Die Erotik des Sandes |
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La sociedad de la nieve: ein großartiges Thema und eine ungewöhnliche Geschichte... | ||
(Foto: Netflix) |
Man könnte eigentlich immer so leben, wie man diese zehn Tage in San Sebastián lebt: Man geht viel ins Kino, sitzt zwischendurch in der Sonne, isst hervorragendes spanisches Essen, und trinkt spanischen Kaffee, der besser ist, als mindestens der deutsche – manche würden sagen: auch besser als der italienische, aber das kann ich hier nicht unterschreiben, zumal Lavazza der Sponsor des Festivals ist, und man deshalb immerhin am Morgen zwischen den Filmen den einen oder anderen schnellen Cafe con Leche oder Cortado zu sich nehmen kann. Am Abend sitzt man dann im Café und kann bis 1 Uhr schnelle Cañas trinken, und schnelle Texte schreiben. Alles ist schnell, alles ist leicht. Erhöht. Nicht Leben, schon gar nicht Überleben, sondern Hyperleben.
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Woman in the Dunes von 1964 ist angeblich der vielleicht wichtigste Film des japanischen Regisseurs Hiroshi Teshigahara, dem die diesjährige Retrospektive gewidmet ist. Es ist jedenfalls der Film, für den er am berühmtesten ist.
(Hier kann
man den Film in relativ guter Qualität in OmU-Fassung sehen.)
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Ein Mann wandert durch die Wüste. Schon in den ersten Minuten erfahren wir durch reine Beobachtung viel über ihn: Er ist ein technik-affiner Mensch, er trägt eine moderne Armbanduhr und eine Kamera. Man denkt an Homo Faber. Walter Faber war auch in der Wüste nach dem Flugzeugabsturz. Er ist ein Insektensammler. Wie Ernst Jünger, wie Lord Castlepool in den Karl-May-Filmen der 60er Jahre.
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Sonne, Wüste, Raupen in Nahaufnahme. Der Gedanke an Camus ist unvermeidlich, an den Existentialismus der Nachkriegszeit, an Meer und Sonne. Auch später muss man denken: »Die Sonne ist schuld«.
Dann trifft er bei seinen Wanderungen einen (eigentlich von Anfang an schrägen und misstrauisch stimmenden) Bewohner der Gegend und sehr schnell kommt in den Gesprächen ein harter Gegensatz auf, der diesen Film untergründig durchzieht; es ist der Gegensatz zwischen Land vs. Stadt;
gebildet vs. ungebildet; arm vs. reich;
In der Sonne denkt die Hauptfigur resigniert über das moderne Leben nach. Ein innerer Monolog: »Verträge, Lizenzen, ID-Karten, Erlaubnisse, Zertifikate, Dokumente, Vorschriften«, verschiedenste Einschränkungen, die auch aus unserer Gegenwart stammen könnten. »Ist das alles? Hab ich was vergessen?« Er spricht also über die verwaltete Welt. Und dann träumt er weiter und es geht um das Verhältnis von Frauen und Männern. »Männer und Frauen. Sie sind besessen von der Angst betrogen zu
werden. Und denken sich neue Zertifikate aus, um das zu verhindern. Wo soll das enden?« Jeder wolle seinen sicheren Raum.
Aber in der modernen Welt gibt es aller Zertifikate zum Trotz keine Sicherheit.
Es ist heiß. Er muss für die Nacht in einer Pension unterkommen. Die Frau, die ihn beherbergt, benimmt sich von Anfang an merkwürdig, schräg, cheesy. Wir ahnen den Betrug, nur er bleibt naiv. Sie flirtet zu sehr und ihr Ausschnitt ist schon früh sehr weit offen. Sie erzählt beiläufig, der Sturm habe Mann und Tochter getötet. Es scheint ihr nichts auszumachen.
Sie schläft nackt, sie hat sehr sehr viel Sand auf ihrer Haut, weil der Sand in diesem primitiven Holzhaus permanent durchs
Dach rieselt. Sie hat nur eine Binde über ihren Augen, ansonsten ist sie unbekleidet. Und das alles tut sie am Tag, denn in der Nacht hat sie gearbeitet. Sand schleppen für die Dörfler.
