Küstendorf liegt in Serbien |
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(Foto: Küstendorf Film & Music Festical) |
Von Christoph Becker & Axel Timo Purr
»Straziante, meravigliosa bellezza del creato.« (Entsetzliche, wunderbare Schönheit der Schöpfung) – Pier Paolo Pasolini am Ende von Was sind die Wolken
Seit seiner Goldenen Palme mit seinem umstrittenen satirischen Jugoslawien-Abgesang Underground (1995) und seiner in Venedig prämierten »Zigeuner-Komödie« Schwarze Katze, weißer Kater (1998) ist es Emir Kusturica zwar nicht wieder gelungen, die ganz großen internationalen Erfolge seiner frühen Karriere zu wiederholen (siehe auch Die Zeit der Zigeuner und Arizona Dream), aber ruhig ist es um Kusturica dennoch nicht geworden. Seien es seine im westlichen Europa immer wieder aneckenden politischen Einlassungen zu Serbiens Vergangenheit und Zukunft oder seine Freundschaften zu Peter Handke oder dem gegenwärtigen russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu – Kusturica gelang es so wie der Politik Serbiens unter Aleksandar Vučić immer wieder, Anlass zu Kritik zu geben.
Aber Kusturica hat in den letzten Jahrzehnten auch konsequent an seinem Oeuvre weitergearbeitet, hat mit On the Milky Road (2016) eine weitere Groteske über die Balkankriege geliefert und dokumentarisch nach alternativen Rebellen für eine andere (Welt-) Politik gesucht und dabei Maradona (2008) und El Pepe (2018) gefunden. Und immer wieder hat Kusturica auch das Kino in die Realität überführt. Mit dem No Smoking Orchestra, das einige seiner Filme musikalisch unterlegte, ist er als Gitarrist auf große, lukrative Tourneen gegangen und hat mit den Tantiemen und dem virtuosen Kinobauer Christopher Mondt Kinos in Montenegro, Bosnien und dem serbischen Küstendorf gebaut, wobei Küstendorf bislang das sicher bemerkenswerteste Kinoprojekt ist, denn eigentlich war die Hüttenansammlung und die nicht weit entfernte Schmalspureisenbahn nur Kulisse für Kusturicas Balkankriegsfilm Das Leben ist ein Wunder (2004).
Aber dann ging alles ganz schnell: innerhalb von nur drei Jahren mutierte die Häuseransammlung zu einem Dorf mit zwei Kinos und einem Festival, das seit seiner Gründung 2008 nicht nur konsequent im Winter, Anfang Januar und immer wieder auch zum orthodoxen Weihnachtsfest, ausgetragen wurde, sondern sich explizit jeder Roten-Teppich-Etikette verwehrte. Zwar wurden illustre Gäste wie Johnny Depp, Nikita Sergejewitsch Michalkow oder Isabelle Huppert mit dem Hubschrauber eingeflogen und Peter Handke, Andreas Dresen, die Dardennes oder der Programmchef der Filmfestspiele von Cannes, Thierry Frémaux, mit Limousinen ins von Belgrad drei Stunden entfernte Küstendorf gefahren. Aber spätestens mit ihrer Ankunft verliefen sich die Hierarchien, die nicht nur durch den dörflichen Charakter und die gemeinsamen Essen ausgehebelt wurden, sondern auch durch bizarre Eröffnungszeremonien wie etwa jene im Jahr 2014, als anlässlich des 100. Jahrestages des Beginns des 1. Weltkriegs eine Choreografie im Schnee inszeniert wurde, in der der Attentäter von Sarajevo, Gavrilo Princip, noch einmal den Thronfolger und seine Frau erschießen durfte, worauf das Festival mit einem imposanten Feuerwerk über den schneebedeckten Bergen um Küstendorf eröffnet wurde.
Mit Corona musste jedoch auch Küstendorf pausieren, und sowohl Corona als auch der Ukraine-Krieg sind nicht spurlos an seinem Gründer vorbeigegangen. In seiner Eröffnungsrede am 6. Mai sprach Kusturica kaum über das Festival und seine Filme, sondern vielmehr über die weltweit eingeschränkten Freiheiten und bediente dabei hauptsächlich die verschwörungstheoretischen Narrative um Joe Bidens Ministry of Truth und Klaus Schwabs Great Reset.
