Ein Kontinent im Wandel |
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Herausragendes Erzählwunder: Rodrigo Morenos Los delincuentes | ||
(Foto: LAFITA 2023) |
Im diesjährigen Länderfokus steht Kolumbien, ein Land, das seit Jahrzehnten in für den südamerikanischen Kontinent repräsentativer Weise um die Stabilität als demokratischer Staat ringt. Die sozialen, ökonomischen, auch ökologischen Verwerfungen, die hier mitspielen, werden in drei engagierten Dokumentarfilmen und einem Spielfilm aus dem Land sichtbar.
Im Eröffnungsfilm des in Kolumbien geborenen Sergio Guataquira Sarmiento, dem Dokumentarfilm Adieu Sauvage, geht es um die indigene Bevölkerung im Amazonasgebiet Kolumbiens und damit um die Fragen nach der Identität in einer von kolonisierter Vergangenheit geprägten Welt. Der in Belgien lebende Regisseur erkundet seine indigenen Wurzeln in poetischen Schwarz-Weiß-Bildern.
Mit einer nüchternen Recherche zu einer rätselhaften Suizidwelle unter den Cácua-Indigenen hatte er begonnen, herausgekommen ist eine Exploration des Eigenen und des Fremden, ein Ertasten der schwankenden Differenzen, der verschiedenen Identitäten, zwischen denen sich der Filmemacher bewegt. Ein visuell und konzeptionell beeindruckendes Portrait, von sich selbst als Suchendem, von einer um Anerkennung und Partizipation kämpfenden Ethnie, von einer ökologisch bedrohten
Landschaft, von einer versehrten Kultur.
(Mi 29.11. 19 Uhr, Luise; So 03.12. 17:30 Uhr, Gasteig HP8)
Eine andere Form der Diskriminierung tritt in dem aktivistischen und explosiven Dokumentarfilm Anhell69 von Theo Montaya zutage. Hier geht es um die Queer- und Transcommunity in Medellín in Kolumbien, ein Film zwischen den Genres und den Geschlechtern, der Dokumentarisches mit Spielszenen vermischt. Wie in einem Bewusstseinsstrom treiben Assoziationen, Performance,
Phantasmen, filmische Tagebuchnotizen und Selbstaussagen dahin und formen das Bild einer jungen Generation, die sich gegen alle Widerstände zu behaupten versucht. Der wilde und intensive Film, der die dokumentarische Form gegen den Strich bürstet, wurde 2022 bei DOK Leipzig mit der Goldenen Taube ausgezeichnet.
(Fr. 01.12. 22 Uhr, Werkstattkino)
Der dritte Dokumentarfilm des Länderfokus, Amor, mujeres y flores von Marta Rodríguez und Jorge Silva, stammt aus dem Jahr 1984 und eröffnet eine historische Tiefendimension. Es ist die letzte gemeinsame Arbeit des Regie-Duos, die beide seit den 1960er Jahren emblematisch für ein politisch engagiertes, dokumentarisches Kino aus Lateinamerika stehen – die
Aufführung der neu restaurierten Fassung stellt eine Huldigung an eine bis heute maßgebliche Tradition des Dritten Kinos dar. In seiner schonungslosen Art, wie dieser Film die vor allem Frauen ausbeutende Schnittblumenproduktion in Kolumbien zeigt, kann er als musterhaft gelten.
(Fr. 01.12. 19 Uhr, Werkstattkino)
Der Fokus Kolumbien wird abgerundet durch den Spielfilm Nubes grises soplan sobre el campo verde von Carlos R. López Parra, der das individuelle Schicksal eines behinderten Jungen mit dem eines verletzten Flüchtigen verknüpft. Moralische Fragen um Solidarität im Widerstreit mit politischer Parteinahme werden in eindringlicher Weise in eine parabelhafte Handlung
überführt, die in dramatische und emotional aufwühlende Zuspitzungen mündet. – Lateinamerikanisches Erzählkino mit humanistischem Anspruch.
(Sa 02.12. 17 Uhr, Gasteig HP8)
Den zweiten Schwerpunkt im Programm bildet ein Block mit drei Spielfilmen aus Argentinien. Hier gibt es zwei erfrischend inzenierte Coming-of-Age-Filme. Desperté con un sueño von Pablo Solarz (Fr 01.12. 18 Uhr, Gasteig HP8) und Sublime von Mariano Biasin (Fr 01.12. 20 Uhr, Gasteig HP8) stechen durch ihre überzeugenden jugendlichen Darsteller*innen heraus. Die Suche nach den Wurzeln der eigenen Herkunft (bei Solarz) oder nach einer eigenen Identität zwischen den Unsicherheiten der sexuellen Orientierung (bei Biasin) werden in beiden Filmen mit dem Streben nach künstlerischem Ausdruck verbunden, einmal im Medium des Theaters, auf der Bühne, das andere Mal in einer Band, in der Rock-Musik.
