ein Streicheln zum Abschied. Und entgegen des dumpfen Klischees war Bayrisch schon immer auch eine Sprache fürs Philosophieren. @home sterben die Leut. (Thomas Willmann)
Donbas Days (Ukraine,/D 2021, R: Philipp Schaeffer) (Student Awards, im Programm »Shorts 1«)
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, ist beim Dokumentarfilm die halbe Kunst. Das, immerhin, hat der Film insofern geschafft, als er nun allein aufgrund seines Titels von einer ungeplant aktuellen Relevanz scheint. Nur: Die richtigen Leute, der richtige Blick machen die andere Dokukunsthälfte aus. Und Donbas Days begleitete Ende 2021 einen jungen tschechischen Jongleur, der da einfach so mal hingefahren ist. Nicht die »poetische« Variante davon, sondern ziemlich eitel und kaputt. Der Bub hat daddy issues, über die er aber nicht reden mag. Findet’s an der umkämpften Front in der Ukraine so viel toller als in Prag, weil die Leute hier »Seele« haben. Und der Film wirkt hilflos im Versuch, eine Haltung zu ihm zu finden. (Thomas Willmann)
Soldat Ahmet (Ö 2021, R: Jannis Lenz) (DOK. international)
Wann ist ein Mann ein Mann? Ahmet ist Sanitätssoldat, Boxer – und angehender Schauspieler. Ausgerechnet an Stanley aus Endstation Sehnsucht versucht er sich gleich. Zwischen Befehlston und Weinen auf Kommando ist eine ziemliche Kluft. Und wie erstrebenswert sind Stanleys selbstmitleidige Tränen überhaupt? Lenz beherrscht den distanzierten, realsatirischen Blick der österreichischen Schule, wie er mit seinem vorigen Soldatenfilm Battlefield bewies. Aber hier fasste er offenbar zuviel Sympathie zu seinem Protagonisten, um ihn bloßstellen zu wollen. Stilistisch lässt das den Film etwas im inneren Zwist – doch angesichts des schillernden Charmes, der fragilen Vielschichtigkeit Ahmets wäre alles andere falsch gewesen. (Thomas Willmann)
Anima – Die Kleider meines Vaters (D 2022, R: Uli Decker) (Münchner Premieren)
»Er hat es nie gesagt«, meint die Schwester. »Wir aber auch nicht«. Das »Ich hab Dich lieb« blieb wie so vieles auf der Strecke, weil der Vater in repressiven Zeiten, im konservativen Murnau eine Mauer um einen zentralen Teil seines Ichs baute. Was posthume Tochter-Vater-Auseinandersetzung hätte werden können, ist ein nachträglicher Liebesdienst: Der Film gibt dem Vater jene Stimme, die er seiner Lebzeit allein in seinen Tagebüchern verbarg. Ich persönlich fand Animationssquenzen, Nachvertonung, Musik ablenkend. Aber im Q&A wurde klar, dass gerade diese Elemente nicht nur Strategie sind, ein Mainstream-Publikum zu erreichen. Sondern für die Regisseurin der Zugang, sich überhaupt an das zu persönliche Thema zu wagen – ihr eigenes Versteckspiel. (Thomas Willmann)
How to Save a Dead Friend (Deutschland, Frankreich, Norwegen, Schweden 2022, R: Marusya Syroechkovskaya) (DOK.international 2022)
Marusya möchte sterben. Jedoch geht sie einen Kompromiss ein und gibt dem Leben noch eine Chance. Nachdem sie Kimi kennenlernt und sich in ihn verliebt, findet sie einen Anker aus ihrer Hoffnungslosigkeit. Indem sie ihr Leben die nächsten fünfzehn Jahre lang dokumentiert, beginnt sie, diesem nun Gestalt zu geben, anstatt es zu beenden.
