Vestra et nostra maxima culpa – Die Berlinale-Beichte |
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Beichtstuhl Berliner Art | ||
(Foto: T. Willmann) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Nach zwei Fasten-Jahren war es nun wieder eine Berlinale, wo an manchen Abenden ganz ungeplant und zwanglos ein Bier das andere ergab. An einem dieser Abende wankten wir auf dem Heimweg an einer Jugendherberge vorbei, die in einem einstigen Kloster untergebracht war. Wir suchten dort im Innenhof kurz Rast und Schutz vor der Berliner Februarwitterung – und fanden uns wieder in einem ausrangierten Beichtstuhl.
Es mag unsere Herkunft aus dem katholischen Bayern sein –
aber als wir da so saßen, erfasste uns doch ein Moment der inneren Einkehr. Und wir besannen uns all der Sünden unsererselbst wie der Berlinale…
I. Superbia
Warum sind wir eigentlich hier? Wozu braucht’s Kino (noch)? Ist es wirklich ein essentieller Teil der Kultur, des Menschseins, und gehört bedingungslos verteidigt gegen die Anfechtungen des Markts, der anderen Medien? Weil Kino die Welt zum besseren verändert? Oder bangen die Filmemachenden vielleicht nur eitel um das Publikum, das ihnen zuschauen soll bei Selbstfindung, Selbsttherapie auf großer Leinwand?
Die Frage nach der Zukunft des Kinos war sehr präsent auf dieser Berlinale, wurde grade in den ersten Tagen auf jeder Pressekonferenz gestellt und debattiert. Mitten in die üblichen, in diesem Rahmen 100% konsensfähigen Phrasen von dem ach so wichtigen Kino und der unverzichtbaren Kunst platzte dann Geraldine Chaplin rein, auf dem Podium zu Seneca, und mit der Autorität reichlicher Lebenserfahrung: »Movies don’t change anything.« Das habe schon ihr Vater gemerkt, damals beim Great Dictator. Geholfen habe der gar nichts, außer dass er Menschen zum Lachen brachte.
Es gibt kaum etwas Heilsameres, als dem Auftrieb um den Roten Teppich am Potsdamer Platz den Rücken zu kehren, und eine Runde durch den European Film Market im Gropiusbau zu drehen. Dort bekommt man das wahre Filmgeschäft (und den wahren Existenzgrund des ganzen Glamour-Überbaus) zu Gesicht. Hier sieht es aus, wie es auf jeder Branchen-Messe aussieht, gleich ob Filmgeschäft, Verlagswesen, Sanitärgewerbe oder Dübelhersteller. Und es ist deprimierend genug, an den genormten Messeständen hinter den Theken mit den genormten Handzetteln und Süßigkeitenschalen die Poster über Poster all der Filme hängen zu sehen, die hier auf internationale Verkäufe hoffen und zu ahnen, wie wenige von ihnen dabei ernsthafte Chancen haben, je profitabel zu werden – bis einem klar wird, wie sehr das alles schon jene Filme sind, die das enorme Glück hatten, überhaupt produziert zu werden, statt das üblichere Schicksal all der gescheiterten Projekte zu teilen, die nie das Licht auch nur einer Leinwand erblicken.
Freilich ist die Frage nicht neu, ob man Kino braucht – ob es zu mehr dient als bloßer Unterhaltung, und es unersetzlich durch andere Medien, Darreichungsformen ist. Doch mit solch einem Unterton wirklicher Verunsicherung wie auf dieser Berlinale hat man sie lange nicht mehr gehört.
Das hat gewiss zuvorderst rein wirtschaftliche Gründe. Aber es schien auch, dass nach den Jahren der Lockdown-Erfahrung nun eine seltsame Mischung herrscht aus Sehnsucht nach
Gemeinschaftserlebnis – und Gewöhnung an die Vereinzelung. Da ist Mitteilungsbedürfnis. Die Suche nach Verständnis. Nachdem man so lange nur sich selbst im Badezimmerspiegel gesehen hat und nun wieder mit echten, anderen Menschen redet. Aber oft auch das Gefühl, dass man verlernt hat, von anderem zu sprechen als sich selbst.
So dass es auf dieser Berlinale fast schon ein eigenes Sub-Genre gab der Filme, die – mal mit mehr, mal mit weniger Selbstironie – davon
handeln, wie Menschen autobiographische Kunst machen: She Came To Me, The Fabelmans, Arturo A Los 30.
Das Eine, was uns eint, ist der Wunsch, von uns selbst zu erzählen. Und zu hoffen, dass uns jemand zuhört.