Absolut herausragend ist dann der großartige Los delincuentes von Rodrigo Moreno. Das dreistündige Erzählwunder stellt gewiss einen Höhepunkt der diesjährigen Auswahl von LAFITA dar: Rodrigo Moreno schafft es auf unglaublich leichte Weise, die Zuschauer*innen drei Stunden lang mit einem vollkommen natürlichen Erzählfluss in Bann zu schlagen. Er verknüpft urbanes, alltagsnahes Erzählen mit einem der großen Genremuster des Gangsterfilms, dem Heistmovie. Zusätzlich bringt er Motive des Westerns und des Abenteuerfilms ein.
Die recht durchschnittlichen Bankangestellten, die quasi versehentlich in einen großen Coup verstrickt sind, scheinen dem Format des Bankraubs zunächst ganz und gar nicht gewachsen zu sein, bekommen die Sache dann aber doch einigermaßen in den Griff. Oder geht der Plan am Ende doch nicht auf?
Die Auflösung auf der Plot-Ebene erweist sich bald als Nebensache. Denn das Ganze bewahrt immer auch einen lockeren spielerischen Gestus: So heißen die beiden Bankräuber Morán und Román und treffen im Laufe des Films bei ihren Versuchen, das Geld zu verstecken, auf die Schwestern Norma und Morna, die von einem Videoregisseur namens Ramón begleitet werden. Dieser Videofilmer verkündet nebenbei, dass die Zeit des Kinos wohl vorbei ist. Was er kurz darauf doch wieder revidiert. Typisch argentinischer Humor mit Neigung zum Absurden spiegelt sich nicht nur in diesen fiktionsironischen Gaukeleien. Es gibt immer wieder Situationskomik vom Feinsten: da quietscht dann einfach nur der Schreibtischstuhl des Bankdirektors vielsagend, wenn bei den internen Untersuchungen in der Bank alles gesagt und nichts geklärt ist.
Daneben schwingt immer eine politische Dimension mit. Der wichtigste Teil der Beute aus dem Tresor besteht in Dollars, jener Währung also, die der designierte neue Präsident Javier Milei in Argentinien einzuführen gedenkt. Während die inflationären argentinischen Pesos von den beiden eher achtlos als Spesengeld mitgenommen werden…
Auch dass hier das Heil in einer Flucht aus Buenos Aires ins Hinterland in der Provinz Córdoba gesucht wird: Das bringt dem Film nicht nur überwältigende Landschaftsbilder ein, sondern macht einen Überdruss an den politischen Machenschaften in der Hauptstadt symptomatisch spürbar, eine Sehnsucht nach dem einfachen Leben im Idyll, die genauso hintersinnig und auf sympathische Weise entlarvt wird wie die eher schüchternen Gangster- und Machoallüren der beiden Männer in der
Midlife-Crisis.
(Do 30.11. 20 Uhr, Werkstattkino)
Als Abschlussfilm bietet LAFITA dann einen Spielfilm aus Chile, der mit der erzählerischen Meisterschaft von Los delincuentes mithalten kann: Felipe Gálvez zeigt mit Los colonos die gewaltsamen Praktiken des kolonialen Zivilisierungsprozesses am
Beispiel des chilenischen Patagonien Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Stile eines knalligen 70er-Jahre Westerns erzählt er die Landnahme durch den Großgrundbesitzer und Viehzüchter José Menéndez (die chilenische Schauspielikone Alfredo Castro verleiht ihm in bewährt souveräner Weise eine süffisant zynische Note). In seinem Auftrag ziehen drei skrupellose Kundschafter los, um das Terrain mit Waffengewalt zu sondieren und insbesondere die Auslöschung der indigenen
Bevölkerung vorzubereiten. Diese finstere Kolonial-Geschichte degradiert das großartige Naturschauspiel der Landschaft zu einem stummen Zeugen der Grausamkeiten.
(So 03.12. 20 Uhr, Gasteig HP8)
Weitere Dokumentarfilme (aus Peru, Chile und Ekuador) erweitern, zusammen mit vielen Kurzfilmen als Dreingaben zu den Langfilmen das Spektrum. Wie immer suchen LAFITA – die Lateinamerikanischen Filmtage in München – bei den Vorführungen der Filme mit eingeladenen Gästen das Gespräch und die Diskussion mit dem Publikum.
Luise (Eröffnung), Werkstattkino, HP8 Gasteig
Eintritt: 8 Euro