Ein Film, bei dem das Medium mehr ist als nur es selbst, sondern auch für das Leben steht. Und für das Leben nach dem Tod. Eine
Liebesgeschichte, die beweist, wie kompromisslos das Leben einerseits sein kann und wie schön auf der anderen Seite – auch über den Tod hinaus. (Stella Kluge, LMU München)
Ayena (Indien/Korea/Litauen 2022, R: Siddhant Sarin, Debankon Solanky) (DOK.horizonte)
Es ist das völlig normale, alltägliche Leben in Delhi. Volle Züge, Menschen auf verschiedensten Gefährten überall, bunt, laut. Mitten drin die Protagonistinnen. Im Fokus stehen zwei Frauen, die an freien Tagen ihre Familie besuchen und sonst in einem Café arbeiten. Es bietet Frauen, die Opfer eines Säureangriffs geworden sind, einen sicheren Arbeitsplatz. Nach und nach wird deutlich, wie wichtig dieses Café für sie ist, dessen Gemeinschaft für sie wie eine Familie ist.
Der
Film reduziert die Frauen weder darauf, mit Säure attackiert worden zu sein, noch werden sie als Opfer dargestellt. Sie werden vielmehr als unabhängige, eigenständige Frauen portraitiert, die ihr Leben weiterleben, auch sie wenn etwas Schreckliches erlebt haben. Sie verstecken sich nicht, im Gegenteil – sie zeigen sich offen der Gesellschaft, aus der auch die kommen, die sie deformiert haben. (Paula Ruppert, LMU München)
Ask, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod (Deutschland 2022, R: Cem Kaya) (DOK.special 2022)
Sie wurden als Arbeiter gerufen, doch Menschen kamen an. Cem Kaya hat sich mit der Geschichte der türkischen »Gastarbeiter*innen« in Almanya beschäftigt. Er hat viel recherchiert und einen großartigen Film über die Geschichte der Einwanderung, die Bedeutung der Immigrant*innen für die Wirtschaft und den Rassismus gemacht. Der Film zeigt auch, wie die männlichen Arbeiter lernten mussten, mit ihrer Freizeit umzugehen. So stürmten sie zum Beispiel das Stuttgarter Bahnhofsbordell. Dort waren sie selbstverständlich willkommen. Die »Nachtigall von Köln«, die Sängerin Yüksel Özkasap, sang dazu im Culture Clash von diesen deutschen Mädchen, die für eine halbe Flasche Limonade zu haben seien. Es ist ein sehr kurzweiliger Film mit viel Musik: auf Kassetten, Hochzeitsfeiern und Konzerten. Und er kommt an bei den heutigen Kindern, die für ihre Eltern dolmetschen, und den deutschen Kindern, die es mega-cool finden, »türkisch Slang« zu sprechen. (Felicitas Hübner)
The Happy Worker (Finnland 2022, R: John Webster) (DOK.focus BRAVE NEW WORK)
Burnout vom Bullshit-Job, das kann schon mal passieren, in unserer modernen Arbeitswelt, wenn Menschen in Großraumbüros hocken und selbst nicht mehr verstehen, woran und wofür sie eigentlich arbeiten. John Webster lässt in The Happy Worker einige dieser Exemplare in einem Workshop über ihren Frust sprechen. Dazwischen montiert er Statistiken, die belegen, wie unzufrieden viele Beschäftigte sind. Zwar leuchten der Kulturanthropologe David Graeber und die Psychologin Christina Maslach den theoretischen Hintergrund dieses Phänomens erhellend aus, doch einen Ausweg aus dem Hamsterrad zeigen sie nicht. Stattdessen ergänzt der Regisseur sein Werk um viele witzige Animationen, lässt Kleinkinder Büroszenen nachspielen und sorgt mit einer amüsanten Erzählstimme für reichlich schwarzen Humor. (Ingrid Weidner)
Dragon Women (Belgien, Korea, Schweiz 2021, R: Frédérique de Montblanc) (DOK.focus BRAVE NEW WORK)