II. Ira
Die Berlinale ist sehr bedacht um ihren Ruf als das politischste der europäischen A-Festivals und lässt sich nicht zweimal fragen, ob sie die gerechte Sache unterstützen kann. Nun hat ein staatlich gefördertes Filmfestival freilich einen begrenzten Rahmen, in dem es helfen kann. Doch sie kann denen eine Plattform bieten, denen Gehör zu schenken ist.
Wenn auf anderen Festivals nur gegen die High Heel Pflicht protestiert wird, gibt die Berlinale ihren legendären Läufer für allgemein relevantere Themen frei.
Am 18. Februar wurde auf dem Roten Teppich Solidarität mit der Protestbewegung im Iran verkündet, am 24. Februar wurde gegen den Angriffskrieg in der Ukraine protestiert. Aber bitte schießen Sie ihre medienwirksamen Erinnerungsfotos rechtzeitig, schließlich wird der Berlinale Palast vor und nach den Protesten
wieder für glamouröse Filmvorstellungen benötigt! Außerdem hat Disneyland Paris für das regelmäßige Abspielen seines Werbeclips auf der LED-Leinwand im Hintergrund bezahlt! Selbige LED-Leinwand, auf der eben noch ein Statement in einer Pressekonferenz bezüglich der prekären Lage der Künste in Griechenland verlesen wurde.
»Die Berlinale, das politischste A-Festival« – das wird so oft betont, bis es fast selbst wie ein Werbejingle wirkt. Was davon wirklich hängen bleibt, ist abzuwarten. Es bekommt das Geschmäckle einer Performance. Wie auch, wenn am Kaffeestand im Pressezentrum nicht einfach nur auf Kuhmilch verzichtet wird, sondern einen Theke, Wand, Servietten gar mit hipster-witzigen Parolen gegen Milchkonsum anraunzen. Es gibt nichts Gutes, außer man tutet es in die Welt hinaus.
Verstehen Sie uns nicht falsch: Bitte kämpfen und schreien und protestieren Sie mit aller Kraft und allem Elan weiter gegen die Ungerechtigkeiten, die Zumutungen und die Autokraten dieser Zeit!
Aber es ist schon ein bisserl lustig und befremdlich, wenn dem Widerstand ein festes Zeitfenster mit Absegnung der Security und Photo Op auf dem Roten Teppich eines Filmfestivals zugeteilt wird.
III. Gula
All das hat uns freilich nicht daran gehindert, der filmischen Völlerei zu frönen. Es mögen die Tage etwas seltener gewesen sein als gewohnt, an denen wir das Festival-Wunschziel von vier, fünf Filmen geschafft haben. Aber meist gelang es doch, eine cineastische Speisefolge zusammenzustellen, ohne sie mit zuviel Sättigungsbeilagen vollzustopfen. Und es waren durchaus ein paar Leckerbissen dabei.
Vitaly Mansky & Yevhen Titarenkos Shidny Front (Eastern Front) war – im heilsamen Kontrast zu Sean Penns Agitprop Superpower – ein Blick zwar auch auf die Schrecken des Kriegs. Doch jenseits von Adrenalin und Schlachten-Reportage kam man hier auch der anderen Realität des Kriegs näher: Dem Warten, dem Alltäglichen, Absurden, den Momenten vermeintlicher Normalität. Wo im Sanitäter-Quartier über die beste Bratpfanne für Burritos debattiert wird, während draußen Bomben fallen. Oder man einfach nur am Badesee hockt. Nein, all diesen Menschen war nie die Rolle »Kriegsopfer« zugeschrieben, in die sie medial eingekastelt werden – das sind Leute wie Du und ich, in deren Leben grad das Unfassbare reinkracht.
In Hello Dankness bastelt das Künstlerduo Soda Jerk ein Mosaik der Jahre 2016-2022 aus Film-, Serien-, Popkultur-Samples, (oft alt-rechten) Memes. Letztendlich mehr ein Stimmungsportrait als ein reflektiertes Statement mit großem Erkenntnisgewinn – aber ein sehr virtuoses.
Matt Johnsons Blackberry war ein hochvergnügliches kanadisches Pendant zu The Social Network, und in all seiner Komik doch ein cleveres Portrait der Melange aus tech-autistischen Kindsmännern und testosterontrunkenen Risikokapital-Bros, die dabei sind, unsere Welt nach ihrem Bilde neu zu erfinden.
