26.02.2024
74. Berlinale 2024

Das größte politische Statement

Direct Action
Dialog vor dem goldenen Vorhang im Kino International: Ben Russell (l.) und Guillaume Cailleau (r.), dazwischen Aktivisten der ZAD
(Foto: artechock)

Auf der Preisverleihung des scheidenden Berlinale-Leiters Chatrian gab es politische Parolen. Warum sich jetzt alle darüber aufregen – und worüber man eigentlich besorgt sein sollte

Von Dunja Bialas

Es war die letzte Berlinale des schei­denden künst­le­ri­schen Direktors Carlo Chatrian. In seine Ära fällt nicht nur die Einfüh­rung des neuen Wett­be­werbs »Encoun­ters« und die damit einher­ge­hende Schwächung der Forums-Sektion. Nach einem inten­siven Auftakt 2020 am Vorabend der Covid-Pandemie war Chatrians zweite Berlinale auch schon »Schrö­din­gers Berlinale« – man wusste nicht so genau, ob sie statt­findet oder nicht. Vier Tage nach Ende der Berlinale 2022 überfiel Putin die Ukraine. Im Jahr drauf folgte die Gruß­bot­schaft des ukrai­ni­schen Staats­prä­si­denten Selenskij, die Soli­da­ri­sie­rung mit ukrai­ni­schen Film­schaf­fenden und der Boykott russi­scher Filme. Und, keine Atempause: Ein Jahr später überfiel die Hamas die Kibbuze in Israel, Netanjahu antwor­tete mit einem massiven Krieg im Gaza-Streifen. Spätes­tens seitdem befindet sich die Kultur­szene in Aufruhr und posi­tio­niert sich. Weltweit. Meist wenig diffe­ren­ziert für die »cause paléstine« (JL Godard).

Auch die Berlinale wurde von der propaläs­ti­nen­si­schen Poli­ti­sie­rung der Film­schaf­fenden getroffen. Die Preis­ver­lei­hung geriet zu einer einsei­tigen Protest­ver­an­stal­tung, mit am Rücken ange­hef­teten Claim-Lätzchen, auf denen »Ceasefire Now« als Botschaft an Netanjahu zu lesen war. Während jedoch der israe­li­sche Jour­na­list Yuval Abraham, Co-Regisseur des israe­lisch-paläs­ti­nen­si­schen No Other Land (Gewinner des Doku­men­tar­film­preises), noch sehr persön­lich von »Apartheid«-Erfah­rungen berich­tete, die die beiden Regis­seure mit unter­schied­li­chem Rechts­status im West­jor­dan­land gemacht hätten, sprach Encoun­ters-Gewinner Ben Russell in seiner Dankes­rede pauschal vom »Genozid« im Gaza.

Sie arbeiten an der eigenen Abschaf­fung

Das inter­na­tio­nale Publikum im Saal des Berlinale-Palasts klatschte dazu. Auch die anwe­senden deutschen Politiker klatschten oder schwiegen, wie auch die Mode­ra­torin, die gänzlich unvor­be­reitet die Situation weglächelte. Umso stärker fällt jetzt die Reaktion von Presse und Politik auf die Vork­om­nisse auf der Bühne aus.

In der SZ steht zu lesen: »Die Preis­ver­lei­hung der Berlinale wird für ein bizarres Israel-Bashing zweck­ent­fremdet.« Der Feuil­leton-Leit­ar­tikel titelt über dem Foto der Encoun­ters-Preis­träger: »Die Schande von Berlin.« Die »Tages­schau« wiederum berichtet von einem »Schaden« für das Festival. Den hat Berlins Regie­render Bürger­meister Kai Wegner (CDU) konsta­tiert, der jetzt von der desi­gnierten Berlinale-Chefin Tricia Tuttle Maßnahmen fordert, »um Rela­ti­vie­rungen in Bezug auf Israel zu verhin­dern«. Die aus London kommende Film­ku­ra­torin wird sich bedanken. Schließ­lich stehen zwei Millionen Euro aus dem Berliner Landes­haus­halt auf dem Spiel. Neben der Ermahnung an Tuttle, den Laden in Ordnung zu bringen, fordert Kultur­se­nator Joe Chialo (CDU), dass die Festi­val­lei­tung die »Vorfälle konse­quent« aufar­beite. Nachdem er seine umstrit­tene Anti­se­mi­tismus-Klausel vor der Berlinale zurück­ziehen musste, will er sie jetzt verändert neuauf­legen. Was bei der dies­jäh­rigen Berlinale noch als Rede- und Meinungs­frei­heit durchging, wäre dann vermut­lich mit einer Verbots­klausel belegt.

