19.05.2022

Küstendorf liegt in Serbien

Küstendorf Film & Music Festical Plakat
Instagram Artwork @ #kustendorf
(Foto: Küstendorf Film & Music Festical)

Die 15. Ausgabe von Emir Kusturicas legendärem Film- und Musikfestival »Küstendorf« hat Corona überwunden und überzeugt durch die alten Qualitäten: die ungewöhnliche Programmierung und die traumhafte Location

Von Christoph Becker & Axel Timo Purr

»Stra­zi­ante, mera­vigliosa bellezza del creato.« (Entsetz­liche, wunder­bare Schönheit der Schöpfung) – Pier Paolo Pasolini am Ende von Was sind die Wolken

Seit seiner Goldenen Palme mit seinem umstrit­tenen sati­ri­schen Jugo­sla­wien-Abgesang Under­ground (1995) und seiner in Venedig prämierten »Zigeuner-Komödie« Schwarze Katze, weißer Kater (1998) ist es Emir Kusturica zwar nicht wieder gelungen, die ganz großen inter­na­tio­nalen Erfolge seiner frühen Karriere zu wieder­holen (siehe auch Die Zeit der Zigeuner und Arizona Dream), aber ruhig ist es um Kusturica dennoch nicht geworden. Seien es seine im west­li­chen Europa immer wieder aneckenden poli­ti­schen Einlas­sungen zu Serbiens Vergan­gen­heit und Zukunft oder seine Freund­schaften zu Peter Handke oder dem gegen­wär­tigen russi­schen Vertei­di­gungs­mi­nister Sergei Schoigu – Kusturica gelang es so wie der Politik Serbiens unter Alek­sandar Vučić immer wieder, Anlass zu Kritik zu geben.

Emir Kusturica und Petar Božović
Emir Kusturica und Petar Božović, Küsten­dorf 2022 (Foto: Press Service Küsten­dorf Film Festival)

Aber Kusturica hat in den letzten Jahr­zehnten auch konse­quent an seinem Oeuvre weiter­ge­ar­beitet, hat mit On the Milky Road (2016) eine weitere Groteske über die Balkan­kriege geliefert und doku­men­ta­risch nach alter­na­tiven Rebellen für eine andere (Welt-) Politik gesucht und dabei Maradona (2008) und El Pepe (2018) gefunden. Und immer wieder hat Kusturica auch das Kino in die Realität überführt. Mit dem No Smoking Orchestra, das einige seiner Filme musi­ka­lisch unter­legte, ist er als Gitarrist auf große, lukrative Tourneen gegangen und hat mit den Tantiemen und dem virtuosen Kinobauer Chris­to­pher Mondt Kinos in Monte­negro, Bosnien und dem serbi­schen Küsten­dorf gebaut, wobei Küsten­dorf bislang das sicher bemer­kens­wer­teste Kino­pro­jekt ist, denn eigent­lich war die Hütten­an­samm­lung und die nicht weit entfernte Schmal­spur­ei­sen­bahn nur Kulisse für Kustu­ricas Balkan­kriegs­film Das Leben ist ein Wunder (2004).

Ein Film­fes­tival entsteht

Aber dann ging alles ganz schnell: innerhalb von nur drei Jahren mutierte die Häuser­an­samm­lung zu einem Dorf mit zwei Kinos und einem Festival, das seit seiner Gründung 2008 nicht nur konse­quent im Winter, Anfang Januar und immer wieder auch zum ortho­doxen Weih­nachts­fest, ausge­tragen wurde, sondern sich explizit jeder Roten-Teppich-Etikette verwehrte. Zwar wurden illustre Gäste wie Johnny Depp, Nikita Serge­je­witsch Michalkow oder Isabelle Huppert mit dem Hubschrauber einge­flogen und Peter Handke, Andreas Dresen, die Dardennes oder der Programm­chef der Film­fest­spiele von Cannes, Thierry Frémaux, mit Limou­sinen ins von Belgrad drei Stunden entfernte Küsten­dorf gefahren. Aber spätes­tens mit ihrer Ankunft verliefen sich die Hier­ar­chien, die nicht nur durch den dörf­li­chen Charakter und die gemein­samen Essen ausge­he­belt wurden, sondern auch durch bizarre Eröff­nungs­ze­re­mo­nien wie etwa jene im Jahr 2014, als anläss­lich des 100. Jahres­tages des Beginns des 1. Welt­kriegs eine Choreo­grafie im Schnee insze­niert wurde, in der der Atten­täter von Sarajevo, Gavrilo Princip, noch einmal den Thron­folger und seine Frau erschießen durfte, worauf das Festival mit einem impo­santen Feuerwerk über den schnee­be­deckten Bergen um Küsten­dorf eröffnet wurde.

