23.11.2023

Ein Kontinent im Wandel

Los delincuentes
Herausragendes Erzählwunder: Rodrigo Morenos Los delincuentes
(Foto: LAFITA 2023)

LAFITA 2023 zeigt mit Schwerpunkten zu Kolumbien und Argentinien den Kontinent Lateinamerika als Brennpunkt aktueller Probleme – und als eigenständige Weltregion der globalen Filmkunst

Von Wolfgang Lasinger

Im dies­jäh­rigen Länder­fokus steht Kolumbien, ein Land, das seit Jahr­zehnten in für den süda­me­ri­ka­ni­schen Kontinent reprä­sen­ta­tiver Weise um die Stabi­lität als demo­kra­ti­scher Staat ringt. Die sozialen, ökono­mi­schen, auch ökolo­gi­schen Verwer­fungen, die hier mitspielen, werden in drei enga­gierten Doku­men­tar­filmen und einem Spielfilm aus dem Land sichtbar.

Die Indigenen am Amazonas – Kolumbien

Im Eröff­nungs­film des in Kolumbien geborenen Sergio Guata­quira Sarmiento, dem Doku­men­tar­film Adieu Sauvage, geht es um die indigene Bevöl­ke­rung im Amazo­nas­ge­biet Kolum­biens und damit um die Fragen nach der Identität in einer von kolo­ni­sierter Vergan­gen­heit geprägten Welt. Der in Belgien lebende Regisseur erkundet seine indigenen Wurzeln in poeti­schen Schwarz-Weiß-Bildern. Mit einer nüch­ternen Recherche zu einer rätsel­haften Suizid­welle unter den Cácua-Indigenen hatte er begonnen, heraus­ge­kommen ist eine Explo­ra­tion des Eigenen und des Fremden, ein Ertasten der schwan­kenden Diffe­renzen, der verschie­denen Iden­ti­täten, zwischen denen sich der Filme­ma­cher bewegt. Ein visuell und konzep­tio­nell beein­dru­ckendes Portrait, von sich selbst als Suchendem, von einer um Aner­ken­nung und Parti­zi­pa­tion kämp­fenden Ethnie, von einer ökolo­gisch bedrohten Land­schaft, von einer versehrten Kultur.
(Mi 29.11. 19 Uhr, Luise; So 03.12. 17:30 Uhr, Gasteig HP8)

Eine andere Form der Diskri­mi­nie­rung tritt in dem akti­vis­ti­schen und explo­siven Doku­men­tar­film Anhell69 von Theo Montaya zutage. Hier geht es um die Queer- und Trans­com­mu­nity in Medellín in Kolumbien, ein Film zwischen den Genres und den Geschlech­tern, der Doku­men­ta­ri­sches mit Spiel­szenen vermischt. Wie in einem Bewusst­seins­strom treiben Asso­zia­tionen, Perfor­mance, Phan­tasmen, filmische Tage­buch­no­tizen und Selbst­aus­sagen dahin und formen das Bild einer jungen Gene­ra­tion, die sich gegen alle Wider­s­tände zu behaupten versucht. Der wilde und intensive Film, der die doku­men­ta­ri­sche Form gegen den Strich bürstet, wurde 2022 bei DOK Leipzig mit der Goldenen Taube ausge­zeichnet.
(Fr. 01.12. 22 Uhr, Werk­statt­kino)

Der dritte Doku­men­tar­film des Länder­fokus, Amor, mujeres y flores von Marta Rodríguez und Jorge Silva, stammt aus dem Jahr 1984 und eröffnet eine histo­ri­sche Tiefen­di­men­sion. Es ist die letzte gemein­same Arbeit des Regie-Duos, die beide seit den 1960er Jahren emble­ma­tisch für ein politisch enga­giertes, doku­men­ta­ri­sches Kino aus Latein­ame­rika stehen – die Auffüh­rung der neu restau­rierten Fassung stellt eine Huldigung an eine bis heute maßgeb­liche Tradition des Dritten Kinos dar. In seiner scho­nungs­losen Art, wie dieser Film die vor allem Frauen ausbeu­tende Schnitt­blu­men­pro­duk­tion in Kolumbien zeigt, kann er als muster­haft gelten.
(Fr. 01.12. 19 Uhr, Werk­statt­kino)

Der Fokus Kolumbien wird abge­rundet durch den Spielfilm Nubes grises soplan sobre el campo verde von Carlos R. López Parra, der das indi­vi­du­elle Schicksal eines behin­derten Jungen mit dem eines verletzten Flüch­tigen verknüpft. Mora­li­sche Fragen um Soli­da­rität im Wider­streit mit poli­ti­scher Part­ei­nahme werden in eindring­li­cher Weise in eine para­bel­hafte Handlung überführt, die in drama­ti­sche und emotional aufwüh­lende Zuspit­zungen mündet. – Latein­ame­ri­ka­ni­sches Erzähl­kino mit huma­nis­ti­schem Anspruch.
(Sa 02.12. 17 Uhr, Gasteig HP8)

Die Misse­täter – Argen­ti­nien

Den zweiten Schwer­punkt im Programm bildet ein Block mit drei Spiel­filmen aus Argen­ti­nien. Hier gibt es zwei erfri­schend inze­nierte Coming-of-Age-Filme. Desperté con un sueño von Pablo Solarz (Fr 01.12. 18 Uhr, Gasteig HP8) und Sublime von Mariano Biasin (Fr 01.12. 20 Uhr, Gasteig HP8) stechen durch ihre über­zeu­genden jugend­li­chen Darsteller*innen heraus. Die Suche nach den Wurzeln der eigenen Herkunft (bei Solarz) oder nach einer eigenen Identität zwischen den Unsi­cher­heiten der sexuellen Orien­tie­rung (bei Biasin) werden in beiden Filmen mit dem Streben nach künst­le­ri­schem Ausdruck verbunden, einmal im Medium des Theaters, auf der Bühne, das andere Mal in einer Band, in der Rock-Musik.

