74. Berlinale 2024
Das größte politische Statement |
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Dialog vor dem goldenen Vorhang im Kino International: Ben Russell (l.) und Guillaume Cailleau (r.), dazwischen Aktivisten der ZAD | ||
(Foto: artechock) |
Von Dunja Bialas
Es war die letzte Berlinale des scheidenden künstlerischen Direktors Carlo Chatrian. In seine Ära fällt nicht nur die Einführung des neuen Wettbewerbs »Encounters« und die damit einhergehende Schwächung der Forums-Sektion. Nach einem intensiven Auftakt 2020 am Vorabend der Covid-Pandemie war Chatrians zweite Berlinale auch schon »Schrödingers Berlinale« – man wusste nicht so genau, ob sie stattfindet oder nicht. Vier Tage nach Ende der Berlinale 2022 überfiel Putin die Ukraine. Im Jahr drauf folgte die Grußbotschaft des ukrainischen Staatspräsidenten Selenskij, die Solidarisierung mit ukrainischen Filmschaffenden und der Boykott russischer Filme. Und, keine Atempause: Ein Jahr später überfiel die Hamas die Kibbuze in Israel, Netanjahu antwortete mit einem massiven Krieg im Gaza-Streifen. Spätestens seitdem befindet sich die Kulturszene in Aufruhr und positioniert sich. Weltweit. Meist wenig differenziert für die »cause paléstine« (JL Godard).
Auch die Berlinale wurde von der propalästinensischen Politisierung der Filmschaffenden getroffen. Die Preisverleihung geriet zu einer einseitigen Protestveranstaltung, mit am Rücken angehefteten Claim-Lätzchen, auf denen »Ceasefire Now« als Botschaft an Netanjahu zu lesen war. Während jedoch der israelische Journalist Yuval Abraham, Co-Regisseur des israelisch-palästinensischen No Other Land (Gewinner des Dokumentarfilmpreises), noch sehr persönlich von »Apartheid«-Erfahrungen berichtete, die die beiden Regisseure mit unterschiedlichem Rechtsstatus im Westjordanland gemacht hätten, sprach Encounters-Gewinner Ben Russell in seiner Dankesrede pauschal vom »Genozid« im Gaza.
Das internationale Publikum im Saal des Berlinale-Palasts klatschte dazu. Auch die anwesenden deutschen Politiker klatschten oder schwiegen, wie auch die Moderatorin, die gänzlich unvorbereitet die Situation weglächelte. Umso stärker fällt jetzt die Reaktion von Presse und Politik auf die Vorkomnisse auf der Bühne aus.
In der SZ steht zu lesen: »Die Preisverleihung der Berlinale wird für ein bizarres Israel-Bashing zweckentfremdet.« Der Feuilleton-Leitartikel titelt über dem Foto der Encounters-Preisträger: »Die Schande von Berlin.« Die »Tagesschau« wiederum berichtet von einem »Schaden« für das Festival. Den hat Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) konstatiert, der jetzt von der designierten Berlinale-Chefin Tricia Tuttle Maßnahmen fordert, »um Relativierungen in Bezug auf Israel zu verhindern«. Die aus London kommende Filmkuratorin wird sich bedanken. Schließlich stehen zwei Millionen Euro aus dem Berliner Landeshaushalt auf dem Spiel. Neben der Ermahnung an Tuttle, den Laden in Ordnung zu bringen, fordert Kultursenator Joe Chialo (CDU), dass die Festivalleitung die »Vorfälle konsequent« aufarbeite. Nachdem er seine umstrittene Antisemitismus-Klausel vor der Berlinale zurückziehen musste, will er sie jetzt verändert neuauflegen. Was bei der diesjährigen Berlinale noch als Rede- und Meinungsfreiheit durchging, wäre dann vermutlich mit einer Verbotsklausel belegt.
