Bestechende Schönheit |
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Bestechend: Timm Krögers Die Theorie von Allem | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Italien feiert sich selbst: Auf der Mostra de Cinema, der in diesem Jahr des 80. Jubiläums ein Teil der US-Schauspieler streikbedingt fernbleibt, und auf der es darum auf dem Roten Teppich etwas mehr Platz für unbekannte Starlets und neue Talente gibt, und im Kino, wo auf der Mostra auch über die in diesem Jahr fünf einheimischen Beiträge hinaus die Italianità, das italienische Lebensgefühl, auf die eine oder andere Weise sehr präsent ist.
Frisch verliebt habe ich mich in »La Dolce Vita«, direkt neben dem Festivalpalast, die hier als Gelateria firmiert, aber auch sehr guten Kaffee, Dolce und Pannini hat. Die Chefin und ihre beiden sehr unterschiedlichen Mitarbeiterinnen (Töchter?) sorgen für einen ebenso reibungslosen wie charmant-familiären Ablauf. Entsprechend überlang sind die Schlangen zwischen den Vorstellungen. Man muss schnell sein, wenn der Abspann läuft, oder die kurzen Momente zwischen den Stoßzeiten abpassen, wie heute, als ich dort Olaf Möller traf und unser Gespräch über Filmregionen in die unvermeidliche Frage meinerseits mündete: »Olaf, mit dem Kino welcher Weltregion hast du dich eigentlich nicht intensiv beschäftigt?«
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Zu allem Überfluss wurde auch noch das seit Jahren leerstehende »Hotel des Bains«, ein Grand Hotel im Stil des Fin de Siècle, in dem einst schon Thomas Mann residierte, als er den »Tod in Venedig« schrieb, zumindest als Partylocation wiederbelebt – und erstrahlt allabendlich in Campari-Rot. Ein Hauch von Dolce Vita durchzieht den spätsommerlichen Lido...
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Auch in seiner Filmauswahl ist Venedig schon seit jeher das Klassischste unter den großen Filmfestivals. Filmkunst soll hier entweder auch unterhalten und die Massen ansprechen, oder richtig radikal und experimentell sein. Wie bei Harmony Korines sehr tollem »AGGRO DR1FT«, über den ich gestern schrieb. Die bedeutungsschwangere Langsamkeit und wortkarge Leere mancher Teile des heutigen Autorenkinos meidet man dagegen eher.
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Für mich ist der bisherige »Film des Festivals« Ferrari von Michael Mann, der bereits am Donnerstag Premiere hatte. In der zweiten Wochenhälfte, wenn mehr Zeit ist, werde ich noch ausführlicher darüber schreiben, warum.
Auch dieser Film gehört jedenfalls ins Kapitel der diesjährigen Selbstfeier Italiens: Denn alles hier ist auch eine große Italienhymne, mit der sich Michael Mann als Italophiler outet: Höhepunkte des Films sind zum Beispiel ein großes
Mittagessen mit Pasta, Rotwein und Musik; dann ein gemeinsamer Opernbesuch, bei dem jeder seine eigenen Gedanken zur Musik entwickelt und ein Zweitage-Autorennen durch Nordostitalien, das die Pracht des Landes auf die Leinwand wirft. Insgesamt ist Ferrari ein phänomenaler Film, Kino von zwingender Intensität, flirrender Kinetik und existentieller Gravitas.
Mehr dazu die kommenden Tage.
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Eine Art italienische Heimkehrerin ist für viele hier auch die Amerikanerin Sofia Coppola, die 2010 bereits einmal den Goldenen Löwen gewann. Ihr neuer Film Priscilla erzählt von einer lebensklugen 14-Jährigen, die selbst nicht genau weiß, warum sich ein berühmter Rockstar für sie interessiert. Nach zwei Jahren keuscher Distanzbeziehung ziehen sie zusammen, doch die Distanz bleibt weiter bestehen. Wüsste man nicht, dass sich Coppolas Film eng an die
Autobiographie von Priscilla Presley, die Frau des »King« anlehnt, wäre das auch nicht weiter schlimm. Denn Priscilla ist vor allem ein typischer Coppola-Film: Keine brave Faktenillustration, sondern die klug-empathische Meditation über die universale Einsamkeit junger Mädchen. Zwischen Graceland und Versailles, dem »Park Hyatt Hotel« in Tokio und dem »Chateau Marmont« in Los Angeles ist kein großer Unterschied. Dies ist eine Feier des Luxus und der
Abwesenheit von schlichten psychologischen Kurzschlüssen.
Gehüllt in perfekte pastellfarbene Kostüme und wunderbare Pop-Musik, die nur selten von Elvis stammt, sondern zeitgenössischer Pop ist, ist dieser Film erzählt. Getragen wird alles auch von der exzellenten, bisher wenig bekannten Cailee Spaeny in der Titelrolle.
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Commandante, auf Deutsch »Kaleun«, hieß der italienische Eröffnungsfilm. Und man kann wohl sagen, da ist einige Ähnlichkeit mit Das Boot. Alle faschistischen Soldaten in Eduardo de Angelis' Film betonen: »Wir sind keine Faschisten.« Das betonen die AfD und ihre Freunde in Schnellroda auch.