Er ist tatsächlich von nun an ihr Gefangener auf Lebenszeit, wir wissen es schon und er wird es schnell lernen.
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Der Sand fließt unvermindert und ohne je zu stoppen. Er ist eine Metapher auf das Leben.
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Die Erotik des Sandes. Dies ist das eine Thema. Er markiert die Haut, erotisiert sie. Ihre Berührungen in Großaufnahme. Zunächst wäscht sie ihn ab, dann kommt es zu dem, was schon seit langem kommen musste. Der Sex ist ein bisschen merkwürdig und gleichzeitig überhöht zu großem Glück und doch latent gewalttätig. Das ist weniger japanischen Erfahrungen und Wahrnehmungen geschuldet als dem Zeitgeist der 60er. Sexuelle Befreiung, kulturelle Revolte steht auch hier im Raum.
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In den Gesprächen: Menschenleben gegen Hundeleben; Freiheit gegen »angebunden sein«. Er flieht einmal; das bringt überhaupt nichts und der Gescheiterte landet im Treibsand und wird gedemütigt zurückgebracht.
Der Mann ist Lehrer, in der Freizeit und auch jetzt noch sammelt er Insekten, um »einen Namen« zu haben, aber nur irgendwie, nicht leidenschaftlich und gedankenlos auf alle Fälle. Sie sagt ihm: »Ohne den Sand würdest du dich nicht um mich kümmern.«
Viele Nahaufnahmen, man sieht Haut, man sieht Haare, man sieht Schweiß, man sieht Sand auf der Haut. Es sind auch sonst sehr gute Bilder.
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Worum geht es eigentlich? Es ist die Niederlage des Städters, des Gebildeten, es ist auch der Untergang des Spießers.
Aber vor allem ist es der Sieg des Primitivismus über das Komplizierte und das Gebildete. Der Sieg der Unfreiheit über die Freiheit; es ist ein total depressives meinetwegen existenzialistisches, aber letztendlich doch auch deprimierendes Porträt des Menschen.
Einmal sollen sie vor dem ganzen Dorf Sex haben. Das will sie dann nicht und das Dorf will es gewissermaßen als eine Art Ersatz-Fernsehen. Er wäre bereit, sagt: »We are Pigs anyhow«. Sie dagegen will den Anstand wahren.
Später entdeckt er, und das kommt mir relativ weit hergeholt vor und es ist nicht besonders interessant: »Capillarity«, Kapillarwirkung. Er sagt »wir sitzen auf einer Pumpe« und will sie nutzbar machen. Er bleibt eben ein Homo Faber, aber ohne Kontakt zur
Zivilisation.
Am Ende dann ist er resigniert und quietistisch: »If not today then tomorrow« – das hätte auch Oblomov sagen können und viel viel später fast im Abspann schon sehen wir »report of the missing person« und wir sehen, dass er 1927 geboren ist.
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Der schreckliche Robert Lewandowski bleibt auch in Spanien schrecklich. Vor Jahren saß ich hier im Café Artess, und erlebte, wie er in einer einzigen Halbzeit gegen Wolfsburg fünf Tore schoss, damals noch für den FC Bayern und gegen Wolfsburg lässt man das gerade gelten. Hier nun sehe ich das Ende des Spiels des FC Barcelona gegen Celta Vigo, die eine Menge meiner Sympathien haben, auch gegen Barcelona. Und Lewandowski dreht dieses Spiel: Nach einem 0:2 wird es noch ein 3:2.
Auch in der 83. Minute führte Celta noch, aber dann sieht man diesen FC Bayern-haften unbedingt vorhandenen Willen zum Sieg. Und Celta Vigo spielte gar nicht schlecht, sie halten den Ball, sie sind trotzdem immer offensiv, und Barca muss etwas tun und irgendwie ist Vigo dann zu blöd. Der schwachköpfige Lewandowski ist einfach unglaublich, es ist sein zweites Tor. Ich muss es Barca-Fan-Violeta sagen: »Ich hasse Lewandowski!« Wenn man das Spiel sieht, dann denkt man irgendwann: 'wo sind wir hier?' 'Muss es denn so sein, das Barca sich nur mal 10 Minuten lang konzentriert und dann den Gegner besiegt?'