Niemand bekommt 200 Prozent, sagt die Protagonistin Alison in Dragon Women, denn in der Finanzbranche kommen Frauen nur sehr selten bis an die Spitze. Eine perfekte Karriere und ein ebensolches Familienleben lassen sich kaum miteinander vereinbaren, so die erfolgreiche Managerin, die es in der City of London ziemlich weit nach oben geschafft hat. Der Regisseurin Frédérique de Montblanc ist es gelungen, fünf dieser Exotinnen für ihren Film zu gewinnen. Sie zeigt die Managerinnen aus Europa und Asien im Büroalltag und privat, lässt sie über ihren Weg nach ganz oben sprechen, über männliche Netzwerke, Schwierigkeiten der Familienplanung und unrealistische Erwartungen. Ein interessanter Einblick in eine exklusive Arbeitswelt. (Ingrid Weidner)
Girl Gang (Schweiz 2022, R: Susanne Regina Meures) (DOK.deutsch 2022)
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste in ganzen Land? Susanne Regina Meures hat mit viel Geduld Leonie und ihre Eltern beim Berühmtwerden beobachtet. Die minderjährige Leonie will Influencerin werden. Der Vater hat seinen eigenen Beruf aufgegeben, um Manager und Fotograf der Tochter sein zu können. Leonie montiert flotte Werbefilmchen für sich selbst und andere quietschbunte Produkte. Ihre weibliche Community giert nach ihrem Idol, und dieses verliert schon mal den Boden unter den Füßen, wenn das Internet eine halbe Stunde nicht funktioniert. Authentizität und ein normales soziales Leben werden für den großen Traum von Geld, hohen Click-Zahlen und Berühmtsein geopfert. Mit bewunderswerter Gutmütigkeit hat Susanne Regina Meures dem turbulenten Irrsinn ganz wertfrei zugesehen. (Felicitas Hübner)
No Place for You in Our Town (Bulgarien 2022, R: Nikolay Stefanov) (DOK.panorama)
Schlägereien, Rassismus, Homophobie, dauerhafte Aggression und dergleichen mehr kennzeichnen das Leben; die Gewalt wird aktiv gesucht, auf fehlende Toleranz ist man stolz. Oder so ist zumindest der erste Eindruck, den man vermittelt bekommt. Bis zu dem Punkt, an dem der Film seinem Protagonisten die Möglichkeit gibt, sich auch durch Worte statt Taten zu erklären, wobei die Kamera plötzlich ruhig steht und nicht hektisch mit den Menschen mitwackelt. Durch die Widersprüchlichkeit, die dadurch zutage tritt, wird jedoch kein Urteil gefällt. Man hat vielmehr das Gefühl, sich selbst ein Bild von einem Menschen machen zu können, der von sich behauptet, »gerne« extremistisch zu sein und gleichzeitig seinen Sohn frei von Vorurteilen erziehen möchte. Ein Film, der einen nachdenklich zurücklässt. (Paula Ruppert, LMU München)
Girl Gang (Schweiz 2022, R: Susanne Regina Meures) (DOK.deutsch)
Mit 13 Jahren begann Leonie, ein Teenager aus Berlin, auf Instagram kleine Filme von sich und ihrem Leben hochzuladen. Schnell erkennen ihre Eltern Andy und Sani, dass sich mit den Followern viel Geld verdienen lässt. Vier Jahre begleitet die Regisseurin Susanne Regina Meures für Girl Gang die junge Influencerin und kommt ihr und ihrem Kosmos sehr nah. Das Gespräch mit einem Social-Media-Manager, der das Mädchen unter Vertrag nehmen möchte, zeigt die
Brutalität des Geschäfts. Am Telefon sagt er zu einer Kollegin: »Ich habe neue Ware auf der Rückbank«, und meint damit Leonie und ihre Eltern, die er vom Flughafen abgeholt hat. Aber die Eltern übernehmen das Management ihrer Tochter selbst und schaffen sich damit eine berufliche Perspektive.