Damit hätte sich ausgerechnet erfüllt, was ein zentrales Motiv der Boykott-Initiative »Strike Germany« ist, die sich im Vorfeld der Berlinale als prompte Reaktion auf die angekündigte Klausel formiert hatte. Die Unterzeichnenden fordern »the right to speak out against the ongoing massacre«. Drei zur Sektion »Forum Expanded« eingeladene Filmemacher*innen hatten ihre Werke zurückgezogen und andere massiv unter Druck gesetzt, es ihnen gleichzutun, berichtet ein Filmemacher. Ausgerechnet im hoch prekären Sektor des experimentellen Filmschaffens wird an der Abschaffung von Sichtbarkeit gearbeitet. Während sie Kunst- und Meinungsfreiheit fordern, bringen sich die Filmemacher mit dem Rückzug ihrer Arbeiten selbst zum Verstummen. Letztlich zielt ihr Vorgehen auf eine strukturelle Schwächung der kulturellen Institutionen ab – und untergräbt am Ende die eigene künstlerische Existenzgrundlage. Ausstellungsplattformen werden leichtfertig als selbstverständlich erachtet, während sich diese jedoch permanent aufs Neue legitimieren müssen.
Dass die Bühne bei Preisverleihungen für politische Zwecke benutzt wird, folgt andererseits sogar einer gewissen Etikette. Immer wartet man darauf, dass es »auch politisch« wird. Das gehört zum guten Ton. Wird es das nicht, fehlt etwas. Die Frage ist, ob man sich also überhaupt über die Ereignisse auf der Berlinale-Bühne aufregen oder sie lieber seismographisch betrachten sollte: die eigentlichen Erdbeben kommen noch. Denn politische Claims sind im Rahmen einer Preisverleihung kaum für das geeignet, was sie intendieren. Das wissen auch die Redner, kalkulieren aber mit der öffentlichen Aufmerksamkeit. Politik und Presse haben prompt reagiert.
Wenn die SZ mit Blick auf die Preisverleihung fragt: »Die Berlinale als Ort des Dialogs? Wohl eher nicht«, ist sie im Grunde der Form des plakativen Protests auf den Leim gegangen. Denn um Dialog geht es in dem Augenblick auf der Bühne nicht, der findet woanders statt. In und nach den Filmen zum Beispiel, wie sehr schön die Vorführung von Cailleaus und Russells Gewinnerfilm Direct Action zeigte, wo die Zuschauer im Anschluss an den ästhetisch überformten Film ausgerechnet bemängelten, dass sie es nicht mit Informationen und Polit-Parolen zu tun bekommen hatten: »What is your target audience?«, wurde gefragt.
Die Aufregung über die Preisverleihung ist irgendwie auch gewollt, möchte man meinen. Weil sie ganz gut in die Agenda der Funktionäre passt, denen im Kulturbetrieb grundlegend etwas gegen den Strich geht. Es ist durchaus bezeichnend, dass angesichts der Werke der überaus tollen Mati Diop (ihr Claim auf der Bühne war: »I stand with Palestine!«), die mit Dahomey den Goldenen Bären gewann, sowie Ben Russell und Guillaume Cailleau (Encounters-Gewinner) jetzt nicht darüber gesprochen wird, was die Filme so besonders macht, und wofür sie ästhetisch stehen – für die zu Ende gehende Ära Chatrian und innerhalb des Weltkinos.