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»La sociedad de la nieve« von J. A. (Juan Antonio) Bayona nach einem Buch von Pablo Vierci ist eine uruguayisch-chilenisch-spanische Koproduktion und erzählt von jenem weltberühmten Flugzeugabsturz in den Anden am 13.10.1972 und dem Überleben von 16 Menschen über zweieinhalb Monate.
Erster Satz: »Die Vergangenheit ist es, die sich am meisten verändert.« (The past is what changes the most.).
Vorher sieht man die Mannschaft mal beim Rugby und dann ein paar Personen in ihrem persönlichen Leben. Hier findet eine ganz kluge oder zumindest effektive Irreführung der Zuschauer statt, weil man von den bekannten Hollywood- und Netflix-Sehgewohnheiten her glaubt: diese Menschen nun werden zumindest alle überleben. Dem ist keineswegs so – auch einige der Figuren, die am meisten ans Herz wachsen, überleben nicht.
Es folgt ein sehr gut filmisch umgesetzter Absturz der zweimotorigen Propellermaschine mit etwa 40 Passagieren und 5 Besatzungsmitgliedern. Mit Splattereffekten wirkte es auf mich erstaunlich realistisch. Und das sage ich jetzt mal ausnahmsweise auch als Sohn eines Piloten und einer Stewardess.
Die Maschine brach auseinander, 11 Tote waren im Flugzeug. Die erste vieler ethischer fragen: Was tut man mit Toten in so einer Lage? Man kann sie noch nicht mal richtig bestatten. Man zieht ihnen also die Schuhe wieder an, bevor man sie zur Seite legt.
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Das Interessante an diesem Ereignis, das weltweit Schlagzeilen machte, und vor 20 Jahren bereits einmal mit Ethan Hawke verfilmt wurde, ist, dass es medial verhältnismäßig gut dokumentiert ist. Denn man hat sogar Bilder aus den Hubschraubern, die seinerzeit als erste nach über 60 Tagen das Flugzeugwrack erreichten. Aber auch mehrere der Teilnehmer fotografierten während der Zeit des Wartens auf Rettung.
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Interessant auch, wie sie dann diskutieren. Nach ungefähr acht Tagen beginnen sie darüber zu sprechen, von den Leichenteilen zu essen.
Der Tabubruch wird nicht sofort vollzogen. Aber weil es natürlich ein Tabubruch ist, geht es den Überlebenden unter anderem um seine Rechtfertigung, und um die Frage des moralischen oder ethischen Umgangs damit.
Für ihn gibt es das Argument der Organspende. Es gibt das religiöse und naturrechtliche Argument, dass man das Recht hat, auch im
Sinne der Religion, alles dafür zu tun, um das eigene Leben zu erhalten. Und es gibt die Frage, ob die Menschen später dafür trotzdem bestraft werden und ins Gefängnis kommen können, gar sollten.
Interessant aber auch bedauerlich ist, dass der Film sich mit diesen ganzen moralischen und ethischen Debatten überhaupt nicht weiter aufhält. Das ist sicherlich auch ein Kritikpunkt. Denn es wäre klug gewesen, darauf zumindest im Nachspann in irgendeiner Weise einzugehen oder etwas mehr an Diskussionen zu zeigen. Natürlich wissen wir vieles. Wir wissen, dass diese Leute sich tatsächlich von Menschenfleisch ernährt haben, und wir wissen, dass sie nur dadurch überlebt haben. Am Ende des Tages ist dies trotzdem einer von mehreren Aspekten, der an diesem Fall einmalig ist und der uns nach wie vor herausfordert.