Der Film zeigt einen Ausschnitt aus dem harten Knochenjob einer Influencerin, die fast den ganzen Tag damit beschäftigt ist, sich zu schminken, umzuziehen sowie Filme über sich zu drehen und
anschließend die Wirkung im Netz zu verfolgen, angetrieben von ihren Eltern. In kurzen Interviewsequenzen sprechen Andy und Sani zwar über Skrupel, ihre Tochter so ins Rampenlicht zu zerren, doch gleichzeitig fasziniert sie auch die bunte Social-Media-Welt und das große Geld. Der Influencerin geht es ähnlich wie ihren Eltern: auch sie ist fasziniert vom virtuellen Paralleluniversum. In einem Nebensatz erzählt sie, dass sie eigentlich nur zwei gute Freundinnen hat. Allerdings
mehr als 1,6 Millionen Follower, was immer das auch heißen mag. (Ingrid Weidner)
Teorema de tiempo (Mexiko 2022, R: Andrés Kaiser) (DOK.panorama)
Aus dem umfangreichen Filmarchiv der Familie rekonstruiert Andrés Kaiser in Teorema de tiempo das Leben seiner Großeltern in Mexiko. Neben den selbst gedrehten Filmen von Oma und Opa, die aus der Schweiz eingewandert waren, montiert der Regisseur deren Briefe zu einer Erzählebene und versucht zu verstehen, wie es gewesen sein könnte. Zwar kommt er seinem Großvater, der eigentlich Künstler werde wollte, aber wohl mehr ein Hochstapler war, sowie der kunstaffinen Großmutter nah, doch so richtig lässt sich deren (Lebens-)Geheimnis nicht lüften. (Ingrid Weidner)
Imad’s Childhood (Schweden 2021, R: Zahavi Sanjavi) (Best of Fests)
»Can he ever be normal again?« – eine Frage, die nicht nur die schwer traumatisierte Mutter des vierjährigen Imads sichtbar zu quälen scheint, sondern deren Auflösung sich ebenfalls die Zuschauenden herbeisehnen. Ein Film, der nur eines von vielen Schicksalen der unverschuldet in die Gewalt des sogenannten Islamischen Staates geratenen Zivilbevölkerung erzählt, gleichzeitig aber auch die Menschlichkeit in den Fokus rückt. Von der Schwierigkeit, das Erlebte zu bewältigen und dem verzweifelten Versuch, ein Kind zu lieben, das nicht mehr geliebt werden will. Mensch-Sein (wieder) erlernen – ein Ding der Unmöglichkeit? (Katrin Mühlberg, LMU München)
Soldat Ahmet (Österreich 2021, R: Jannis Lenz) (DOK.international)
Ahmet will weinen, aber kann einfach nicht. Er schlägt auf den Boxsack ein, bis ihm der Schweiß vom ganzen Körper tropft. Aber die Tränen, die der Soldat des österreichischen Bundesheers in seinem Schauspielkurs hervorbringen soll, kommen nicht. Schauspiel ist Ahmets Kindheitstraum, den der Regisseur Jannis Lenz ihm mit seinem dokumentarischen Filmportrait erfüllen konnte. Ahmet hat Sehnsucht nach Gefühlsäußerung, ist aber irgendwie isoliert und auf der Suche. Ratlos vielleicht, aber nicht tatenlos. Einfühlsam zeigt Soldat Ahmet einen Menschen, ohne ihn erklären zu wollen. (Klara Kiendl, LMU München)
Boxen, Schauspielerei, Zeit bei der Familie und Dienst im Bundesheer sind trotz eindeutiger markanter Unterschiede keinesfalls unvereinbar. Um dies zu zeigen, wird das Leben eines jungen österreichischen Mannes mit türkischen Wurzeln portraitiert, der genau diese Vereinbarkeit erreichen möchte. Er wird durchweg sympathisch dargestellt; durch die direkte Gegenüberstellung und Aneinanderreihung von Episoden aus seinen verschiedenen Tätigkeiten werden
verschiedene Facetten beleuchtet.
