In welcher Welt leben wir und wenn ja: in wie vielen? |
»Im Unterschied zu allen anderen Künsten warten Film und Fotografie auf ein Anderes; sie halten sich ständig in Bereitschaft. ... Film und Fotografie warten auf ein Unerhörtes, Ungesehenes, weil, wenn es erschiene, nur sie imstande wären, es in seinem Erschienensein zu bezeugen.«
– Friedrich Kittler
Gutes Kino stellt Sinnfragen. Gutes Kino versucht nach Möglichkeit, in unterhaltsamer Weise, aber nicht notwendig in solcher Form, die Wirklichkeit zu begreifen und uns Auskünfte oder auch Vorahnungen zu vermitteln über die Zukunft dieser Wirklichkeit. Es versucht auch, unter Umständen die Vergangenheit zu verstehen. Kurz und gut: Gutes Kino setzt sich mit sich selbst auseinander; gutes Kino setzt sich zugleich mit uns auseinander und meint es ernst.
In diesem Sinn ist
sowohl der neue Film von Bertrand Bonello La Bête als auch der neue Film von Timm Kröger sehr sehr gutes Kino. Beide Filme hatten gestern Abend Premiere. Und auf beide werfen wir jetzt einen allerersten Blick.
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Krögers Film spielt im Jahr 1962 – deswegen auch in schwarz-weiß. Der Regisseur versucht, die Anmutung der Epoche zu treffen. Der Film handelt von Deutschen in der Schweiz, in einem Grand Hotel in verschneiter Berglandschaft. Man darf durchaus an den Zauberberg denken, und könnte hier von der Wiederverzauberung des Zauberbergs sprechen – auch weil viele von uns tatsächlich im Kino in den letzten Wochen schon einen Vorbereitungsfilm auf diesen deutschen Film gesehen haben. Nämlich Oppenheimer von Christopher Nolan. Darin geht es ja nicht nur um den Bau der Atombombe, sondern auch um Kernphysik und Quantenmechanik und Kernspaltung. Und hier tatsächlich auch. Denn der Kongress, der in diesem Grand Hotel stattfindet, ist ein Kongress von Kernphysikern, und es geht um den Glauben, dass man mit der Quantenmechanik so etwas wie die Weltformel gefunden hat. Menschen, die daran glauben und daran forschen, die sind vielleicht Genies, vielleicht sind sie aber auch ein bisschen wahnsinnig, und genau auf dieser Schwelle zwischen Genie und Wahnsinn bewegt sich der Film.
Dies ist die deutsche Antwort auf Oppenheimer. Und es ist vielleicht sogar der Nolan-eskere Film. Weil ja Christopher Nolan tatsächlich die Methode hat, die Chronologie zu stören und vollkommen neue Erzählweisen zu entwickeln. Sein Oppenheimer ist allerdings ein ziemlich linearer Film, während Die Theorie von Allem tatsächlich nicht so linear ist. Es gibt hier Menschen, die sterben und wieder auftauchen, es wird gesprochen von der Multiversen-Theorie, der Vielweltentheorie – das ist tatsächlich ernstzunehmende Wissenschaft. Das wird dann aber visualisiert, und hier zeigt das Kino, was es kann. Denn wenn man komplizierte physikalische Formeln mit Kreide an die Tafel schreibt, dann können die meisten von uns damit ziemlich wenig anfangen – wenn wir es aber im Kino sehen, und in einer Ästhetik, die sich bei Der dritte Mann von Carol Reed und bei Hitchcock bedient, auch bei Edgar Reitz und dessen Zweite Heimat.
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Timm Kröger meint es schon sehr ernst. Er will hoch hinaus. Er will auch eine Art Geschichte des deutschen 20. Jahrhunderts erzählen. Damit hat er schon mit seinem ersten Film, der auch in Venedig lief, mit Zerrumpelt Herz angefangen.
Dies ist einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme, die ich seit Jahren gesehen habe, und Timm Kröger ist ganz gewiss ein großes Talent. Auch wenn vielleicht nicht alles geglückt ist – das allermeiste ist ganz hervorragend. Eine sehr positive Überraschung.
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Auch La bête von Bertrand Bonello ist ein ganz großartiger Film. Léa Seydoux bietet eine hochdifferenzierte facettenreiche Leistung und ist in diesem Film in fast jedem Bild vertreten. Denn auch hier gibt es viele Welten, die wir auf der Leinwand sehen.