Absolut heraus­ra­gend ist dann der groß­ar­tige Los delin­cuentes von Rodrigo Moreno. Das dreis­tün­dige Erzähl­wunder stellt gewiss einen Höhepunkt der dies­jäh­rigen Auswahl von LAFITA dar: Rodrigo Moreno schafft es auf unglaub­lich leichte Weise, die Zuschauer*innen drei Stunden lang mit einem voll­kommen natür­li­chen Erzähl­fluss in Bann zu schlagen. Er verknüpft urbanes, alltags­nahes Erzählen mit einem der großen Genre­muster des Gangs­ter­films, dem Heist­movie. Zusätz­lich bringt er Motive des Westerns und des Aben­teu­er­films ein.

Die recht durch­schnitt­li­chen Bank­an­ge­stellten, die quasi verse­hent­lich in einen großen Coup verstrickt sind, scheinen dem Format des Bankraubs zunächst ganz und gar nicht gewachsen zu sein, bekommen die Sache dann aber doch eini­ger­maßen in den Griff. Oder geht der Plan am Ende doch nicht auf?

Die Auflösung auf der Plot-Ebene erweist sich bald als Neben­sache. Denn das Ganze bewahrt immer auch einen lockeren spie­le­ri­schen Gestus: So heißen die beiden Bankräuber Morán und Román und treffen im Laufe des Films bei ihren Versuchen, das Geld zu verste­cken, auf die Schwes­tern Norma und Morna, die von einem Video­re­gis­seur namens Ramón begleitet werden. Dieser Video­filmer verkündet nebenbei, dass die Zeit des Kinos wohl vorbei ist. Was er kurz darauf doch wieder revidiert. Typisch argen­ti­ni­scher Humor mit Neigung zum Absurden spiegelt sich nicht nur in diesen fikti­ons­i­ro­ni­schen Gauke­leien. Es gibt immer wieder Situa­ti­ons­komik vom Feinsten: da quietscht dann einfach nur der Schreib­tisch­stuhl des Bank­di­rek­tors viel­sa­gend, wenn bei den internen Unter­su­chungen in der Bank alles gesagt und nichts geklärt ist.

Daneben schwingt immer eine poli­ti­sche Dimension mit. Der wich­tigste Teil der Beute aus dem Tresor besteht in Dollars, jener Währung also, die der desi­gnierte neue Präsident Javier Milei in Argen­ti­nien einzu­führen gedenkt. Während die infla­ti­onären argen­ti­ni­schen Pesos von den beiden eher achtlos als Spesen­geld mitge­nommen werden…

Auch dass hier das Heil in einer Flucht aus Buenos Aires ins Hinter­land in der Provinz Córdoba gesucht wird: Das bringt dem Film nicht nur über­wäl­ti­gende Land­schafts­bilder ein, sondern macht einen Überdruss an den poli­ti­schen Machen­schaften in der Haupt­stadt sympto­ma­tisch spürbar, eine Sehnsucht nach dem einfachen Leben im Idyll, die genauso hinter­sinnig und auf sympa­thi­sche Weise entlarvt wird wie die eher schüch­ternen Gangster- und Macho­al­lüren der beiden Männer in der Midlife-Crisis.
(Do 30.11. 20 Uhr, Werk­statt­kino)

Gewalt­same Kolo­ni­al­herren – Chile

Als Abschluss­film bietet LAFITA dann einen Spielfilm aus Chile, der mit der erzäh­le­ri­schen Meis­ter­schaft von Los delin­cuentes mithalten kann: Felipe Gálvez zeigt mit Los colonos die gewalt­samen Praktiken des kolo­nialen Zivi­li­sie­rungs­pro­zesses am Beispiel des chile­ni­schen Pata­go­nien Anfang des 20. Jahr­hun­derts. Im Stile eines knalligen 70er-Jahre Westerns erzählt er die Landnahme durch den Groß­grund­be­sitzer und Vieh­züchter José Menéndez (die chile­ni­sche Schau­spie­li­kone Alfredo Castro verleiht ihm in bewährt souver­äner Weise eine süffisant zynische Note). In seinem Auftrag ziehen drei skru­pel­lose Kund­schafter los, um das Terrain mit Waffen­ge­walt zu sondieren und insbe­son­dere die Auslö­schung der indigenen Bevöl­ke­rung vorzu­be­reiten. Diese finstere Kolonial-Geschichte degra­diert das groß­ar­tige Natur­schau­spiel der Land­schaft zu einem stummen Zeugen der Grau­sam­keiten.
(So 03.12. 20 Uhr, Gasteig HP8)

Weitere Doku­men­tar­filme (aus Peru, Chile und Ekuador) erweitern, zusammen mit vielen Kurz­filmen als Drein­gaben zu den Lang­filmen das Spektrum. Wie immer suchen LAFITA – die Latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtage in München – bei den Vorfüh­rungen der Filme mit einge­la­denen Gästen das Gespräch und die Diskus­sion mit dem Publikum.

LAFITA – Latein­ame­ri­ka­ni­sche Filmtage München
29.11. – 03.12.2023

Luise (Eröffnung), Werk­statt­kino, HP8 Gasteig
Eintritt: 8 Euro