Es entsteht jedoch auch der Eindruck, er würde überall nur eine Rolle spielen. Dies wird auch durch den teils etwas verwirrenden Ton vermittelt; Geräusche der Kaserne, des Boxens und Konsonantenübungen werden vermischt, so dass der Eindruck einer künstlichen Inszenierung entsteht. All dies schafft das latente Gefühl, es handle sich bei allem nur um ein Spiel, was allerdings gerade mit Blick auf die militärische Situierung teils fehl am Platz
erscheint. (Paula Ruppert, LMU München)
Nawalny (USA 2021, R: Daniel Roher) (DOK.international)
Opposition im Hochglanzformat. Alexei Anatoljewitsch Nawalny weiß sich zu präsentieren. Er ist ein eloquenter und gut frisierter Medienliebling. Er ist ein Profi auf allen Social-Media-Kanälen. Selbst im Gefängnis kann die Kamera dabei sein. Regisseur Daniel Roher zeigt den russischen Oppositionellen in einigermaßen seriösen Interview-Situationen. Zuweilen driftet er jedoch im Home-Story-Gefilde auf TikTok-Niveau ab. Roher lässt immerhin Nawalnys nationalistische Vergangenheit nicht aus. Doch bleibt ein schaler Nachgeschmack. Würde er ein besserer Präsident als Putin sein können? (Felicitas Hübner)
Nach der Arbeit (DE 2021, R: Alexander Riedel) (DOK.focus BRAVE NEW WORK)
Gibt es ein Leben nach der Arbeit? Drei Jahre lang hat Alexander Riedel Menschen im Übergang aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand portraitiert, dabei starke Protagonist*innen gefunden, die jede und jeder für sich ein kleines Universum eröffnen: Da ist die Schauspielerin, die im Alter keine Rollen mehr bekommt. Da ist der türkische Busfahrer, der sein ganzes Leben lang in Deutschland gearbeitet hat und jetzt zurück in die Heimat geht. Da ist die Lehrerin, die noch einmal das Leben umarmen will und ihren Förster-Gatten allein in seinem Wald zurücklässt. Da ist der Stahlarbeiter, der sich für die nächste Generation einsetzt. Und da ist das Ehepaar, das ihr Lebenswerk an die nächste Generation übergeben will und dabei auf allerhand Widerstand stößt – ein leidiges Lied, von dem viele Familienbetriebe (sei es in der Agrarwirtschaft, im Handwerk oder gar in der Schaustellerei, also zum Beispiel im Kinobetrieb) wissen. Fünf Schicksale, die individuell und doch repräsentativ für den jeweiligen Berufsstand sind, geben sich in dem Film die Klinke in die Hand. Eine unaufgeregte Bestandsaufnahme, die auf Fortsetzung wartet. (Dunja Bialas)
Endlich Ruhe? Oder lieber doch nicht? Ein freundlicher Dokumentarfilm über gut situierte (Ex-)Arbeitnehmer*innen und Rentner*innen in spe zwischen Abschied und Neuanfang, in dem Übergang vom Highspeed-Hamsterrad in die Vollbremsung. Nicht alle überleben im wirklichen Leben die kritischen Monate nach dem Renteneintritt. Doch Alexander Riedels rüstige Senior*innen brillieren zwischen Wäscheaufhängen und Fruchtspießchenvertilgen vor der Kamera. Manchmal etwas zu langatmig und behäbig. Die Geschichten plätschern streckenweise an der Oberfläche und lassen Tiefenschärfe vermissen. Eine Auswahl von Protagonist*innen aus unterschiedlicheren Milieus hätten den Film spannender gemacht. (Felicitas Hübner)
Children of the Mist (Vietnam 2021, R: Diem Ha Le) (DOK.horizonte)
Die ungezwungen-fröhlichen Spiele lachender Kinder sind meistens eine Freude zum Zusehen. Umso tragischer scheint es, wenn eine Kindheit von einem Tag auf den anderen endet und die Spiele traurige Realität werden. In den nebelverhangenen Bergen Nordvietnams passiert genau das – durch ein kurzes, pubertäres Flirten mit einem Jungen wird das Spiel des Brautraubs sowie arrangierter und erzwungener Heirat plötzlich bittere Wirklichkeit.