Das ist ein Science-Fiction-Film, der wahrscheinlich – ganz sicher ist es nicht – im Jahr 2044 spielt, von da aus in unsere Zeit zurückblickt und in das Jahr 2025, und dann aber auch zurückblickt auf das frühe 20. Jahrhundert, auf die Zeit um 1910. Der Film erzählt die Geschichte einer Frau, die sich zwischen diesen verschiedenen Zeiten bewegt. Vielleicht tut sie das mit einer Art von Psychoanalyse und Hypnose nur im Traum, da wären wir bei der Ursituation des Kinos als Traumfabrik. Vielleicht tut sie das auch mit Zeitreisen.
Das ist nicht wichtig. Denn worum es Bonello geht, ist eine Kritik der Gegenwart. Es ist ganz klar, dass er die neuen Medien und künstliche Intelligenz satirisch und humorvoll kritisiert. Es gab immer wieder mal Lacher im Kino, weil manches auch gerade zu absurd ist; zugleich gelingt es Bonello unglaublich gut mit unseren Gefühlen und Empfindungen und Emotionen zu spielen. Es geht aber auch ganz ernsthaft darum: wie lebt man? Was bleibt eigentlich übrig von uns, wenn man Roboter nicht
mehr von Menschen auseinanderhalten kann, wenn man sich in einen Menschen verliebt, der sich dann als Roboter entpuppt und solche Sachen.
Oder wenn wir Menschen uns immer mehr selbst den Robotern annähern und roboterhafte Verhaltensweisen entwickeln, wenn wir den Algorithmen gehorchen und den kleinen Devices, die uns lenken.
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Einen Zusammenhang zwischen diesen beiden bedeutenden Filmen gibt es ganz definitiv, weil ja in beiden Fällen, einmal über den Umweg der Vergangenheit, einmal über den Umweg der Zukunft, immer die Gegenwart in den Blick genommen wird. Und weil es beiden Filmemachern auch darum geht, dass sie die Frage nach der Wahrheit, nach dem, was wirklich noch existiert, stellen.
Oder leben wir alle in einer »Matrix«? Man kann beide Filme auch ein bisschen als Autoren-Version dieses
Science-Fiction-Klassikers sehen.
Diese Frage wird gestellt. Und sicherlich die Frage: Woran können wir uns festhalten? Worauf können wir aufbauen? Wie kommen wir wieder zum Ernst zurück? Zu etwas, an das wir gemeinsam wirklich glauben können? Vielleicht auch zu Utopien? Vielleicht auch zu universalen Werten?
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Die Nachricht, dass es regnen würde in Venedig, gehört auch in den Bereich der Fake News, die so absurd sind, dass man sich in diesem Fall nur fragen kann, ob irgendjemand ein Interesse daran hat, dass das Filmfestival von Venedig schlechter aussieht, als es ist – nein: es ist prachtvolles Wetter am Lido; der Himmel ist blau. Genau gesagt weiß-blau, nämlich eingefärbt von diesen leichten Kräuselwolken, die am Horizont den Himmel immer ein Stückchen weißer und weniger blau
erscheinen lassen, bis er dann mit dem Glitzern der Sonne auf der flachen See verschmilzt.
Auf eine gewisse Weise ist das Filmfestival von Venedig immer der Beginn des Herbstes. Also immer der Moment, an dem jenes Weiß wie das Meer mit dem Himmel, der Sommer mit dem Herbst verschmilzt zum Nachsommer.
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Was Venedig immer ist, das ist das Wilde, Schmutzige. Was Venedig aber unter Direktor Alberto Barbera auch immer ist, das ist das Experimentelle. Das ist das, was die Form des konventionellen, plotgetriebenen, vor allem narrativen Films, die so viele Festivals beherrscht, in irgendeiner Weise überschreitet und sprengt.
Wobei das eben nicht immer heißen muss, dass man auf Narration komplett verzichtet, sondern vielleicht, dass man einfach anders erzählt.
So wie Harmony Korine. Sein AGGRO Dr1ft wurde komplett mit Infrarot-Kamers erzählt, also sieht er ein bisschen so aus wie Bilder, die von Hausfassaden beim Wärmecheck gezeigt werden: wir sehen nämlich bunte psychedelische Bilder in primären Neon-Farben. Das funktioniert im Kino ganz hervorragend, wenn man sich darauf einlässt.