Damit hätte sich ausge­rechnet erfüllt, was ein zentrales Motiv der Boykott-Initia­tive »Strike Germany« ist, die sich im Vorfeld der Berlinale als prompte Reaktion auf die angekün­digte Klausel formiert hatte. Die Unter­zeich­nenden fordern »the right to speak out against the ongoing massacre«. Drei zur Sektion »Forum Expanded« einge­la­dene Filme­ma­cher*innen hatten ihre Werke zurück­ge­zogen und andere massiv unter Druck gesetzt, es ihnen gleich­zutun, berichtet ein Filme­ma­cher. Ausge­rechnet im hoch prekären Sektor des expe­ri­men­tellen Film­schaf­fens wird an der Abschaf­fung von Sicht­bar­keit gear­beitet. Während sie Kunst- und Meinungs­frei­heit fordern, bringen sich die Filme­ma­cher mit dem Rückzug ihrer Arbeiten selbst zum Verstummen. Letztlich zielt ihr Vorgehen auf eine struk­tu­relle Schwächung der kultu­rellen Insti­tu­tionen ab – und unter­gräbt am Ende die eigene künst­le­ri­sche Exis­tenz­grund­lage. Ausstel­lungs­platt­formen werden leicht­fertig als selbst­ver­s­tänd­lich erachtet, während sich diese jedoch permanent aufs Neue legi­ti­mieren müssen.

Politik auf der Bühne gehört zum guten Ton

Dass die Bühne bei Preis­ver­lei­hungen für poli­ti­sche Zwecke benutzt wird, folgt ande­rer­seits sogar einer gewissen Etikette. Immer wartet man darauf, dass es »auch politisch« wird. Das gehört zum guten Ton. Wird es das nicht, fehlt etwas. Die Frage ist, ob man sich also überhaupt über die Ereig­nisse auf der Berlinale-Bühne aufregen oder sie lieber seis­mo­gra­phisch betrachten sollte: die eigent­li­chen Erdbeben kommen noch. Denn poli­ti­sche Claims sind im Rahmen einer Preis­ver­lei­hung kaum für das geeignet, was sie inten­dieren. Das wissen auch die Redner, kalku­lieren aber mit der öffent­li­chen Aufmerk­sam­keit. Politik und Presse haben prompt reagiert.

Wenn die SZ mit Blick auf die Preis­ver­lei­hung fragt: »Die Berlinale als Ort des Dialogs? Wohl eher nicht«, ist sie im Grunde der Form des plaka­tiven Protests auf den Leim gegangen. Denn um Dialog geht es in dem Augen­blick auf der Bühne nicht, der findet woanders statt. In und nach den Filmen zum Beispiel, wie sehr schön die Vorfüh­rung von Cailleaus und Russells Gewin­ner­film Direct Action zeigte, wo die Zuschauer im Anschluss an den ästhe­tisch über­formten Film ausge­rechnet bemän­gelten, dass sie es nicht mit Infor­ma­tionen und Polit-Parolen zu tun bekommen hatten: »What is your target audience?«, wurde gefragt.

Die Aufregung über die Preis­ver­lei­hung ist irgendwie auch gewollt, möchte man meinen. Weil sie ganz gut in die Agenda der Funk­ti­onäre passt, denen im Kultur­be­trieb grund­le­gend etwas gegen den Strich geht. Es ist durchaus bezeich­nend, dass ange­sichts der Werke der überaus tollen Mati Diop (ihr Claim auf der Bühne war: »I stand with Palestine!«), die mit Dahomey den Goldenen Bären gewann, sowie Ben Russell und Guillaume Cailleau (Encoun­ters-Gewinner) jetzt nicht darüber gespro­chen wird, was die Filme so besonders macht, und wofür sie ästhe­tisch stehen – für die zu Ende gehende Ära Chatrian und innerhalb des Weltkinos.

»artechock« ist anders: Wir haben einzelne Gewinner-Filme noch einmal eingehend in unserem Special gewürdig.

Chatrian stößt die Filmwelt vor den Kopf

Die Frage muss daher auch lauten: Geht es hier unter­schwellig um die Unzu­frie­den­heit mit Carlo Chatrian? Der hat in seinem letzten Jahr als künst­le­ri­scher Leiter immerhin program­miert, was er will. Und sich nicht an dem lächer­li­chen Auftrag orien­tiert, Stars an die Spree zu bringen – ein mehr oder weniger sinnloses Unter­fangen in der im inter­na­tio­nalen A-Festival-Reigen nur kalen­da­risch in Pole Position gebrachten Berlinale. Chatrian war gerade dabei, die Filmwelt samt Markt­ori­en­tiert­heit und Kommer­zia­li­sier­bar­keit der Werke vor den Kopf zu stoßen, als die poli­ti­sche Empörung kam. Listete die SZ schon vor der Berlinale auf, wie viele Filme aus Cannes und Venedig (und wie wenige aus Berlin) für den Oscar nominiert sind, zeigt man sich dort auch nach der Berlinale abge­stoßen vom Chatrian-Programm. »Nelson Carlos de los Santos Arias wunderte sich gar, dass sein Film Pepe überhaupt in den Wett­be­werb geladen wurde – nicht ganz zu Unrecht.« Zu Hong Sang-soos A Traveler’s Needs repro­du­ziert die SZ, ohne die melan­cho­li­sche Koket­terie des Filme­ma­chers zu erkennen: »…und selbst der Filme­ma­cher hatte in seiner Dankes­rede kaum mehr zu sagen als: 'Ich weiß nicht, was ihr in meinem Film gesehen habt.'«