Ohne dramatische Musik und
hektische Schnitte wird das schlichte Leben in einer abgeschiedenen Gesellschaft umso eindrücklicher gezeigt, die versucht, den Spagat zwischen Fortschritt und Tradition zu bewältigen. Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, das der Spannung zwischen Selbstbestimmung und traditioneller Erwartung standhalten muss; und am Ende hat man eher den Eindruck, dass die Nebelschwaden in den Bergen nicht nur zur Idylle der Kindheit beitragen, sondern auch Gefahren bergen. (Paula Ruppert,
LMU München)
918 Nights (918 Gau) (SPA 2021, R: Arantza Santesteban) (DOK.guest Spanien)
Widerstand gegen das Heldentum. 2007 kam die Baskin Arantza Santesteban wegen politischer Aktivitäten in den Knast, 918 Nächte lang. Ab da galt sie in ihrem Viertel als Märtyrerin, mit Vorzugspreisen in allen Geschäften. Zuviel der Heldenverehrung, sagte sie sich und ging nach Berlin, um Film zu studieren. Ihre Geschichte wurde zur Attraktion unter den Kommilitonen, die den Filmstoff witterten. Jetzt, Jahre später, hat Santesteban eine sehr eigenwillige Interpretation ihrer Erfahrung geliefert. Kongenial taucht sie mit Verfremdungseffekten in ihr privates Archiv ein und kommentiert ihre Erlebnisse aus dem Off. Dazu webt sie eine – einmal auch eine sehr überraschende – Alter-Ego-Ebene ein. Mit intimen und imaginären Abwehrreaktionen widersetzt sich der Film der Heldenerzählung, um am Ende am sowjetischen Ehrenmal zu unerwarteter Aktualität zu finden. Der widerständige, experimentelle Debütfilm aus dem Baskenland wurde auf dem großen Festival DocLisboa mit dem Hautpreis als bester Film ausgezeichnet. (Dunja Bialas)
A House Made of Splinters (DNK, FIN, SWE, UKR 2022, R: Simon Lereng Wilmont) (DOK.international)
Ein Haus, in dem die unterschiedlichsten Dinge aufeinandertreffen: Gewalt, Wut und Tränen, aber auch Freundschaft, Hoffnung und Glück. Simon Wilmont filmt in A House Made of Splinters den schwierigen Alltag in einem Jugendheim der Ostukraine. Die Kinder und Jugendlichen sind gezeichnet von Krieg, Armut und dem Alkoholismus der Eltern. Mit fantastischen Bildern und zurückhaltender Regiearbeit zeigt dieser wichtige Dokumentarfilm die Ungewissheit der Zukunft und die Prägung der Vergangenheit, die das junge Leben der Bewohner zeichnen. Aber dazwischen auch immer wieder die positiven Seiten, die eine wirkliche Besserung versprechen. (Matthias Pfeiffer)
Überforderung, Depression, Hoffnungslosigkeit. Gewalt, Alkohol, Teufelskreis. Dysphorische Dreiklänge bestimmen die Welt der Kinder in einem Wohnheim im äußeren Osten der Ukraine. Es ist die Zeit nach 2014, die russischen Separatisten haben die Region in kämpferische Auseinandersetzungen hineingezogen. Kinderschicksale in Nahaufnahme, Hoffnung oder Lösung ist nicht in Sicht. Aber zumindest Humanität durch die liebevolle Arbeit der Sozialarbeiterinnen, die immer wieder empfindlich an ihre Grenzen stößt: der Administration, der Menschen, des Machbaren. Das alles ist anrührig genug. Die Geigen, die Wilmont die ohnehin schon herzzerreißenden Szenen untermalen lässt, geben leider den schalen Beigeschmack von überflüssiger Effekthascherei. (Dunja Bialas)
Volksvertreter (D 2021, R: Andreas Wilcke) (DOK.deutsch)