Mit Corona musste jedoch auch Küsten­dorf pausieren, und sowohl Corona als auch der Ukraine-Krieg sind nicht spurlos an seinem Gründer vorbei­ge­gangen. In seiner Eröff­nungs­rede am 6. Mai sprach Kusturica kaum über das Festival und seine Filme, sondern vielmehr über die weltweit einge­schränkten Frei­heiten und bediente dabei haupt­säch­lich die verschwörungs­theo­re­ti­schen Narrative um Joe Bidens Ministry of Truth und Klaus Schwabs Great Reset.

Das Festival im Frühling

Und dann hat Küsten­dorf das erste Mal in all den Jahren wegen Corona nicht im Winter, sondern im Frühling 2022 statt­ge­funden. Küsten­dorf in der warmen Jahres­zeit ist inzwi­schen ein beliebtes Ausflugs­ziel für die Leute der näheren und weiteren Umgebung, liegt es doch malerisch zwischen grünen Bergen und Tälern. Schul­klassen, Familien und Paare flanieren zwischen den tradi­tio­nellen Häusern, Stände bieten regionale Köst­lich­keiten und Selbst­ge­stricktes an. Am Fuße des Berges liegt ein kleiner Bahnhof, von dem aus man mit der Schmal­spur­ei­sen­bahn zum nächsten Ort tuckern kann: Lummer­land meets Souvenir-Messe.

Die Kirche Küstendorfs
Warten auf die Ehren­gäste vor der ortho­doxen Kirche Küsten­dorfs (Foto: Axel Timo Purr)

Die Atmo­sphäre ist touris­tisch entspannt, Straßen, die nach Regis­seuren, Filmstars, Weltraum­fah­rern, Fußbal­lern oder Autoren benannt sind, belegen den komplexen Filmdorf-Charakter des Ganzen. Die zwei Kinos heißen »Stanley Kubrick-Theatre« und »Damned Yard Theatre«, Letzteres benannt nach einer Erzählung des jugo­sla­wi­schen Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­gers Ivo Andrić, dessen bahn­bre­chendes und als unver­filmbar geltendes Meis­ter­werk »Die Brücke über die Drina« seit Jahren Kustu­ricas filmi­sches Dauer­pro­jekt ist, für das er 2014 ein weiteres »Filmdorf«, Andrić­grad bei Višegrad, unweit der »Brücke« aus Andrics Roman, gebaut hat. Im nur eine halbe Stunde von Andrić­grad entfernten Küsten­dorf ist die Film­ku­lisse aller­dings erheblich facet­ten­rei­cher, hier hat sich Kusturica seine eigene kleine Kultur­welt geschaffen.

Der Ahnherr: Pier Paolo Pasolini

In dem Restau­rant für die Film­schaf­fenden und -Rezi­pie­renden stößt man etwa auf das foto­gra­fi­sche Porträt Pier Paolo Pasolinis, des dies­jäh­rigen Schutz­pa­trons des Festivals. In der soge­nannten »Retro­spec­tive of Greatness« sind von dem italie­ni­schen Dichter und Regisseur zwei Filme zu sehen: Große Vögel, kleine Vögel (1966) und sein Beitrag zu dem Episo­den­film Hexen von heute (1967), in dem alle Haupt­rollen der fünf Episoden von Silvana Mangano gespielt werden. Aus Letzterem ist auch das dies­jäh­rige Motto des Festivals entnommen: »Stra­zi­ante mera­vigliosa bellezza del creato« – ein in diesen Zeiten fast zynisch anmu­tendes Zitat, dessen im Film aufbe­rei­tete Wolken­me­ta­pher übrigens das Plakat des Festivals bildet und verblüf­fend dem Festival-Plakat des dies­jäh­rigen Wett­be­werbs in Cannes gleicht.

