23.06.2022

»In heaven there’s no beer, that’s why we drink it here«

Mutter
Carolin Schmitz' Mutter sucht unter dem Sofa nach Flauschigkeit
(Foto: FILMFEST MÜNCHEN / Carolin Schmitz)

Das 39. Filmfest München kehrt in die Kinos und zu altem Format zurück und hält zum zweiten Mal die »Beergarden Convention« ab. Zum Auftakt des Filmfest München

Von Dunja Bialas

Der Clou des dies­jäh­rigen Filmfests ist die Wieder­ho­lung der letztes Jahr gestar­teten »Beer­garden Conven­tion« – und zwar als Bier­garten im Hof des Ameri­ka­hauses. Eine bi- und bier-laterale Kultur­ver­mitt­lung, die einer­seits die für auslän­di­sche Gäste so fremde Münchner Bier­gar­ten­tra­di­tion bereit­hält, gleich­zeitig aber auch Inter­na­tio­na­lität beweist, da der Bier­garten-Nachbau (norma­ler­weise gibt es dort keinen) der ameri­ka­ni­schen Vorliebe Tribut zollt, im ganzen Land Kopien von Bier­gärten zu errichten, die baye­ri­sches Lebens­ge­fühl vermit­teln. Den Bier­garten gibt’s diesmal also tatsäch­lich als »beer garden« und baye­ri­sche Gemüt­lich­keit auf ameri­ka­ni­sche Art. Im Bier­garten zu hocken ist, so weiß es das Filmfest, »the Munich way the industry works«.

Die Film­in­dus­trie wird auf dem Festival in München sehr groß geschrieben. Eine Reihe von Fach­ver­an­stal­tungen, oft in Zusam­men­ar­beit mit der Münchner Constantin, geben sich als Think Tank für die Branche. Inter­es­sant sein könnte das laute Nach­denken über Nach­hal­tig­keit, das gleich zwei Mal statt­findet, einmal durch die junge Münchner Gruppe »Unified Filmma­kers« mit eher akti­vis­tisch gestimmten Gästen, darunter auch die »Fridays for Future«-Mitbe­grün­derin Janine O’Keeffe, das andere Mal unter dem Stichwort »Green Motion«, das sich aus Constantin-Bran­chen­per­spek­tive ebenfalls dem Themen­kom­plex des Filme­ma­chens unter dem Klima­wandel widmet.

Future is Now

Es geht viel um Zukunft auf dem Filmfest. Unter anderem gibt es auch ein Gespräch zur »Zukunft der Film­ge­schichte« mit dem neun­zig­jäh­rigen Vordenker Alexander Kluge. Die Branche ist unter Corona in einen empfind­li­chen Zukunfts­stau geraten. So wurde die Novel­lie­rung des Film­för­de­rungs­ge­setzes ausge­setzt (bis auf minimale Ände­rungen zu den Auswir­kungen von »höherer Gewalt«), die Kinos füllen sich nur spärlich. Auch das Filmfest, das dieses Jahr zum ersten Mal seit 2019 wieder in sechs Münchner Kinos statt­findet (zum Glück wurden die Pop-up-Spiel­stätten abge­schafft!), sieht einer seitdem verän­derten Zukunft entgegen. Die sprich­wört­lich gewor­denen »Söder-Millionen«, mit denen der Freistaat das Filmfest für AR, VR, XR und andere tech­ni­sche Spie­le­reien fitmachen wollte, wurden still­schwei­gend wieder kassiert, weil die Stadt nicht mitzog. So muss sich das Filmfest München wie zuvor mit einem 3,5-Millionen-Etat zufrie­den­geben, hat damit aber immer noch mehr als doppelt so viel Geld als seine beiden großen Konkur­renten, das Filmfest Hamburg (1,1 Mio. Euro) und das Filmfest Mannheim-Heidel­berg (1,6 Mio. Euro).

120 Filme wurden zum Festival einge­laden, damit kehrt das Filmfest zu etwas schma­lerer Größe zurück, setzt aber wie vor der Pandemie auf die frischen Werke aus Cannes. Wichtiges Aushän­ge­schild ist die Reihe »Neues Deutsches Kino«, wo Welt­pre­mieren gezeigt werden. Lohnens­wert ist der Doku­men­tar­film Liebe Angst von Sandra Prechtel (übrigens die Schwester von »Abend­zei­tung«-Film­kri­tiker Adrian Prechtel), der von der drama­ti­schen Fami­li­en­ge­schichte der jüdischen Sängerin Kim Seligsohn erzählt und von unter­schied­li­chen Weisen, mit der Monströ­sität der Geschichte fertig­zu­werden. Ungewohnt hoch­ge­schlossen zeigt sich Anke Engelke in Mutter von Carolin Schmitz, die bekannt ist für ihren wunderbar formen­strengen Doku­men­tar­film Portraits deutscher Alko­ho­liker (2010). Schmitz lässt doku­men­ta­ri­sche Aussagen von verschie­denen Müttern in der von Engelke performten Kunst­figur in einer souver­änen One-Woman-Show zusam­men­fließen. Claudia Müller wiederum übersetzt in Elfriede Jelinek die kompro­miss­lose Sprache der Nobel­preis­trä­gerin in die komplexe Montage aus Off-Texten und O-Tönen. Gemeinsam mit Timo Müller, Regisseur des etwas zu ange­strengten Films Der Rote Berg, ist sie bei »Filmma­kers Live« als »Formen­spren­gerin« anzu­treffen.