»Wir werden sie jagen!« Mit diesem Satz unterstrich Alexander Gauland 2017 den Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag. Was man nun in Andreas Wilckes Film sieht, hat mit einer wilden Jagd nicht viel zu tun. Der Politalltag für die vier Abgeordneten, die er begleitet, besteht in erster Linie aus rhetorischem Herumgefeile, Selbstmitleid und vor allem Videodrehs für den Social-Media-Moloch. Diese Nüchternheit ist es, die »Volksvertreter« zu einen gelungenen Film macht. Er inszeniert die Beteiligten nicht als bitterböse Ungeheuer, die den Staat stürzen wollen. So kontrastiert er gleichzeitig wunderbar das steife, pathetische Auftreten der Beteiligten. Ansonsten hält sich Wilcke mit Wertungen zurück, sodass die Zuschauer selbst entscheiden müssen, wo hier bloßer Populismus und unter Umständen auch ein wahrer Kern vorherrscht. (Matthias Pfeiffer)
How to Save a Dead Friend (D/F/N/S 2022, R: Marusya Syroechkovskaya) (DOK.international)
Gelingt die Rettung des »toten« Freundes? Die ersten Minuten dieses Films geben schon eine ernüchternde Antwort. Mit 16 lernt die depressiv-suizidale Marusya Kimi kennen, der sich in dieser Zeit in der gleichen Abwärtsspirale befindet. Aus gemeinsamem Leiden, Joy Division und Drogen entsteht sofort eine innige Beziehung. Letztere fordern dann jedoch ihren unbarmherzigen Tribut. Aus einer Zusammenstellung von Privataufnahmen entsteht ein dunkles Porträt, das in dieser Generation Russlands kein Einzelfall ist. Dieser Film ist wirklich nicht einfach anzusehen, genießen kann man ihn so gut wie gar nicht. Aber trotzdem ist es ein Beitrag, den man erlebt haben sollte. Einen derart vorurteilsfreien Blick in eine verlorene Seele und die Umstände, die ihren Zustand bedingen, bekommt man selten. (Matthias Pfeiffer)
Geschlossene Gesellschaft (D 2022, R: Hans von Brockhausen, Max Weishaupt) (DOK.special)
Will man jetzt, wo doch die Freiheit wieder so schön lächelt, noch was von der Pandemie-Zeit sehen? Der Blick in Geschlossene Gesellschaft lohnt sich auf jeden Fall. Er geht weg von der Perspektive der Daheimgebliebenen (also der unseren) und zeigt den Corona-Alltag von vier Münchner Institutionen des Nachtlebens. An den Beispielen von P1, Backstage, Milla und Harry Klein erfährt man, was der Lockdown für die Menschen hieß, deren Berufsleben auf einmal auf der Kippe stand. Geschlossene Gesellschaft hütet sich aber davor, eine wütende Anklage zu sein, sondern zeigt nüchtern Enttäuschung, Ärger, aber auch den Erfindungsreichtum, der aus einer solchen Ausnahmesituation entsteht. Und er verdeutlicht noch einmal, dass der Club mehr sein kann als eine hedonistischer Tanz- und Trinklocation. (Matthias Pfeiffer)
Licht. Stockhausen’s Legacy (NL 2021, R: Oeke Hoogendijk) (Best of Fests)
Er war einer der größten deutschen Nachkriegskomponisten. Das Werk Karlheinz Stockhausens ist wohl wie kein zweites unzugänglich und inspirierend zugleich. Mit »Licht«, einer 29-stündigen Oper, schuf er sein Magnus Opum, dessen Uraufführung er selbst nicht mehr miterleben konnte. Der Versuch, dieses im besten Sinne megalomanische Projekt zum Leben zu erwecken, lässt immer wieder realistische Voraussetzungen und künstlerische Vision aneinanderstoßen und ist somit auch ein Spiegel von Stockhausens Privatleben. Mitunter ist hier weniger die Arbeit an der Oper interessant, sondern die Nachwirkung des Komponisten, die sich in der abgöttischen Hingabe seiner Ex-Frauen, aber auch in der zweischneidigen Beziehung zu seinen Kindern zeigt. Das trägt manchmal groteske Züge, offenbart aber einen einzigartigen künstlerischen Mikrokosmos, dem man sich schwer entziehen kann. Egal, was man letzten Endes von der Musik oder der Persönlichkeit Stockhausens hält. (Matthias Pfeiffer)