Und dann hat Küstendorf das erste Mal in all den Jahren wegen Corona nicht im Winter, sondern im Frühling 2022 stattgefunden. Küstendorf in der warmen Jahreszeit ist inzwischen ein beliebtes Ausflugsziel für die Leute der näheren und weiteren Umgebung, liegt es doch malerisch zwischen grünen Bergen und Tälern. Schulklassen, Familien und Paare flanieren zwischen den traditionellen Häusern, Stände bieten regionale Köstlichkeiten und Selbstgestricktes an. Am Fuße des Berges liegt ein kleiner Bahnhof, von dem aus man mit der Schmalspureisenbahn zum nächsten Ort tuckern kann: Lummerland meets Souvenir-Messe.
Die Atmosphäre ist touristisch entspannt, Straßen, die nach Regisseuren, Filmstars, Weltraumfahrern, Fußballern oder Autoren benannt sind, belegen den komplexen Filmdorf-Charakter des Ganzen. Die zwei Kinos heißen »Stanley Kubrick-Theatre« und »Damned Yard Theatre«, Letzteres benannt nach einer Erzählung des jugoslawischen Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić, dessen bahnbrechendes und als unverfilmbar geltendes Meisterwerk »Die Brücke über die Drina« seit Jahren Kusturicas filmisches Dauerprojekt ist, für das er 2014 ein weiteres »Filmdorf«, Andrićgrad bei Višegrad, unweit der »Brücke« aus Andrics Roman, gebaut hat. Im nur eine halbe Stunde von Andrićgrad entfernten Küstendorf ist die Filmkulisse allerdings erheblich facettenreicher, hier hat sich Kusturica seine eigene kleine Kulturwelt geschaffen.
In dem Restaurant für die Filmschaffenden und -Rezipierenden stößt man etwa auf das fotografische Porträt Pier Paolo Pasolinis, des diesjährigen Schutzpatrons des Festivals. In der sogenannten »Retrospective of Greatness« sind von dem italienischen Dichter und Regisseur zwei Filme zu sehen: Große Vögel, kleine Vögel (1966) und sein Beitrag zu dem Episodenfilm Hexen von heute (1967), in dem alle Hauptrollen der fünf Episoden von Silvana Mangano gespielt werden. Aus Letzterem ist auch das diesjährige Motto des Festivals entnommen: »Straziante meravigliosa bellezza del creato« – ein in diesen Zeiten fast zynisch anmutendes Zitat, dessen im Film aufbereitete Wolkenmetapher übrigens das Plakat des Festivals bildet und verblüffend dem Festival-Plakat des diesjährigen Wettbewerbs in Cannes gleicht.
Während diese beiden Filmwerke, beide mit dem Komiker Totò als Hauptdarsteller, den Zuschauer von heute wegen des stummfilmhaft-platten Humors und seiner entsetzlich langweiligen Handlung ratlos zurücklassen, zeigt der beeindruckende Zusammenschnitt aus dem filmischen Gesamtwerk Pasolinis, der in der Eröffnungsveranstaltung gezeigt wird, schon eher seine Vielseitigkeit und Bedeutsamkeit für das internationale Kino. Zwischen seinen bekannten Werken Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß von 1961 und Die 120 Tage von Sodom von 1975 warten sicher einige lohnende Filme auf eine Wiederentdeckung.
Doch zurück zum Filmdorf. Zwischen den Ausflüglern sieht man immer wieder übernächtigte Filmleute zu den Filmvorführungen, Interviews, in die Kneipen oder in das kleine Schwimmbad flanieren. Schließlich finden hier auch bei bestem Wetter ein Filmfestival und ein internationaler Wettbewerb statt. Das Programm ist straff, ab 11.00 Uhr werden alte Klassiker wie Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens von F. W. Murnau oder Törichte Frauen (Foolish Wives) von Erich von Stroheim gezeigt, dann folgen um 14.00 Uhr aktuelle Filme von jungen Regisseuren aus dem westlichen Balkan, die allesamt durch ihre aktuellen wie historischen Bezüge überzeugen, sei es Ivan Bakrač und sein düster die Schatten der Vergangenheit auslotender After the Winter aus Montenegro oder der sommerliche, die Schatten der Gegenwart unterwandernde und im letzten Jahr in Cannes prämierte Murina von der kroatischen Regisseurin Antoneta Alamat Kusijanović.