Pasolini
Pier Paolo Pasolini in Svetolik Zajcs Pasolini-Medley (Foto: Press Service Küsten­dorf Film Festival)

Während diese beiden Filmwerke, beide mit dem Komiker Totò als Haupt­dar­steller, den Zuschauer von heute wegen des stumm­film­haft-platten Humors und seiner entsetz­lich lang­wei­ligen Handlung ratlos zurück­lassen, zeigt der beein­dru­ckende Zusam­men­schnitt aus dem filmi­schen Gesamt­werk Pasolinis, der in der Eröff­nungs­ver­an­stal­tung gezeigt wird, schon eher seine Viel­sei­tig­keit und Bedeut­sam­keit für das inter­na­tio­nale Kino. Zwischen seinen bekannten Werken Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß von 1961 und Die 120 Tage von Sodom von 1975 warten sicher einige lohnende Filme auf eine Wieder­ent­de­ckung.

Der Wett­be­werb und die Preis­träger

Doch zurück zum Filmdorf. Zwischen den Ausflüg­lern sieht man immer wieder übernäch­tigte Filmleute zu den Film­vor­füh­rungen, Inter­views, in die Kneipen oder in das kleine Schwimmbad flanieren. Schließ­lich finden hier auch bei bestem Wetter ein Film­fes­tival und ein inter­na­tio­naler Wett­be­werb statt. Das Programm ist straff, ab 11.00 Uhr werden alte Klassiker wie Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens von F. W. Murnau oder Törichte Frauen (Foolish Wives) von Erich von Stroheim gezeigt, dann folgen um 14.00 Uhr aktuelle Filme von jungen Regis­seuren aus dem west­li­chen Balkan, die allesamt durch ihre aktuellen wie histo­ri­schen Bezüge über­zeugen, sei es Ivan Bakrač und sein düster die Schatten der Vergan­gen­heit auslo­tender After the Winter aus Monte­negro oder der sommer­liche, die Schatten der Gegenwart unter­wan­dernde und im letzten Jahr in Cannes prämierte Murina von der kroa­ti­schen Regis­seurin Antoneta Alamat Kusi­ja­nović.

After the Winter
Ivan Bakračs After the Winter (Foto: Press Service Küsten­dorf Film Festival)

Um 17.00 Uhr gibt es erfolg­reiche inter­na­tio­nale Filme wie Die Geschichte meiner Frau von Ildikó Enyedi oder den neuen Farhadi, bevor um 21.00 der Wett­be­werb startet: ausge­wählte inter­na­tio­nale Kurzfilme bis zu 45 Minuten Länge. Die Zeit danach gehört der Musik – Blues, Jazz, Funk – denn Küsten­dorf ist auch ein Musik­fes­tival. Danach beginnen die legen­dären Partys …

Der Wett­be­werb umfasste in diesem Jahr 15 Filme von sehr unter­schied­li­cher Länge. Die dies­jäh­rigen Sieger­filme um das »Goldene Ei« belegen recht gut den inter­na­tio­nalen Charakter des Festivals und die Vielfalt an Themen und Ansätzen. Die Auszeich­nungen der Jury belohnen aller­dings vor allem witzige, unter­halt­same Filme und scheinen Aktua­lität oder gesell­schaft­liche Relevanz weniger zu goutieren. Den ersten Platz belegt der Beitrag Clear Sky von Igor Tsoy (Kasach­stan) und Andrey Zamo­skovny (Russland), in dem ein Junge gezeigt wird, der in einem Streit unter Jungen persön­liche Gewalt erfährt, bevor er dann am Bild­schirm die Gewalt­bilder des 11. Septem­bers live miterlebt. Um diesen histo­ri­schen Moment zu doku­men­tieren, greift er wahllos eine Video­kas­sette aus dem Schrank und über­spielt unwis­sent­lich das Hoch­zeits­video seiner Eltern. Eine Reflexion über Gewalt und Erinnern, die zeigt, dass Kunst aus Russland nicht gleich­zu­setzen ist mit russi­scher Putin-Propa­ganda und dass es ein Fehler wäre, alle russi­schen Künstler unter Gene­ral­ver­dacht von allen Festivals auszu­schließen.