Letztendlich geht es dem Regisseur wohl tatsächlich darum, an die
elementaren Grundsätze der Zivilisation zu erinnern, nämlich: Wer zu ertrinken droht, den rettet man.
Natürlich kann man sagen, indem dieser Film den Faschismus, zumindest seine Epoche und seine Handlanger, in die Geschichte der Zivilisation, die sich über Generationen spannt, indirekt in Rettungserzählungen integriert, schlägt er sich auf die falsche Seite.
In mehreren pathetischen Momenten, wo die Besatzung sagt: wir sind keine Faschisten, wir sind Männer der See, könnte man natürlich argumentieren, dass in all diesen Momenten der Faschismus klein geredet wird in seinem Wesen als Zivilisationsbruch. Andererseits ist das Ganze natürlich auch ein Film, der an das Gemeinsame des Menschlichen appelliert, das sich selbst noch in faschistischen Strukturen finden wird – dies behauptet der Film. Man kann also sagen: Hier wird etwas reingewaschen. Man kann aber auch sagen: Hier wird an das Gute im Schlechten appelliert. Hier werden Brücken gebaut. Wer will entscheiden, auf welche Seite wir uns zu schlagen haben?
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Die Security in Venedig ist in diesem Jahr übrigens sehr entspannt und freundlich. Fast dachte ich: wenn das der Postfaschismus ist, dann lasse ich ihn mir gefallen. Aber das Schreiben wir jetzt besser nicht hier hin. Oder?
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Viele Jahre ist es her, als es zuletzt Standing Ovations für einen deutschen Film gab: Der nahezu unbekannte Timm Kröger hat es jetzt geschafft: Die Theorie von Allem heißt selbstbewusst Krögers Beitrag im Wettbewerb. Alles spielt im Jahr 1962 – und erinnert stilistisch an Thriller von Carol Reed (Der dritte Mann), Hitchcocks Vertigo und Die zweite Heimat von Edgar Reitz.
In verschneiter Berglandschaft versammeln sich Physiker zu einem Kongress, nebenbei läuft man Ski. Ein junger Doktorand streift seine anfängliche Schüchternheit bald ab und glaubt einer
Verschwörung auf der Spur zu sein. Oder wird hier und jetzt einfach die »Vielweltentheorie« der Quantenphysik wahr? Dies ist die deutsche Antwort auf Oppenheimer. Und der „Nolan-eskere“ Film, weil Kröger nicht gradlinig, sondern verschachtelt und ambivalent erzählt – das ist die Macht des Kinos: Die Leinwand hält Widersprüche aus, und fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach
Überzeugung. Kröger meint es ernst, damit gelingt ihm ein Werk von bestechender Schönheit und einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Jahren.
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Was ist das für ein Film? Es ist der Film eines Regisseurs, der es ernst meint, und der sein Publikum nicht unterschätzt. Der außerdem – und vielleicht hängt beides zusammen – eigenwillig ist.
Das heißt, dies ist natürlich kein Film für jedermann. Dies ist ein Film, der voraussetzt, dass man entweder die Filmgeschichte kennt oder sich von ihr faszinieren lässt. Dass man unter »aktuell« nicht zeitgeistig und zeitgemäß versteht.
Sondern, dass man versteht, dass auch
der Blick in die Vergangenheit, in eine Vergangenheit mit anderen Werten, einer anderen Art zu denken, mit anderen Erfahrungen, uns alle weiterbringen kann. Dass vielleicht gerade dieser Blick ein Blick ist, mit dem wir die Komplexität der Gegenwart bändigen können und viele Probleme der Gegenwart einer Lösung näherbringen.
Insofern ist der Film von Timm Kröger nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische und moralische Lektion. Und zugleich geht es diesem
Regisseur um Lektionen am allerwenigsten. Es geht ihm ohne Frage um Ernst, um einen Ernst, der das Pathos nicht scheut, aber es doch immer wieder ironisch und manchmal auch satirisch bricht. Denn ganz ernst nehmen kann man diese Figuren natürlich nicht.
Schwer zu sagen, was die Reaktion des Publikums in der Pressevorführung, wo es Buhs gab, genau zu bedeuten hat. Ob hier Buh-Rufe irgendetwas zu sagen haben – so viel wie sie tatsächlich bei Pablo Larraín zu sagen hatten, wo sie nichts anderes ausdrückten, als die Verachtung des internationalen Publikums für diesen Film. So wie Pablo Larraín ein überschätzter Regisseur ist, ist Timm Kröger ein unterschätzter.
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Von bestechender Schönheit ist schließlich auch La bête von Bertrand Bonello. Mit einer großartigen Léa Seydoux bewegt sich der Franzose auf den Spuren von David Lynch. Ein Science-Fiction-Film, der 2044, in unserer Gegenwart und um 1910 spielt, zielt auf die Gegenwart und mokiert sich hochintelligent über digitale Medien und künstliche Intelligenz. Der Ernst dahinter liegt auf der Hand.
Wie lebt man? Und was bleibt eigentlich übrig von uns, wenn man
Roboter nicht mehr von Menschen unterscheiden kann? Oder wenn wir Menschen uns immer mehr selbst den Robotern annähern?