Die Frage muss daher auch lauten: Geht es hier unterschwellig um die Unzufriedenheit mit Carlo Chatrian? Der hat in seinem letzten Jahr als künstlerischer Leiter immerhin programmiert, was er will. Und sich nicht an dem lächerlichen Auftrag orientiert, Stars an die Spree zu bringen – ein mehr oder weniger sinnloses Unterfangen in der im internationalen A-Festival-Reigen nur kalendarisch in Pole Position gebrachten Berlinale. Chatrian war gerade dabei, die Filmwelt samt Marktorientiertheit und Kommerzialisierbarkeit der Werke vor den Kopf zu stoßen, als die politische Empörung kam. Listete die SZ schon vor der Berlinale auf, wie viele Filme aus Cannes und Venedig (und wie wenige aus Berlin) für den Oscar nominiert sind, zeigt man sich dort auch nach der Berlinale abgestoßen vom Chatrian-Programm. »Nelson Carlos de los Santos Arias wunderte sich gar, dass sein Film Pepe überhaupt in den Wettbewerb geladen wurde – nicht ganz zu Unrecht.« Zu Hong Sang-soos A Traveler’s Needs reproduziert die SZ, ohne die melancholische Koketterie des Filmemachers zu erkennen: »…und selbst der Filmemacher hatte in seiner Dankesrede kaum mehr zu sagen als: 'Ich weiß nicht, was ihr in meinem Film gesehen habt.'«
Eines zumindest kann nach einer intensiven Berlinale-Woche bestätigt werden: Die Zuordnung der Filme auf die einzelnen Sektionen war oft recht schleierhaft. Claire Burgers Langue étrangère lief im Wettbewerb statt in »Generation«, wo der Coming-of-Age-Themenfilm viel besser hingepasst hätte. Ivo, relativ klassisch erzählt, zeichnete in »Encounters« ein feinfühliges Portrait einer Palliativ-Pflegerin ohne falsche Sentimentalisierung – mit dem großartigen Schlusssong von Michelle Gurevich, danke dafür, liebe Eva Trobisch! Er hätte gut auch im Wettbewerb laufen können. Den experimentellen Spielfilmessay Pepe wiederum hätte man sich auch in »Encounters« vorstellen können und Direct Action im Wettbewerb. Tricia Tuttle wird fürs nächste Jahr die Reihen schärfen, »Encounters« abschaffen, am Ende gar wieder eine deutsche Reihe einführen. Die aber keiner vermisst hat.
Wen wir in Zukunft auch nicht vermissen werden: Mariette Rissenbeek. Denn sie macht noch ein weiteres halbes Jahr weiter, um Tricia Tuttle die Türen zu öffnen, zu allen wichtigen Förder- und Geldgebergremien, der BKM, dem FFA, dem Medienboard. Letzteres konnte im Rissenbeek-Berlinale-Finale neunzehn Filme platzieren, fünf davon im Wettbewerb. Auffällig waren überhaupt die zahlreichen deutschen Co-Produktionen des Programms. Dass die German-Films-Ex-Chefin Rissenbeek einst durch die Findungskommission, der sie selbst angehörte, gefunden wurde, war eben ein genialer Schachzug…
Nach diesem letzten experimentellen Chatrian-Jahrgang ist nur ein Backlash erwartbar. Unter Tricia Tuttle, der BFI-Spezialistin für den großen Publikumsgeschmack, ist wieder mehr Marktkonformität zu erwarten – und mehr Langeweile im Kino. Sie hätte womöglich Atom Egoyans unangenehm selbstverliebten Seven Veils mit Amanda Seyfried im Wettbewerb gezeigt. Mit Filmautoren wie ihm wäre es dann mit den politischen Parolen auf der Bühne automatisch vorbei. Egoyan hatte 2002 Ararat aus dem offiziellen Wettbewerb von Cannes zurückgezogen, als er sich von der Presse als politischer Kommentator missbraucht sah – weil er sich gleichermaßen zu Israel, Palästina, Aserbaidschan und Armenien äußern sollte.
Die Konformität in der Programmierung brächte also auch wieder Anpassung in der Performance hervor. Auf dem roten Teppich: Abendkleid statt Pali-Tuch. Die Berlinale wäre wieder der betriebsame Umschlagplatz für Filme, wie ihn Kosslick geliebt hat, das Politische wieder gebannt durch Filmemacher, die leider nicht anreisen können.
Und die Berlinale: Sie wäre dann wohl wieder keine Plattform mehr, die »Propositions«, Vorschläge für ein anderes Kino macht, das die Sehgewohnheiten und Denkweisen herausfordert. Dass Chatrian in seiner Ära dieser Art Filme den roten Teppich ausgerollt hat, ist das größte politische Statement, das ein Festival überhaupt machen kann. Weil es ästhetisch ist, weil die Marktlogiken auf den Kopf gestellt werden, weil Veränderungen kommen können, wenn neue Namen kursieren und Branche und Presse sich an neue Filmsprachen gewöhnen.
Solche Plattformen, liebe aufgebrachte international film community, sollten mit größter Sorgfalt behandelt werden.