Um 17.00 Uhr gibt es erfolgreiche internationale Filme wie Die Geschichte meiner Frau von Ildikó Enyedi oder den neuen Farhadi, bevor um 21.00 der Wettbewerb startet: ausgewählte internationale Kurzfilme bis zu 45 Minuten Länge. Die Zeit danach gehört der Musik – Blues, Jazz, Funk – denn Küstendorf ist auch ein Musikfestival. Danach beginnen die legendären Partys …
Der Wettbewerb umfasste in diesem Jahr 15 Filme von sehr unterschiedlicher Länge. Die diesjährigen Siegerfilme um das »Goldene Ei« belegen recht gut den internationalen Charakter des Festivals und die Vielfalt an Themen und Ansätzen. Die Auszeichnungen der Jury belohnen allerdings vor allem witzige, unterhaltsame Filme und scheinen Aktualität oder gesellschaftliche Relevanz weniger zu goutieren. Den ersten Platz belegt der Beitrag Clear Sky von Igor Tsoy (Kasachstan) und Andrey Zamoskovny (Russland), in dem ein Junge gezeigt wird, der in einem Streit unter Jungen persönliche Gewalt erfährt, bevor er dann am Bildschirm die Gewaltbilder des 11. Septembers live miterlebt. Um diesen historischen Moment zu dokumentieren, greift er wahllos eine Videokassette aus dem Schrank und überspielt unwissentlich das Hochzeitsvideo seiner Eltern. Eine Reflexion über Gewalt und Erinnern, die zeigt, dass Kunst aus Russland nicht gleichzusetzen ist mit russischer Putin-Propaganda und dass es ein Fehler wäre, alle russischen Künstler unter Generalverdacht von allen Festivals auszuschließen.
Das »Silberne Ei« geht an den Deutschen Jannis Alexander Kiefer mit seinem provokant-skurrilen Film Good German Work (Kollegen), der an der Filmuniversität Babelsberg entstanden ist. Fritz Roth und Gisa Flake spielen darin zwei Kulissenbauer, die sich in aller Selbstverständlichkeit in einem Filmset für einen Nazi-Film bewegen, wo sich schon
mal ein Nazi-Darsteller in Unterhosen probehalber in einen Krematoriumsofen legt und man in der Drehpause eine Zigarette mit einem Schauspieler in KZ-Häftlingskleidung raucht.
Das »Bronzene Ei« gewinnt der Schweizer Vanja Victor Kabir Tognola mit Danzamatta, einer kleinen Groteske über einen dauertanzenden Partygast, der noch im Tode weitertanzt. Eine
eher irritierende Juryentscheidung.
Den an den slowenischen Kameramann Vilko Filač, der viele Filme Kusturicas drehte, erinnernden Spezialpreis bekommt der spanische Künstler Pablo Serret de Ena mit Useless opera singers. In diesem ambitionierten, sehr experimentellen Werk werden philosophisch abstrakte Reflexionen mit Bildern einer
Polarreise zu einer Film-Collage verarbeitet. In der Kategorie »Special Mention« gewinnt die spanische Schauspielerin Verónica Echegui mit ihrem ersten Kurzfilm Tótem Loba, der ein zu einem Albtraum mutierendes Party-Wochenende thematisiert.
Einen Preis verdient gehabt hätte sicherlich auch der höchst aktuelle und politisch relevante Real News des schweizerisch-serbischen Regisseurs Luka Popadić. Die universelle Geschichte spielt während der Nato-Bombardierung von Serbien im Jahr 1999 und begleitet einen jungen amerikanischen Journalisten bei seinem ersten Auslandseinsatz. Der anfangs idealistische Reporter macht die bittere Erfahrung, dass seine kritischen Fragen bei den
Kollegen und seinem Sender nicht erwünscht sind und er sich zwischen Anpassung und seinem eigenen Wahrheitsanspruch entscheiden muss. Eine zeitlose Kritik am Scheitern einer objektiven Medienberichterstattung.
Mit dem »Tree of Life Award« (für kommende Projekte!) wurde der serbische Schauspieler Petar Božović ausgezeichnet, der nicht wie die großen Gäste in den letzten Jahren für diesen Preis mit dem Hubschrauber eingeflogen, sondern mit einem gewöhnlichen SUV gebracht wurde. Neben seinem Preis wurde Božović mit einem von Kusturicas altbewährtem Editor Svetolik Zajc zusammengeschnittenen Medley seines Werkes belohnt, einem so bewegenden wie aufregenden Zeitdokument des jugoslawischen Films, das nicht nur von einem längst vergessenen Gesellschaftsentwurf »Jugoslawien« erzählt, sondern mehr noch von einer gesellschaftlichen Lücke, die bislang nicht wieder gefüllt werden konnte.