Clear Sky
Sieger im Wett­be­werb: der russische Beitrag Clear Sky (Foto: Press Service Küsten­dorf Film Festival)

Das »Silberne Ei« geht an den Deutschen Jannis Alexander Kiefer mit seinem provokant-skurrilen Film Good German Work (Kollegen), der an der Film­uni­ver­sität Babels­berg entstanden ist. Fritz Roth und Gisa Flake spielen darin zwei Kulis­sen­bauer, die sich in aller Selbst­ver­s­tänd­lich­keit in einem Filmset für einen Nazi-Film bewegen, wo sich schon mal ein Nazi-Darsteller in Unter­hosen probe­halber in einen Krema­to­ri­um­sofen legt und man in der Drehpause eine Zigarette mit einem Schau­spieler in KZ-Häft­lings­klei­dung raucht.
Das »Bronzene Ei« gewinnt der Schweizer Vanja Victor Kabir Tognola mit Danz­a­matta, einer kleinen Groteske über einen dauer­tan­zenden Partygast, der noch im Tode weiter­tanzt. Eine eher irri­tie­rende Jury­ent­schei­dung.
Den an den slowe­ni­schen Kame­ra­mann Vilko Filač, der viele Filme Kustu­ricas drehte, erin­nernden Spezi­al­preis bekommt der spanische Künstler Pablo Serret de Ena mit Useless opera singers. In diesem ambi­tio­nierten, sehr expe­ri­men­tellen Werk werden philo­so­phisch abstrakte Refle­xionen mit Bildern einer Polar­reise zu einer Film-Collage verar­beitet. In der Kategorie »Special Mention« gewinnt die spanische Schau­spie­lerin Verónica Echegui mit ihrem ersten Kurzfilm Tótem Loba, der ein zu einem Albtraum mutie­rendes Party-Wochen­ende thema­ti­siert.
Einen Preis verdient gehabt hätte sicher­lich auch der höchst aktuelle und politisch relevante Real News des schwei­ze­risch-serbi­schen Regis­seurs Luka Popadić. Die univer­selle Geschichte spielt während der Nato-Bombar­die­rung von Serbien im Jahr 1999 und begleitet einen jungen ameri­ka­ni­schen Jour­na­listen bei seinem ersten Auslands­ein­satz. Der anfangs idea­lis­ti­sche Reporter macht die bittere Erfahrung, dass seine kriti­schen Fragen bei den Kollegen und seinem Sender nicht erwünscht sind und er sich zwischen Anpassung und seinem eigenen Wahr­heits­an­spruch entscheiden muss. Eine zeitlose Kritik am Scheitern einer objek­tiven Medi­en­be­richt­erstat­tung.

Petar Bodzovic
Petar Božović in Svetolik Zajcs Hommage (Foto: Press Service Küsten­dorf Film Festival)

Mit dem »Tree of Life Award« (für kommende Projekte!) wurde der serbische Schau­spieler Petar Božović ausge­zeichnet, der nicht wie die großen Gäste in den letzten Jahren für diesen Preis mit dem Hubschrauber einge­flogen, sondern mit einem gewöhn­li­chen SUV gebracht wurde. Neben seinem Preis wurde Božović mit einem von Kustu­ricas altbe­währtem Editor Svetolik Zajc zusam­men­ge­schnit­tenen Medley seines Werkes belohnt, einem so bewe­genden wie aufre­genden Zeit­do­ku­ment des jugo­sla­wi­schen Films, das nicht nur von einem längst verges­senen Gesell­schafts­ent­wurf »Jugo­sla­wien« erzählt, sondern mehr noch von einer gesell­schaft­li­chen Lücke, die bislang nicht wieder gefüllt werden konnte.