Man braucht einen Moment, um sich klar zu machen: okay, so ist jetzt dieser Film. Dann überwiegt die Trance. Der Film fragt nach
dem Sinn der Bilder. Das ist großartig, es entwickelt einen Sog, man driftet in diesen Film rein, unterstützt von elektronischer Musik. Weil das Ganze so abstrakt ist, konzentriert man sich gar nicht auf die Charakterentwicklung, sondern man konzentriert sich auf Tempo und Intensität, auf Haltung. Auch hier heißt Film moving pictures.
In dieser Gangster-Geschichte werden gleichzeitig ein paar sehr grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Es geht gar nicht anders, als dass
man bei diesem Bandenkrieg, um den es hier geht, auch an Putin und Selensky denkt, an die Ukraine, an Krieg und Gewalt und an diesen Männertypus, der jetzt ganz plötzlich aus dem Urschlamm längst vergangener Zeiten wieder nach oben drängt und unsere Nachrichtenbilder bestimmt mit seinem stumpfen Macho-Gerede.
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Diesmal ist es eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert und in die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, zu der Yorgos Lanthimos sein Publikum verführen will. Zu dieser Zeit gehört auch die Psychoanalyse, zu ihr gehört die Vorstellung, dass Frauen Hysterien entwickeln – heute gebraucht man diesen Begriff nicht mehr und man würde andere Worte finden, um ihr sexuelles Begehren auch ganz anders erklären.
Ich muss gleich dazu sagen: Ich kenne den Roman »Poor Things« des Schotten Alaisdair Gray nicht, ich weiß also auch nicht, wie nahe der Film an dieser Vorlage dran ist, aber es ist jedenfalls grundsätzlich eine faszinierende Geschichte.
Wann genau Poor Things spielt, ist nicht so klar. Manchmal denkt man, es sei 1920, manchmal denkt, man es wäre erst 1890. Es wird auch sehr bewusst keine Jahreszahl genannt. Vielmehr geht es um ein abstraktes idealisiertes Viktorianisches Zeitalter. Die Welt hier wirkt so, wie sie am ehesten in den Kinderbüchern des 19. Jahrhunderts aussah. Wohlgeordnet und überladen, voller Wunder und Fortschritt.
Es gibt zudem viele phantastische Elemente, allen voran Tier-Chimären, etwa ein Entenkopf auf einem Hundekörper. Und es gibt eben auch andere wissenschaftliche Möglichkeiten, die es tatsächlich nicht gab: So etwa ein Professor, der Godwin heißt, und nicht umsonst das Wort Gott in seinem Namen trägt; er ist so eine Art genial-verrücktes Update des Doktor Frankenstein, ein typischer Roman-Wissenschaftler – es gibt auch ein paar Anspielungen auf Metropolis und auf den Maschinen-Menschen. Dieser Wissenschaftler, das wird sehr früh klar, hat eine Frau bei sich zu Haus, die er in einem gewissen Sinn gefangen hält, um die er sich aber auch in seiner eigenen Weise sehr liebevoll kümmert – es ist kein sexuelles Verhältnis, eher eine Vater-Tochter-Beziehung.
Bella, die Frau, die er zu Hause gefangen hält, um die er sich aber auch auf seine Art liebevoll kümmert, hat eine Hirnoperation hinter sich. Offenbar musste er, um ihr Leben zu retten, irgendetwas an ihrem Gehirn machen. Er pflanzte ihr das Gehirn eines Kindes ein. Wir erfahren das alles erst im Lauf der Zeit. Dann gibt es noch einen jungen Wissenschaftler, der sich auch um Bella kümmern soll, und irgendwann durch Umstände, die jetzt zu weit führen, bricht diese Frau aus aus ihrem
liebevollen, aber eben doch Gefängnis.
Sie reist mit einem Liebhaber nach Lissabon durch die damalige europäische Welt. Der Sex und die Entdeckung des Sex sind sehr wichtig für diese Figur.
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Das ist alles ein sehr bildkräftiger Film. Gleichzeitig sind diese Bilder auch ein kleines bisschen schräg ein kleines bisschen pervers – wenn man an The Favourite denkt, den letzten Film von Lanthimos: Auch das war ja kein echtes 1720, sondern es war ein übersteigertes. So ist auch dieser Film: Ein Film, der eine Geschichte im Gewand des 19. Jahrhunderts erzählt, die auf andere Weise sehr modern ist und nur aus unserer Zeit, dem frühen 21. Jahrhundert oder vielleicht noch dem späten 20., der Postmoderne stammen könnte.
