Gefühle zu verschenken |
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Alemania: konzentriert und intim, ernst, aber niemals traurig | ||
(Foto: Filmfestival San Sebastian) |
Es muss schön sein, in San Sebastian aufzuwachsen. Man sieht hier, nicht nur am Sonntag, 10- oder 12-jährige Girls, die mit ihrem Surfbrett zum Strand gehen. Ältere Jugendliche sowieso. Sie scheinen alle ein bisschen Kinder des Meeres zu sein.
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Auch Christoph Friedel, deutscher Produzent von der Kölner »Pandora«, der hier zwei Filme im Wettbewerb hat, erzählt, dass man sich vielleicht irgendwelche Sorgen über die Zukunft des Kinos macht – aber nur so lange, bis man mal wieder mit offenen Augen durch diese Stadt gelaufen ist oder auf das Meer geblickt hat. Heute sind die Wellen sehr hoch. Die Sonne scheint, es ist fast 30 Grad, aber es kommt ein konstanter Wind von Norden, der den Duft des Meeres in die Stadt hinein trägt. Das Parfum von San Sebastián.
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Als er die zwei Platten mit Meeresfrüchten bringt, sagt der Kellner: »Vale compañeros, al ataque!«
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Es könnte alles so schön sein! Das Festival von San Sebastián zeigt auch, wie es ist, wenn eine Filmkultur ziemlich viele Filme hat, die klare Kinofilme sind und nicht fernsehdominiert. So eben die spanische. Hier wird nicht so viel mit Kriterien und zu erfüllenden Punkten operiert, wie bei uns. Schon gar nicht mit außerfilmischen, kunstfremden. Alles wirkt offener. Und es gibt viel mehr Gemeinsinn unter den Filmemachern, keine ungute Konkurrenz. Hier in Spanien ist alles etwas mehr in Bewegung. Zusätzlich profitiert Spanien natürlich davon, dass es den lateinamerikanischen Sprachraum quasi in der Hinterhand hat.
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Argentinien ist nicht nur das Land des Fußballweltmeisters und von Lionel Messi; es ist natürlich auch eines der wichtigsten Filmländer des lateinamerikanischen Kontinents.
»Es ist das argentinische Jahr« sagt Roger Koza, Kurator und Filmkritiker aus Argentinien, der aber auch in Deutschland arbeitet, nämlich unter anderem für das Filmfest Hamburg, das Ende der Woche beginnt, und wo wir uns wiedersehen werden. Roger meint damit die besonders starke Präsenz des
argentinischen Kinofilms beim diesjährigen Filmfestival von San Sebastián: nicht weniger als 15 Filme aus Argentinien sind bei diesem Festival zu sehen.
Das stärkt die dortigen Künstler und die Branche auch angesichts rigidester Sparmaßnahmen.
Aber was ist eigentlich das Besondere des Kinos aus diesem tollen Land?
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Alemania, »Deutschland«, das ist nicht das Thema des Films, der genauso heißt, sondern Alemania könnte auch Japan sein, oder Italien, ein Sehnsuchtsort; Ziel für Eskapismus, eine offene Möglichkeit und ein Rettungsanker für die jugendliche Hauptfigur in diesem sensiblen argentinischen Debüt der Regisseurin María Zanetti.
Autobiographisch inspiriert geht es in diesem Film, der in den 90er Jahren spielt, um eine 16-jährige Heranwachsende, deren
ältere Schwester psychisch krank ist, während die Eltern mitten in der Wirtschaftskrise ums finanzielle Überleben kämpfen.
In diesem Fall heißt die Hauptfigur Lola. Sie ist voll der Hoffnungen und Träume, aber auch der Verwirrungen und des Herzschmerzes des Erwachsenwerdens, des Erwachens der Sexualität und all deren Geheimnissen.
Wir sehen sie, wie sie Autofahren übt, sich ein Nasenpiercing stechen lässt, in Clubs geht und beginnt, mit Jungen zu flirten. Doch die
psychischen Probleme ihrer Schwester hängen wie eine schwarze Wolke über der Familie und Lolas Zukunft. So steht ihre Begeisterung für die Möglichkeit eines Schüleraustauschs mit Deutschland, vor allem auch für die Möglichkeit eines ganz anderen Lebens. In ihrem Zimmer hängt ein Poster von Der Himmel über Berlin.
Für Lola wird Europa zu einer Art Wunderland, in dem sie sich ein besseres
Leben vorstellen kann.
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Der Film zeichnet nebenbei ein Porträt dreier Frauengenerationen: Die in den 10er Jahren geborene souveräne großbürgerliche Großmutter, die der Enkelin Trost und Gelassenheit spendet; die eingeschüchterte, früh enttäuschte, angstgetriebene, in den frühen 50ern geborene Mutter, die versucht, die Probleme ihrer Kinder zu lösen, aber doch vor allem auf Vorsicht und Sicherheit setzt. Und die Teenagerin selbst, ein Kind der 70er Jahre.
Mit einer Kamera, die ganz nah an den
Gesichtern ihrer Darsteller liegt, baut Zanetti einen konzentrierten intimen Film, der ernst ist, aber niemals traurig; eine Feier der Zuneigung und der Widerstandsfähigkeit, die sich noch in einer Zeit vor der digitalen Revolution entfaltet, als Musik-Cassetten noch ein Mittel waren, um Gefühle zu verschenken.