Ein gelungener Genre-Film auf der Berlinale – das hat Seltenheitswert! Ein solches Exemplar fand sich in Talk To Me: Der Magazintext dazu war dermaßen dämlich, dass er tatsächlich unsere Neugier geweckt hat. Und siehe da: Es entpuppte sich als solider Horror von Leuten (das »RackaRacka«-Duo Danny & Michael Philippou), die merklich eine Affinität für das Genre haben und auch bereits Erfahrungen auf dem Gebiet gesammelt haben als Hilfskräfte am Set von Babadook. Zwar waren die Vorbilder deutlich genug zu erkennen. Aber die Besessenheit durch Geister als Partyspiel, als Metapher für Drogen war tatsächlich ein origineller Einfall.
Ein Bauarbeiter, der vor dem Sommer-Heimaturlaub in Rumänien noch aus seinem Kühlschrankinhalt Restl-Suppe kocht und unter befreundeten Leuten verteilt. Wobei er eine junge Frau kennenlernt, die im Wald Moose erforscht: Bas Devos’ HERE (verdienter Sieger in der Encounters-Reihe) mag in der Kurzbeschreibung fast klingen wie die Parodie eines Arthouse-Films – und ja, wir waren auch skeptisch. Aber innerhalb weniger Minuten hat er uns erobert, uns in seine Welt gezogen, auf seinen Groove gebracht. Das Herz schlägt lauter, aber der Puls wird ruhiger. Es kehrt Ruhe ein, man fängt an, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und wenn das Moos im Wald ist, dann ist es eben Moos im Wald. Aber so, wie das Moos, wenn man sehr genau hinschaut, eine Art Miniaturwald für sich ist, so ist HERE ein Mikrokosmos der Menschlichkeit. Und dann möchte man Suppe.
IV. Invidia
Aus den alten Zwängen ausbrechen, das ist der Berlinale unter der neuen Leitung doch nicht ganz gelungen. In der Lockdown-Berlinale 2021 hatten wir alle das Hochgefühl, es täte sich etwas. Als hätten die Berlinale und damit auch wir endlich die Kosslickschen Themenfilme, Altmeister-Nebenwerke, kleinen Fernsehspiele hinter uns gelassen.
Doch nun die Ernüchterung: Chatrians unbestreitbar treffsicherer Geschmack kann sich bisher nur (und immerhin) in der
Vermeidung wirklicher Unsäglichkeiten durchsetzen. Aber noch gelingt es nicht, wirkliche cineastische Highlights in den Wettbewerb zu ködern. Berlin ist und bleibt unter den europäischen A-Festivals einfach nicht jenes, wo es Filme hinzieht, die es sich aussuchen können. Die Realitäten des Markts und der Festivalpolitik geben nicht mehr her.
So blicken wir (und vermutlich auch das Berlinale Team) weiterhin neidisch gen Cannes und Venedig. (Oder auch nur Richtung Sommer,
wenn man ein ähnliches Programm-Niveau wenigstens an der Isar statt an der winterlich-ungastlichen Spree geboten bekommt.)
Während in Berlin die wahrhaft großen Nummern wie The Fabelmans und Tár nur auf Werbetour für den unmittelbar bevorstehenden deutschen Kinostart und auf ein paar letzte glamouröse
Promobilder vor der Oscarverleihung vorbeischauen und sich nicht einmal zu einer Pressekonferenz bequemen.
War in den Pestjahren oft die Rede davon, dass wir uns durch die Zwangspause wenigstens noch einmal neu besinnen können und müssen, was wir wahrhaft das Wesentliche finden, wir uns Gedanken machen, ob denn alles, was wir gewohnt waren, auch wiederkehren muss, und man eine Chance auf Reset und (besseren) Neuanfang witterte – so fühlte sich diese erste echte
Post-Pandemie-Berlinale doch sehr weitgehend schlicht nach der Rückkehr an des vorherigen Betriebs.
V. Acedia
Warum denn in die Ferne schweifen – sieh, das Gute liegt so nah! Also, besonders »liegt«.
Die akkreditierte Presse hatte nur wenig Grund, sich vom CinemaxX am Potsdamer Platz fortzubewegen. Das Multiplex befindet sich eigentlich grad im Umbau (siehe auch: Avaritia). Man rechnet mit einer Zukunft, in der weniger Publikum kommt – das dann aber bereit sein soll, für ein Gefühl von »Luxus« die Differenz beim Eintrittspreis wettzumachen. Spätestens
seit man während der Pandemie Netflix auf dem Sofa fläzend einmal komplett durchgeschaut hat, will niemand mehr Filme aufrecht sitzend ansehen. Und so durften wir in der komplett für Pressevorführungen reservierten Baustelle schonmal die neue Recliner-Bestuhlung warmsitzen.