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Man kann dem Film ästhetisch noch das eine oder andere mehr vorwerfen. Er ist insgesamt ohne Frage relativ mainstreamig – ein Netflix-Film eben –, er ist sicherlich auch in einigen Aspekten melodramatisch und zwar melodramatischer, als es hätte sein müssen, mit kitschiger Musik unterlegt. Auf der anderen Seite ist dies ein großartiges Thema und eine sehr sehr ungewöhnliche Geschichte. Es gibt auch keinen wirklichen Antagonisten, was es dramaturgisch schwer macht. Der Antagonist ist die Natur, ist der Tod selbst. Es gibt für die Figuren nur verschiedene Arten, sich zu verhalten und die Herausforderung an die Zuschauer liegt in diesen verschiedenen Identifikationsangeboten. Ein Zuschauer wird sich, wenn er hier mitgeht, positionieren (müssen).
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Eine Frage, die mich beschäftigt, ist natürlich die, wie die Menschen danach damit lebten und eigentlich würden wir das auch sehr gerne sehen, wie es weitergeht: Was sie für ein Leben lebten? Wie sie heute auf diese Zeit zurückblicken? Isst man danach noch Fleisch? Wird man Vegetarier? Fliegt man danach noch? Was für ein Verhältnis hat man danach zum Schnee? Zu den Bergen?
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Zwei Cousins machten die schlimmste Arbeit, sie nahmen die Leichen auseinander, und enthielten den anderen vor, von welchem Körper sie gerade essen. Tatsächlich wurden die Toten über die zwei Monate regelrecht ausgeweidet; es blieb sehr wenig von ihnen übrig. Im Film sehen wir die vollkommen entfleischten Rippen.
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Diese Menschen waren Kannibalen aus guten Gründen.
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Insgesamt bleibt das alles absolut unvorstellbar! Nicht vergessen sollten wir auch, dass es nicht genug war mit dem eigentlichen Absturz; die Überlebenden wurden auch noch von einer Lawine heimgesucht und unter dieser Lawine erstickten fünf weitere Menschen.
Im Kopf behalten sollten wir, wenn wir über die generellen Überlebensmöglichkeiten und -mittel in solchen Fällen sprechen, dass die allermeisten dieser Menschen junge Männer waren und keiner wirklich alt. Dass sie sportlich waren, ein Rugby-Team. Bemerkenswert ist auch, dass die meisten von ihnen aus der Oberklasse kamen; sie waren gebildet, sie haben studiert und sie haben aus dem Grund auch Rugby gespielt, weil das gewissermaßen als Oberklassensport studentisch zum guten
Ton gehörte. Sie waren ein Team. Sie waren Banker, Unternehmer, Anwälte und Ärzte; und einer von den Überlebenden war ein Arzt mit mehr oder weniger abgeschlossenem Medizinstudium, was natürlich auch extrem half bei der Versorgung der Verwundeten und bei dem Behandeln von Verletzungen, bei der Planung der Ernährung und solchen Dingen.
Sie wussten auch, dass das Wetter immer besser werden würde. Der Sommer in Lateinamerika beginnt im November. Aber sollte man überhaupt die
Unglücksstelle verlassen? Sollte man nach Osten gehen oder nach Westen. Zuerst sind sie nach Osten gegangen, Richtung Argentinien, was eigentlich gar keinen Sinn machte und ihnen doch half. Dann nach Westen.
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Relativ am Schluss stellt einer die Frage: »What do they see?« Bezogen auf die Medien und auf die Verwandten und Freunde, wenn sie sie anschauen. Bezogen auf die Unfähigkeit des Nachvollziehens.
Vielleicht ist die Unfähigkeit des Nachvollziehens noch schlimmer, als die Unfähigkeit zu trauern. Die Unfähigkeit des Nachvollziehens macht die Überlebenden einsam.
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Das ganze ist natürlich auch– und selbst wenn das manchen nicht gefallen mag – eine Lektion in Techniken des Überlebens. Man braucht Lebenswillen, man braucht harte Entscheidungen, man braucht die Fähigkeit, Prioritäten festzusetzen und zu priorisieren, worauf es ankommt.
Homo Faber im Schnee.
(to be continued)