Lanthimos entfaltet ein Menschenbild, das auf der einen Seite zynisch ist und antihumanistisch, also durch und durch postmodern: Menschen werden eigentlich nur als Tiere beschrieben. Und es gibt wenig Hoffnung, es gibt wenig Trost und Glücksmomente. Auf der anderen Seite ist dies eine wahnsinnig fortschrittsgläubige und idealistische Welt, wie es ja auch die Welt des 19. Jahrhunderts tatsächlich war. Und gerade diese Hauptfigur, die junge Frau Bella ist tatsächlich eine
wissenschaftsgläubige idealistische Frau, die sehr optimistisch ist, ein großes Kind. Es ist diese Naivität eines großen Kindes, das viel erwachsener aussieht, als sie ist, das aber erwachsen wird im Laufe des Films.
Man könnte das jetzt seine perverse Coming-of-Age Geschichte bezeichnen.
Die frankensteinische Monsterfigur hat einen, manche würden sagen: naiven, und ich würde sagen, idealistischen Begriff des Menschen. Sie glaubt an das Gute. Sie wird manchmal enttäuscht aber durchaus nicht immer. Sie kennt auch gar keine Tabus. Sie nimmt gar keine gesellschaftliche Rücksicht. Insofern ist dies ein sehr positiver Film.
Und auch ein sehr aktueller Film, weil er natürlich auch eine weibliche Empowerment-Geschichte erzählt, in der eine Frau sich aus dem Korsett
des 19. Jahrhunderts in die Freiheiten, die dann das 20. Jahrhundert den Frauen bot, befreit.
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Hunde spielen die Hauptrolle in DogMan. Es sind viele Hunde, und es geht dann um einen Mann, der seit seiner Kindheit mit Hunden zusammenlebt. Das wird dann im Laufe des Films erklärt.
Dies ist ein Film, der schon alleine für Luc Besson sehr sehr ungewöhnlich ist. Denn Luc Besson ist eigentlich jemand, der immer für Adrenalinkino steht. In gewissem Sinn macht er das zwar auch
jetzt wieder. Aber trotzdem ist dies ein ruhigerer, intimerer Film. Wer Baller-Action à la Léon – Der Profi erwartet, wird, glaube ich, enttäuscht werden. Aber es ist ein sehr geglückter Film.
Das liegt am Zauber der Hunde und an dem, was sie alles machen. Man denkt im ersten Moment, es begänne alles mit krassen Tributen an die Political Correctness. Denn sofort ist ein Mann in Frauenkleidern zu sehen. Es ist die Hauptfigur, ein Mann der Crossdressing betreibt, aber keine Transperson ist. Er wird von der Polizei verhaftet. Wir wissen noch nicht genau, warum. Dann kommt er in die psychiatrische Klinik und hat eine vom Gericht bestellte Gutachterin. In den Gesprächen mit dieser Gutachterin wird dann allmählich die Geschichte dieses Mannes Kapitel für Kapitel chronologisch und etwas schematisch erzählt.
Es ist die Geschichte eines Menschen, der von seinen Vater misshandelt wurde. Er hatte ihn in einen Hundekäfig mit Hunden eingesperrt, bevor er von den Sozialbehörden befreit wurde. Dort entwickelte er eine große Empathie für Hunde und fand einen Weg, um mit Hunden auf eine Weise zu kommunizieren, die einmalig ist. Diese Hunde – es sind sehr viele und verschiedenste Hunderassen – machen alles für ihn, auch ganz ungewöhnliche Dinge. Ich weiß nicht, ob so etwas im realen Leben auch möglich ist, in der Phantasie des Kinos ist es in jedem Fall möglich: Man sieht zum Beispiel eine Gruppe von Hunden, die in eine Wohnung einbrechen und Robin-Hood-mäßig bei einer sehr reichen Frau ein Diamanten-Collier stehlen. Dieser »Dogman« macht auch ganz viel für die Hunde; er hat eine intime Nähe zu ihnen, die Hunde sind seine Familie.
Dies ist trotzdem auch eine Geschichte, in deren Zentrum ein schon als Kind massiv gestörter und zerstörter Mensch steht. Einer, der darum kämpft, er selbst zu sein, sich zu finden, erwachsen zu werden. Und so richtig gelingt das nicht. Der Mann ist auch körperlich schwer gezeichnet. Er hat eine Lähmung, die ihn daran hindert, mehr als wenige Minuten aufrecht zu stehen, und eine Gewehrkugel wandert langsam auf sein Rückenmark zu, und wird ihn töten.
Ein insgesamt geglückter Film und
für Luc Besson ein sehr überraschender.