Abgesondert vom regulären Publikum (und dessen naiver Begeisterungsfähigkeit) schlurften wir auf- und abgeklärten Profi-Filmguckenden den weiten, beschwerlichen Gang in ein Kino eine Treppe runter oder
rauf. In dem man sich dann erschöpft in die motorisierten Lazy Boys fallen ließ, die einem gar nicht schnell genug in Liegeposition ausfahren konnten. Um dann gemütlich auf der Leinwand Krieg, Seuchen, Gewalt, Elend und die allgemeine Schlechtigkeit der Welt zu betrachten.
Man konnte nicht eindeutig sagen, ob die Anliegenden wegen selbiger Weltschlechtigkeit seufzten – oder weil sie doch grad so schön am Einnicken waren und sie der Gedanke ans baldige Aufstehen schauderte.
Man wusste es aber von sich selbst auch nicht recht.
So dass selbst wir, die gerne zetern wider die derzeitige Laufzeitinflation, oft wünschten: Ach, nur noch ein Viertelstündchen, bitte..!
VI. Avaritia
Baptiste Deloire und Moana da Pozzi don’t live here anymore. So hießen (wenn wir’s exakt erinnern) einst zwei der Fantasiegestalten, mit denen um die Jahrtausendwende auf Plakaten im U-Bahnhof Potsdamer Platz für das neuerbaute Sony Center geworben wurde. Sie sollten Bewohner repräsentieren, wie sich die Investoren das vorstellten für die Zukunft der Architektur gewordenen Vergangenheitsverdrängungsmaschine, die man als Ensemble
städtebaulichen Barbarismus’ über die Wunde der Stadt geklatscht hatte.
Baptiste war (wenn wir’s exakt erinnern) ein schwarzer »Unternehmensberater und Jazz-Saxophonist«, Moana eine jetsettende Opernsängerin und Philanthropin. Nun ja. Nach nur rund 20 Jahren bröckelt es am Potsdamer Platz schon allüberall. Wo einst das Cinestar im Sony Center war, knurpsen die Abrissbagger am Gemäuer. Was aus dem Musical-Theater, das sich im Februar in den »Berlinale Palast«
verwandelt, dauerhaft werden soll, weiß wohl immer noch niemand so recht. Und die »Arkaden« sind nunmehr ersetzt durch »The Playce« (was wir beschlossen haben, »Plähsie« auszusprechen, wobei wir um fleißige Nachahmung bitten) – im Grunde das gleiche grattlige Einkaufszentrum, nun aber teurer und im Pseudo-Hipster-Gewand, mit Kunst-am-Bau Feigenblättchen. Wo der Foodcourt sich »Manifesto« nennt, und tatsächlich als programmatisches Statement für die radikalste, absurdeste
Form des Spätkapitalismus gelesen werden kann. Baptiste und Moana hätten sich da wohlgefühlt. Als realer, normaler Mensch kommt man sich gelinde gesagt deplatziert vor in dieser Geldmenschenvision von Welt.
Sprich: Was das Kapital da hingeklotzt hat, hat sich in nur zwei Jahrzehnten als durchaus untauglich und nicht tragfähig erwiesen. Woraufhin man die Schraube eine Umdrehung weiter dreht und das Gleiche in nochmal hysterischer probiert.
Die Berlinale hat sich diesen Un-Platz aber nunmal zum Hauptsitz erkoren, und bleibt dabei. Keine Satire hätte sich sinnfälliger die drei aktuellen Hauptsponsoren ausdenken können: Uber, Armani, ZDF. Eine Verbindung aus Tech-Gig-Economy, Hochpreis-Glamour und öffentlich-rechtlichem Bildungsauftrag.
Berlins Ruf als ach so kreative, junge, avantgardistische Stadt beruhte immer darauf, dass es zumindest Viertel gab, in denen man recht sorglos vor sich hindödeln konnte, ohne viel Zeit und Energie zu verschwenden auf den Zwang des Lebensunterhaltsverdienens. Alles war billig, man kam schon über die Runden, und konnte aus Spaß an der Freud an künstlerischen Dingen rumbasteln, ohne als ersten Gedanken deren Monetarisierbarkeit zu haben. Das ändert sich gerade rasant –
wenn es nicht eh schon ins Gegenteil gekippt ist.
