Der andere Atlantik |
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Übersehen und schnell vergessen: Claire Simons I Want to Talk About Duras | ||
(Foto: Mubi) |
San Sebastián liegt am Atlantik, in der Biskaya, im Nordosten Spaniens, dort, wo die See manchmal am stürmischsten ist.
Die diesjährige Ausgabe von Venedig sei ein atlantisches Festival gewesen, hatten wir gesagt. Das war gemünzt auf das Übergewicht an europäischen und vor allem US-amerikanischen Filmen. Man kann den Atlantik aber auch ganz anders überqueren.
Die Spanier haben es gezeigt. Sie wollten noch nie Amerika finden, sondern immer den Seeweg nach Indien. Ihre Perspektive war immer auf den Bereich unterhalb des Äquators gerichtet, und immer auch ein bisschen über »las Indias« hinaus, auf den Pazifik.
Die Geopolitiker aus der Zeit der Konquistadoren schrieben der fast ganz von Salzwasser umschlossenen iberischen Halbinsel mit Blick auf die Magellanstraße die Funktion eines Scharniers zwischen den zwei Welten zu.
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Lateinamerika und Asien dominierten schon im letzten Jahr zumindest die Preise im Baskenland – ein überfälliges Gegengewicht zu den großen Festivals Cannes, Venedig und Berlin, die zwar in den letzten Jahren verstärkt und deutlich überbetont Frauen auszeichneten, sich zugleich dabei aber allzu oft auf Europa und US-Amerika beschränken, als ob die Welt nur zwei Kontinente hätte.
In San Sebastián hat sie mehr.
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Die Jury trägt dieser Mischung Rechnung. Sie ist weniger europäisch und gar nicht US-amerikanisch. Jury Präsidentin ist die französische Autorenfilmerin Claire Denis, mitentscheiden dürfen die chinesische Schauspielerin und Produzentin Fan Bing Bing, die bereits 2016 für I Am Not Madame Bovary hier gleich zwei Preise gewonnen hatte und in vielen weiteren Filmen der letzten 20 Jahre,
auch in X-Men und dem Spionage Thriller The 355 Hauptrollen gespielt hatte. 2017 war sie Mitglied in der Wettbewerbs-Jury von Cannes (Präsident war seinerzeit der Spanier Pedro Almodóvar). Die französische Photographin Brigitte Lacombe, die kolumbianische Filmemacherin Cristina Gallego und Vicky
Luengo aus Spanien.
Für die Männerquote sorgen der Kanadier Robert Robert Lantos, der einst Cronenbergs Eastern Promises produzierte, und Atom Egoyans The Sweet Hereafter, und wie erwähnt der Deutsche Christian Petzold, dessen Film Phoenix hier vor neun Jahren im Wettbewerb lief.
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Mal sehen, ob mir das Festival dabei helfen wird, der Versuchung zu widerstehen, über die Berlinale zu schreiben, über den sogenannten Protestbrief – für Chatrian, gegen Roth? Jedenfalls beides zu spät, verlorene Schlachten – von Regisseuren, die sämtlich ihre Filme lieber nach Cannes geben, wenn man sie lässt. Aber der Brief gibt sicher allen, die das unterzeichnet haben, ein gutes Gefühl. Es sind tolle Filmemacher darunter, fast ein Who is Who des interessanten
Gegenwartskinos. Und trotzdem ist dieser Brief rückwärtsgewandt, fruchtlos und unpolitisch. Es ist Dampfablassen, aber nicht zielführend.
Nicht eine Zeile handelt von Strukturen, von Konzepten, von dem, was ein Intendant oder meinetwegen ein Intendanten-Kollektiv denn tun dürfen müsste.
Und seien wir ehrlich: eine zweistellige Zahl von Unterzeichnen hat in persönlichen Gesprächen mit mir schon über Carlo Chatrians krude Programmpolitik und über sein glanzloses Kuratieren eines der wichtigsten Filmfestivals der Welt geklagt. Insofern ist dieser Brief einfach unehrlich, weil hier wieder einmal Probleme nicht benannt, sondern übertüncht werden. Vom guten Gefühl und vom allzu guten Gewissen.