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Ebenfalls sehr persönlich und ebenfalls um Erinnerungen gestrickt ist Clara se pierde en el bosque von Camilla Fabbri. Hier ist es eine junge Erwachsene, die mit ihrem Freund aufs Land fährt. Zwischen der Begegnung mit dessen etwas schräger Familie und dem Für und Wider des Mutterwerdens spürt sie mit einer Freundin gemeinsamen Erinnerungen nach – zu denen auch die Erfahrung einer Brandkatastrophe gehört. Ein sehr besonderer, guter Film, zu dem vielleicht noch mehr zu sagen ist.
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Die Macht der Erinnerung und der Umgang mit ihr sind ein konstantes Thema im argentinischen Kino. Ebenso wie das Verhältnis zwischen Stadt und Land, vor allem der Megacity Buenos Aires und den schier unendlichen Weiten der Pampa und der Wälder im Rest des Landes.
Das zweite Leitmotiv ist eine Art von emotionalem Realismus, eine Grund-Melancholie, die die gute Laune nicht trübt. Die Menschen in diesen Filmen kämpfen ums Überleben im Alltag, sie machen sich ihre Gedanken, sie hängen viel herum, aber immer ohne Langeweile, oft umgeben von Tieren, und immer gibt es gut zu essen.
Neben den erwähnten zwei Coming-of-Age-Filmen beweisen zwei andere Werke, zweimal Komödien im Geist eines Woody Allen, dass man sich auch über Intellektuelle lustig machen kann, ohne sie zu verachten, sondern mit ihnen sympathisieren und sie dabei ironisieren.
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Puan vom Regieduo María Alché (Familia sumergida) und Benjamín Naishtat (Rojo) ist eigentlich eine Hommage an die klassische Philosophie: Nach dem Tod des Dekans muss sich eine Philosophiefakultät neu finden. Bei der Nachfolgeregelung
scheint Hauptfigur Marcelo der natürliche Kandidat. Doch er leidet unter Selbstzweifeln und bekommt Konkurrenz durch einen charismatischen Kollegen.
Marcelo liest die Klassiker: Hobbes, Rousseau, Kant. Er steht für die klassische Moderne, die hier durch eine postmoderne, mit Spinoza einseitig gefütterte Multitude, verkörpert durch den charmanten, rhetorisch starken, im entscheidenden Moment aber schwachen Konkurrenten verkörpert wird.
Untergründig geht es natürlich
auch um die strukturellen und politischen Probleme der argentinischen Gesellschaft.
Vor allem aber ist dies ein sehr lustiger Film; die modernere Version von Woody Allen-Themen: Selbstzweifel, unterdrückter Ehrgeiz, Älterwerden, die allgemeine Misere des Daseins füttern diese erwachsene, selten alberne Komödie eines Menschen dem viel missglückt, und der trotzdem etwas Heroisches hat.
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Spricht man mit Argentiniern selbst über diesen Film, dann machen sie schnell auch Witze: Eigentlich dürften sie das alles hier ja gar nicht tun, was sie hier tun, denn es sei ja »kulturelle« Aneignung, wenn Argentinier Kant lesen und Hobbes und Rousseau.
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Auch La práctica von Martín Rejtman erzählt von einem etwas lächerlichen, aber liebenswerten Stadtneurotiker: einem Yoga-Lehrer, dem sein ganzes Wissen im Alltag nicht viel hilft. Er lebt in Chile in Scheidung, wird von seiner Mutter gedrängt, nach Buenos Aires zurückzukehren.
Hier macht sich der Regisseur auch gut über den modernen Esoterikboom lustig, über die Verachtung von Schulmedizin; aber es gibt auch ein Erdbeben und eine deutsche
Austauschstudentin, die – Achtung: Joke! – ihr Gedächtnis verliert und vieles mehr, um die leichtgewichtig, aber souverän erzählte Handlung anzureichern.
Beide letztere Filme sind von der Kölner Firma Pandora koproduziert – sie werden also auch in Deutschland zu sehen sein. Wie hoffentlich viele Werke aus dem faszinierenden Filmland Argentinien.
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Worauf man beim Sehen dieser und anderer Filme kommt: Die Komödie kehrt zurück! Glücklicherweise. Diese Rückkehr enthüllt aber auch unsere, vor allem (aber nicht nur) deutsche Schwierigkeit, überhaupt mit Komödien umzugehen.
Denn ich kenne Kollegen, denen fällt es total schwer, diese Filme überhaupt ernstzunehmen. Sie sind so sehr das schwerblütige, melodramatische, bedeutungsheischende Kino gewöhnt, den langsamen, heutigen Autorenfilm, der eigentlich nichts mehr mit dem
Autorenfilm der Nouvelle Vague zu tun hat. Sodass sie sich gar nicht klar machen, wie lustig Autorenkino sein kann und sein sollte. Auch Filmkünstler sind Unterhalter, auch Filmkünstler sind Menschen, die auf dem Jahrmarkt auftreten, die gelegentlich schlechte dumme Witze machen, die nur auf einer Schenkelklopf-Ebene funktionieren, und die man trotzdem ernstnehmen muss. Das gehört dazu, es ist ein Mittel, ernste Inhalte zu transportieren.
Aber Filme, die an einen Kirchgang erinnern, sind kein Mittel dafür, denn die Kirchen werden immer weniger besucht. Heute brauchen wir Filme, die eine leichte Form fürs Schwere haben, die zugänglich sind, die nicht mit dem erhobenen Zeigefinger und nicht mit einer Lehrerattitüde an das Publikum herangehen.
Wir brauchen mehr Lubitsch und Wilder und weniger Berliner Schule. Auch das können wir vom Land des Weltmeisters lernen.
(to be continued)