Eines zumindest kann nach einer inten­siven Berlinale-Woche bestätigt werden: Die Zuordnung der Filme auf die einzelnen Sektionen war oft recht schlei­er­haft. Claire Burgers Langue étrangère lief im Wett­be­werb statt in »Gene­ra­tion«, wo der Coming-of-Age-Themen­film viel besser hinge­passt hätte. Ivo, relativ klassisch erzählt, zeichnete in »Encoun­ters« ein fein­füh­liges Portrait einer Palliativ-Pflegerin ohne falsche Senti­men­ta­li­sie­rung – mit dem groß­ar­tigen Schluss­song von Michelle Gurevich, danke dafür, liebe Eva Trobisch! Er hätte gut auch im Wett­be­werb laufen können. Den expe­ri­men­tellen Spiel­film­essay Pepe wiederum hätte man sich auch in »Encoun­ters« vorstellen können und Direct Action im Wett­be­werb. Tricia Tuttle wird fürs nächste Jahr die Reihen schärfen, »Encoun­ters« abschaffen, am Ende gar wieder eine deutsche Reihe einführen. Die aber keiner vermisst hat.

Was Konfor­mität bringt

Wen wir in Zukunft auch nicht vermissen werden: Mariette Rissen­beek. Denn sie macht noch ein weiteres halbes Jahr weiter, um Tricia Tuttle die Türen zu öffnen, zu allen wichtigen Förder- und Geld­ge­ber­gre­mien, der BKM, dem FFA, dem Medi­en­board. Letzteres konnte im Rissen­beek-Berlinale-Finale neunzehn Filme plat­zieren, fünf davon im Wett­be­werb. Auffällig waren überhaupt die zahl­rei­chen deutschen Co-Produk­tionen des Programms. Dass die German-Films-Ex-Chefin Rissen­beek einst durch die Findungs­kom­mis­sion, der sie selbst angehörte, gefunden wurde, war eben ein genialer Schachzug…

Nach diesem letzten expe­ri­men­tellen Chatrian-Jahrgang ist nur ein Backlash erwartbar. Unter Tricia Tuttle, der BFI-Spezia­listin für den großen Publi­kums­ge­schmack, ist wieder mehr Markt­kon­for­mität zu erwarten – und mehr Lange­weile im Kino. Sie hätte womöglich Atom Egoyans unan­ge­nehm selbst­ver­liebten Seven Veils mit Amanda Seyfried im Wett­be­werb gezeigt. Mit Film­au­toren wie ihm wäre es dann mit den poli­ti­schen Parolen auf der Bühne auto­ma­tisch vorbei. Egoyan hatte 2002 Ararat aus dem offi­zi­ellen Wett­be­werb von Cannes zurück­ge­zogen, als er sich von der Presse als poli­ti­scher Kommen­tator miss­braucht sah – weil er sich glei­cher­maßen zu Israel, Palästina, Aser­bai­dschan und Armenien äußern sollte.

Die Konfor­mität in der Program­mie­rung brächte also auch wieder Anpassung in der Perfor­mance hervor. Auf dem roten Teppich: Abend­kleid statt Pali-Tuch. Die Berlinale wäre wieder der betrieb­same Umschlag­platz für Filme, wie ihn Kosslick geliebt hat, das Poli­ti­sche wieder gebannt durch Filme­ma­cher, die leider nicht anreisen können.

Und die Berlinale: Sie wäre dann wohl wieder keine Plattform mehr, die »Propo­si­tions«, Vorschläge für ein anderes Kino macht, das die Sehge­wohn­heiten und Denk­weisen heraus­for­dert. Dass Chatrian in seiner Ära dieser Art Filme den roten Teppich ausge­rollt hat, ist das größte poli­ti­sche Statement, das ein Festival überhaupt machen kann. Weil es ästhe­tisch ist, weil die Markt­lo­giken auf den Kopf gestellt werden, weil Verän­de­rungen kommen können, wenn neue Namen kursieren und Branche und Presse sich an neue Film­spra­chen gewöhnen.

Solche Platt­formen, liebe aufge­brachte inter­na­tional film community, sollten mit größter Sorgfalt behandelt werden.