Man spürt diesen Druck in der Stadt. Spürt ihn auch auf der Berlinale. Und uns beschlich der Verdacht, dass dies nicht ohne Zusammenhang ist zu der immer offensiver performten »politischen Haltung« des Festivals.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Inklusion, Nachhaltigkeit, Diversität sind allesamt äußerst ehrenwerte Ziele. Aber man kann sich zugleich des Gefühls nicht ganz erwehren, dass je mehr Aufhebens gemacht wird um
Ökologie und Identitäten, je stärker parallel stillschweigend die ökonomische und technologische Ausgrenzung wird.
Reguläre Publikums-Tickets kosteten dieses Jahr 15 € (für den Berlinale-Palast gar 18 €), und der Vorverkauf fand ausschließlich online statt, wo viele Vorstellungen innerhalb von Sekunden ausverkauft waren. Das sind für ärmere und technisch schlechter ausgestattete, weniger versierte Menschen nicht unerhebliche Barrieren. Und mit einem »Let them eat
seitan« ist da nicht geholfen.
VII. Luxuria
Es muss ein Festival-Programm in den letzten Tagen schon sehr zum Rinnsal ausplätschern, dass selbst Frau Edelmann dem Pflichtgefühl eine Absage erteilt und sie sich von den schaulüsternen Lockungen der Retrospektive verführen lässt, anstatt noch einen, irgendeinen aktuellen Film unterzubringen.
Es half der Genusssucht da freilich mit zum Sieg, dass es dieses Jahr eine Retro »ohne Zusammenhang« gab, in die man wie auf ein Karussell quasi laufend noch
aufspringen konnte. Und dass es die einzige Möglichkeit war, noch den winzigen Rest an echten 35mm-Projektionen mitzuerleben (zuallermeist in der Akademie der Künste, die noch nicht mal ein wirkliches Kino ist).
Es kann nicht bloße Nostalgie gewesen sein, dass bei dieser Berlinale E.T., JAWS oder The Last Picture Show zu den mit Abstand eindrücklichsten Filmerlebnissen zählten – denn das galt auch für spät Nachgeholtes wie Splendor In The Grass und Jakob, der Lügner und am
allermeisten für die Retro-Überraschung Little Fugitive.
Es hatten diese Filme eine größere Dringlichkeit und Reichhaltigkeit, als sie die allermeisten Beiträge aus dem aktuellen Programm aufbrachten. Wo sehr viel Gutes lief – aber in positiver wie negativer Richtung wenig, das wirklich etwas mit einem angestellt hat.
Das zum Retro-Thema ausgerufene »Coming of age« war in anderen Reihen sozusagen live mitzuerleben: Das Gefühl dabei zu sein, wenn neue Menschen ihre ersten, wirklich prägenden Kino- und Filmerfahrungen haben. Mit Kindern im Publikum Filme wie Cinderella (Generation Kplus) oder E.T. – Der Außerirdische (Hommage) ansehen, die immer noch funktionieren.
Nichts Abgebrühtes in den Reaktionen. Kinderlachen, Kindertränen, Kinderschreie im Dunkeln, was gibt es Schöneres? Dieses »Oh shit« vom Kind, weil es Angst hat, wenn bei E.T. – Der Außerirdische zur schwarzen Leinwand die ersten, überraschend ominösen Töne von John Williams Score erklingen – und das »Oh shit« der Eltern, weil denen plötzlich jenseits der verklärten Erinnerung
bewusst wird, dass sie ihr Kind vielleicht nicht ganz adäquat vorbereitet haben, wie traumatisierend dieser Film sein kann.
Das erinnert einen nicht zuletzt daran, was einen selbst einst dem Kino verfallen ließ, und warum man immer und immer wieder zurückkehrt dorthin, in der Hoffnung, etwas zu finden, das einen ähnlich tief berührt und umkrempelt.
Und man spürt durchaus auch aus heutiger Warte noch, dass diese Filme etwas haben, das an Fundamentalem rührt. Ihre
Allgemeinverbindlichkeit ihrem direkten Draht ins Unterbewusste geschuldet ist – und sie »Mainstream« nicht im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners sind, sondern der stärksten persönlichen Anknüpfungspunkte für viele Menschen.
Es ist zu viel verlangt von Filmen, dass sie die Welt verändern. Nein: Movies don’t change anything. Aber sie können Menschen für ein paar Stunden zu einem gemeinsamen Erlebnis, einer gemeinsamen Erfahrung zusammenbringen. Können sich einschreiben ins kollektive Gedächtnis, das kollektive Gefühl.
Und das ist so wenig nicht.