Die Ukraine als Hologramm der Wirk­lich­keit

Das Talk­format des Filmfests, »Filmma­kers Live«, auf dem man die Filme­ma­cher bei konzen­trierten Themen-Diskus­sionen (und nicht nur Film­ge­sprächen) antreffen kann, sollte man viel­leicht besser »Meet the Filmma­kers« nennen. Jüngst hat der ukrai­ni­sche Präsident Wolodymyr Selenskij mit seinem Auftritt als Hologramm bewiesen, dass »live« noch lange nicht heißt, dass man auch anwesend ist. Gerade um Anwe­sen­heit aber geht es bei einem Festival, vor allem nach den pande­mi­schen Einschrän­kungen, auch wenn die Ankün­di­gung eines Panels zur Ukraine nicht nur thema­tisch noch im Vagen bleibt und keine Gäste nennt. Hinter den Kulissen jedoch bemüht man sich, u.a. um Maksym Nakon­echnyi, Regisseur des im Wett­be­werb »CineVi­sion« laufenden Butterfly Visions. Und fix kommt der in Berlin lebende Produzent Thanassis Karathanos von Mariu­polis 2 (»Spot­lights«).

Der Doku­men­tar­film Mariu­polis 2 ist bislang der einzige Film, der über den russi­schen Angriffs­krieg veröf­fent­licht wurde. Die Dreh­ar­beiten hat der litaui­sche Regisseur Mantas Kvedara­vičius mit seinem Leben bezahlt: Ende März wurde er in Mariupol von den Russen gefangen genommen und ermordet, viele berichten von Folter. Seine Lebens­ge­fährtin Hanna Bilobrova hat das gefilmte Material ins Ausland gebracht und der Film­edi­torin Dounia Sichov übergeben, die bereits Kvedara­vičius' ersten Mariu­polis-Film montiert hatte und den Aufnahmen erneut einen bestür­zenden Zusam­men­halt gibt. Aus der Perspek­tive der Bela­gerten doku­men­tiert Mariu­polis 2 die russi­schen Angriffe auf die Stadt. Der Film gibt Zeugnis ab von einem Leben unter Todes­angst; der Regisseur befindet sich zusammen mit mehreren Dutzend Männern und Frauen in einem Sammel­lager, das eine evan­ge­li­sche Kirche einge­richtet hat. Mariu­polis 2 kommt ganz ohne Kriegs­rhe­torik aus, er ist das Gegenteil der leeren Durch­hal­te­pa­rolen oder plaka­tiven Propa­ganda, und er ist auch nicht »infor­mativ«, keine Nach­rich­ten­ver­län­ge­rung. Kvedara­vičius' Film ist anrührend, zart­füh­lend, ruhig, beob­ach­tend. Und er ist auch kraftvoll, wenn in den kleinen Gesten von der großen Kata­strophe unserer Zeit erzählt wird. Einmal sieht man den Schatten des Filme­ma­chers, genauso real, zugleich an- und abwesend, wie ein Hologramm.

Der zweite Film aus der Ukraine, Butterfly Vision, wurde wie Mariu­polis 2 in Cannes urauf­ge­führt. Die Produ­zentin des Films, Darya Bassel, ist vor allem für Doku­men­tar­filme bekannt. Seit Kriegs­aus­bruch macht sie sich für die Sicht­bar­keit des ukrai­ni­schen Film­schaf­fens stark und lehnt gleich­zeitig den Auftritt russi­scher Filme­ma­cher auf Festivals ab: »Do you want to stop Russian aggres­sion? You should stop its culture from influ­en­cing your minds«, sagt sie auf Cineuropa.

Wider­sprüche runter­spülen

Ob ihr gefallen würde, dass das Filmfest auch dann Cannes folgt, wenn es neben den ukrai­ni­schen Filmen auch den russi­schen Regisseur Kirill Sere­bren­nikov einlädt? Er kommt tatsäch­lich nach München, so heißt es zumindest aus inof­fi­zi­ellen Filmfest-Kreisen, denn gleich zwei seiner Werke finden sich im dies­jäh­rigen Programm. In der neu einge­rich­teten Reihe »CineRe­bels« läuft Petrov’s Flu, der schon letztes Jahr in Cannes urauf­ge­führt wurde, und in »Spotlight« Tschai­kowsky’s Wife aus diesem Jahr. Finan­ziert hat die Filme der Oligarch Roman Abra­mo­vich, laut Sere­bren­nikov einer, der sich für die unab­hän­gige russische Kunst einsetzt. Mentor des Regis­seurs ist aber auch der ehemalige Putin-Berater Vladislav Surkov, was die Kennerin der russi­schen Kultur Béatrice Picon-Vallin in ihrem aufschluss­rei­chen Text »Asking the Right Questions« als »faus­ti­schen Pakt mit Mephis­to­pheles« bezeichnet (erschienen auf »Desk Russie«).

Eine weitere Plattform für das russische Film­schaffen, wie das Panel 2016, das sich dem »Neuen russi­schen Kino« widmete, wird es aber auf dem Filmfest München diesmal nicht geben. Die unaus­ge­spro­chenen Probleme und Ängste, die sich mit dem Ukraine-Krieg verbinden und nur schwer auszu­halten sind, lassen sich statt mit ins Leere laufenden Worten in der Beer­garden Conven­tion mit Bier verflüs­sigen, gemäß dem hedo­nis­ti­schen Motto: »In heaven there’s no beer, that’s why we drink it here.«