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»Je suis Marguerite Duras. J'ai fait ce film. J'attends vos questions. Si il n'y'a pas des questions, je m'en vais. Je ne suis pas dans ça.« (»Ich bin Marguerite Duras. Ich habe diesen Film gemacht. Ich warte auf ihre Fragen. Wenn es keine Fragen gibt, gehe ich. Ich brauche das nicht.«) – so stellte sie sich hin im Kino vor ihr Publikum.
Marguerite Duras (1914-1996) ist eine der interessantesten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Obwohl sie sich dem »reinen Schreiben«
verpflichtet fühlte, Psychologie, Moralismus, politische Indienstnahme der Literatur ablehnte, ist ihr Leben noch interessanter als ihre Bücher, und selbst ein Kunstwerk – teilweise bewusst gestaltet. Teilweise erlebt und zugelassen.
Ohne genau sagen zu können, warum, habe ich mich immer zu Duras hingezogen gefühlt und mich für sie und ihr Werk interessiert. Nach diesem Film, den ich hier vor genau zwei Jahren gesehen hatte, weiß ich nun noch etwas genauer, warum.
Oberflächliche Gründe sind ihre Nähe zu Asien, wo sie in Französisch-Indochina aufwuchs. Die Tatsache, dass sie nicht nur geschrieben, sondern auch Filme gemacht hat. Und ihre komplizierte Beziehung zum Faschismus. Ein paar Jahre länger ist es her,
da lief im Wettbewerb von San Sebastián der Film La Douleur von Emmanuel Finkiel nach Duras' autobiographischem Klassiker.
Grandios, aber leider übersehen und schnell vergessen.
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I Want to Talk About Duras von Claire Simon ging es genauso. Dies war aber vorhersehbarer. Denn dies ist ein Film, den man nicht so leicht einordnen kann, weil er zwar schon einerseits ein Spielfilm ist, ein Film mit Schauspielern, weil andererseits fast jedes Wort, das in diesem Film gesprochen wird, auf der Realität basiert, genauer auf einem Interview, das eine Journalistin der Zeitschrift »Marie Claire« (hier gespielt von Emmanuelle Devos) mit Yann Andrea geführt hat. Yann Andrea war der letzte Liebhaber von Duras; ein jüngerer Mann, der in seinen Zwanzigern war. Das Interview dreht sich um die Beziehung der beiden. Andrea hat auch in Filmen von Duras mitgespielt.
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Dieser Film ist nun eine ganz spannende Untersuchung. Es ist einerseits ein intellektueller Film, der gewiss den einen oder anderen Zuschauer überfordern wird – andererseits muss man das Werk von Duras hierfür gar nicht kennen, sondern es geht eigentlich um eine sehr universale Liebesbeziehung. Es geht um Macht und Ohnmacht, um Aufgabe und Selbstaufgabe, um Unterdrückung, versteckte wie offene, bis hin zu sadistischen und masochistischen Verhaltensweisen im
psychischen Sinn. Denn es geht ganz eindeutig auch um gegenseitige Unterdrückung und Unterwerfung, um eine Art Machtkampf zwischen dem Liebespaar. »You don‘t exist. You exist because of me«, sagt sie ihm einmal.
Und das ist etwas, das Duras in vielen ihrer Bücher variiert hat – wenn wir an »Der Schmerz« denken, an »Der Liebhaber«. Es ist auch hochbeeindruckend, Duras selber in diesem Film zu sehen, sie sprechen zu hören. Nicht nur wegen ihrer äußeren Erscheinung,
die sehr prägnant war, sondern auch, weil sie hier gar nicht so sympathisch erscheint. Dieser Film ist kein verklärendes Porträt einer genialen Autorin, die wir einfach nur zu vergöttern haben – ganz im Gegenteil. Es ist kritisch, zeigt Schattenseiten; es hat allerdings den paradoxen Effekt, dass wir gerade dadurch, dass Duras menschlich ist, dass sie teilweise auch unangenehm erscheint, uns auch nahekommt, einen fasziniert und dass man als Zuschauer die Faszination des
Liebenden Yann Andrea teilt, und große Lust hat, nach diesem Film das Werk von Duras näher zu erforschen und ihre Filme zu sehen – was kann man eigentlich Besseres über einen Film sagen?
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Nun, kurz vor Anfang, hoffe ich, an den nächsten zehn Tagen zumindest eine ähnliche Erfahrung zu machen. Ich bin zuversichtlich.
(to be continued)